Dienstag, September 9

Ganz selbstverständlich reden wir von Asien, als ob es so etwas wie gemeinsame asiatische Merkmale und Erfahrungen gebe. Macht man sich auf die Suche danach, wird man schwer fündig. Ist das «Asiatische» also letztlich nur Illusion und Klischee?

«Ich sterbe für Asien», säuselt Alicia. «Mein Enthusiasmus ist kontinental. In Biarritz lese ich immer Konfuzius, und mein Herz schwankt zwischen Buddha und dem Dschingis-Chan.» Die mit Leidenschaft vorgetragenen Worte der vornehmen Dame in Ortega y Gassets Essay «Gespräch beim Golf» sind nicht ohne Reiz, doch der spanische Philosoph temperiert sogleich: «Sehen wir einen Augenblick von Ihrem Herzen ab. Ein so wunderbares Objekt verführt uns zu sehr durch seine geistreichen Schwankungen.»

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In unseren woken Zeiten kann man dem «weissen Mann» vieles an Schuld und Mitschuld anlasten: den Kolonialismus, die Sklaverei, die Erfindung von Rassentheorien oder sogar die Einteilung der Menschheit nach Hautfarben. Ein Vorwurf wäre jedoch falsch: Das «Asiatische» ist kein von aufgeklärten Europäern erfundener Begriff. Vielmehr stammt das altgriechische Wort «Asia» vom assyrischen Wort «asu» ab, was Sonnenaufgang oder Osten bedeutet. Ursprünglich bezeichnete «Asia» die Landmasse Kleinasiens, also die heutige Türkei. Später war «Asia», deutlich verkleinert und mit der Hauptstadt Ephesos, eine der reichsten Provinzen des Römischen Reiches. Plinius der Ältere war es schliesslich, der in seiner «Naturalis historia» um 77 n. Chr. den Namen «Asien» auf den ganzen Kontinent bezog.

Ängste nach Dschingis Khan

Als Kind hatte man irgendwo erfahren, dass Europa am Bosporus in Istanbul endete und danach Asien begann. Mehr dachte man nicht darüber nach, höchstens fragte man sich, wie es wohl «drüben in Asien» aussah. Beim Gedanken an Asien geisterten einem noch lange Bilder von Fakiren, Wesiren und Sadhus, aber auch von Geishas, Konkubinen und Eunuchen durch den Kopf – angeregt durch die Lektüre von Reiseerzählungen wie Jules Vernes «Reise um die Erde in 80 Tagen» oder die Tim-und-Struppi-Comics «Der blaue Lotus» und «Tim in Tibet».

Die «Entzauberung Asiens» (Jürgen Osterhammel) im 18. Jahrhundert ermöglichte dem Westen einen beispiellosen Umgang mit dem asiatischen Fremden. Wie nie zuvor befassten sich europäische Gelehrte, Reisende und Missionare mit einem Raum, den man lange Zeit als Quelle aller Zivilisation und «vornehmsten der Kontinente» betrachtete.

Bereits im Zuge des Handels mit China waren exquisite Luxusgegenstände wie Lackarbeiten, Seidenprodukte oder Porzellangegenstände nach Europa gelangt und nährten beim europäischen Adel das Bild vom exotischen und friedlichen Reich der Mitte. Später kam der Japonismus auf, eine Welle der Begeisterung für japanische Kunst und Ästhetik. Er beeinflusste unter anderem Maler wie van Gogh («Die Kurtisane») und Monet («Die japanische Brücke»), aber auch Giacomo Puccini («Madama Butterfly») und den Schriftsteller Lafcadio Hearn («Lotos»). Auch Hermann Hesse, Carl Gustav Jung und Karl Jaspers trugen mit ihrem Interesse für östliche Philosophien und Religionen massgeblich zur grösseren Rezeption Asiens in Europa bei.

Dieser Euphorie gegenüber allem Asiatischen standen allerdings spätestens ab der Zeit Dschingis Khans auch europäische Ängste gegenüber. Sie wurden insbesondere im Kontext der Hochphase des Kolonialismus und des aufkommenden Nationalismus gegen Ende des 19. Jahrhunderts genährt: Die «Gelbe Gefahr»-Metapher – etwa im Superschurken Fu Manchu personifiziert – spielte virtuos auf der Klaviatur der westlichen Gefühlswelt angesichts der vermeintlichen Bedrohung durch den Aufstieg Chinas und Japans als politische und militärische Mächte.

«Hydraulische Gesellschaften»

Die akademische Forschung setzte sich ihrerseits bis ins 20. Jahrhundert eingehend mit dem «Asiatischen» auseinander. Karl Marx schuf in seiner Theorie des historischen Materialismus den Begriff der «asiatischen Produktionsweise». Er ging davon aus, dass die Bewässerungslandwirtschaft eine Besonderheit von Hochkulturen in Asien sei und sich aufgrund der Organisation von Gemeinschaftsarbeit kein Kapitalismus habe entwickeln können.

Der deutsch-amerikanische Soziologe Karl August Wittfogel setzte diesem intellektuellen Gedankenexperiment noch eins drauf, als er 1957 die These von der «orientalischen Despotie» aufstellte: Die «hydraulischen Gesellschaften» Asiens brächten durch die Notwendigkeit des Einsatzes von bäuerlichen Fronarbeiten beziehungsweise das Erfordernis einer herrschenden Kaste quasi per se autoritäre Regierungssysteme hervor. Diese Schlussfolgerung war neu, nicht aber die bereits von Aristoteles überlieferte Annahme, dass «die orientalische» Welt – der griechische Denker hatte damals allerdings «nur» die Perser im Auge – von Natur aus despotisch sei.

Nach Beginn des Wirtschaftswachstums in Europa stellte sich eine völlig neue Form der Auseinandersetzung mit Asien ein: So wurden etwa Ende der fünfziger Jahre die ersten Fahrzeuge aus Japan (Nissan, Toyota) importiert. Marken wie Sony oder Panasonic wurden auch in Europa rasch zu einem Inbegriff für erschwingliche Elektronikprodukte aus Fernost. Von da an war es nur noch ein kleiner Schritt bis zur Verbreitung der Manga-Kultur, zur Eröffnung von Sushi-Läden und zum flächendeckenden Angebot von Aikido-Zentren und Zen-Kursen.

Der Eintritt Chinas in die westliche Welt verlief etwas holpriger: Zunächst spielten politisch linke Kreise mit dem Mao-Kult, dessen unselige Verbreitung in Europa eine Vorreiterrolle einnahm. Später folgten die «Made in China»-Produkte, die früher klischeehaft als «Schrott» bezeichnet wurden und heute als Schnäppchen angeboten werden. Mittlerweile ist China mit Produkten wie Solarzellen und Elektroautos in fast allen Branchen präsent: Marken wie Huawei oder Xiaomi (Mobiltelefone), Shein (Fast Fashion), BYD (Auto) oder Temu (Online-Plattform) sind heute fast jedem ein Begriff. TCM, die traditionelle chinesische Medizin, ist in Europa weitaus bekannter als etwa die indische Heilkunst Ayurveda.

Auch Korea, das dritte Zeichen setzende ostasiatische Land, hat sich in den vergangenen Jahren eine beachtliche Präsenz in Europa aufgebaut. K-Pop ist schon lange ein weltweiter Exportschlager, ebenso wie koreanische Fernsehserien und Actionfilme. Kimchi und scharfe Ramyeon-Instantnudeln sind mittlerweile fast jedem Kind bekannt, während Frauen für Kosmetikprodukte wie Laneige oder Innisfree schwärmen. Sowohl Hyundai als auch Kia sind mittlerweile ebenso auf Europas Strassen präsent wie deutsche oder französische Automarken. Ganz zu schweigen von LG und Samsung auf dem TV-Markt.

Der Panasiatismus der Japaner

Asien hat immer wieder versucht, als einheitliches Gebilde auf der Weltbühne aufzutreten. Ein Beispiel hierfür ist der Panasiatismus der Japaner mit ihrer Losung «Asien den Asiaten», die sich zuerst gegen Russland (Krieg von 1904/05) und später gegen die USA sowie die alliierten Kolonialmächte richtete. Allerdings vertrug sich diese Bewegung – wie sich während des Pazifikkriegs (1937–1945) und der Einsetzung von Tokio-hörigen Marionettenregierungen herausstellen sollte – schlecht mit dem aufkommenden Selbstverständnis Chinas.

Für das Reich der Mitte galten unterworfene «Barbarenvölker» in der unmittelbaren Peripherie – etwa auf der koreanischen Halbinsel, aber auch in Südostasien und im heutigen Zentralasien – als dem Kaiser auf ewig untertan und tributpflichtig. Mit der Gründung der Volksrepublik China und dem Export der kommunistischen Revolution sowie mit Pekings Patriotismus und Territorialansprüchen (unter anderem gegenüber Japan und Indien) scheinen Bestrebungen, Gesamtasien als mehr als nur ein geografisches Konstrukt erscheinen zu lassen, im Sand zu verlaufen.

Dennoch ist es mittlerweile üblich, das 21. Jahrhundert als das «asiatische Zeitalter» zu bezeichnen. Rasch wachsende Wirtschaften und – zumindest im östlichen Teil des Kontinents – fast überall anzutreffende Leistungsgesellschaften sind Gründe für diese in der Tat bewundernswerte Entwicklung. Allerdings werden weder die Thesen über «asiatische Werte», eine Debatte, die in den neunziger Jahren von Singapurs Premierminister Lee Kuan Yew angestossen und von Malaysias Premierminister Mahathir als Gegenbewegung zum «westlichen Orientalismus» aufgegriffen wurde, noch das 2013 von China initiierte Projekt der neuen Seidenstrasse auf dem asiatischen Kontinent ein umfassendes «Vereinigungsprojekt» à la Europäische Union hervorbringen.

Zwar gibt es mit der Asean oder der Shanghai Cooperation Organization (SCO) schon lange politische Zusammenschlüsse. Bis es zu einem «asiatischen Haftbefehl», einem «asiatischen Unfallprotokoll» oder gar einem «asiatischen Parlament» kommen wird, werden allerdings noch Jahrzehnte vergehen. Wenn überhaupt. Der «Homo sovieticus» konnte sich immerhin dem alles bestimmenden Sowjetstaat anvertrauen. Dem «Homo asiaticus» fehlt dazu nicht nur die Grundlage, sondern auch die Notwendigkeit. Robert Schuman, Jean Monnet oder Václav Havel waren überzeugte Europäer. Doch welcher Inder oder Chinese bezeichnet sich schon als Asiat? Der ehemalige Uno-Generalsekretär U Thant sah sich eher als burmesischer denn als asiatischer Staatsmann. Zwar war Nehru zu Beginn seiner Amtszeit als Premierminister ein Verfechter einer gemeinsamen asiatischen Identität, er sah sich jedoch stets als treuer Diener Indiens.

Warum hält sich der Begriff des «Asiatischen» trotz allem so hartnäckig? Greift man zu einem asiatischen Kochbuch, das von einem in den USA geborenen, chinesischstämmigen Thailänder verfasst wurde, stellt man schnell fest, dass selbst Asiaten mit dem Begriff locker umgehen. Der Chefkoch nennt die gängigen Klassiker der ost- und südostasiatischen Küche (Jiaozi, Ramen, Sushi, Bibimbap, Frühlingsrollen und Pho), lässt aber Tandoori-Chicken, Pilaw, Kebab, Falafel und Hummus kommentarlos links liegen. Ein einheitliches Asien existiert auch hier nicht.

Auch die Amerikaner mussten zu dieser Einsicht, in ihrem Fall wohl oder übel, während des Zweiten Weltkriegs kommen. Schliesslich war es überlebensnotwendig, zwischen den feindlichen Japanern und den verbündeten Chinesen unterscheiden zu können. So wurden Weisungen für Militärangehörige und auch für gewöhnliche amerikanische Bürger herausgegeben, die heute als betont rassistisch eingeschätzt werden. In Broschüren mit Titeln wie «Wie man einen Japaner erkennt» wurde unter anderem auf die Unterschiede im Aussehen (Gesicht, Zahnstellung), beim Gehen («der Japaner schlurft, der Chinese schreitet») sowie in der Aussprache («der Japaner saugt jeden S-Laut auf und kann den Buchstaben L nicht aussprechen») hingewiesen. Dabei war nicht von Asiaten die Rede, sondern von «Mongoloiden», die angeblich in vorgeschichtlichen Zeiten die japanischen Inseln überfallen hätten.

Ist das «Asiatische» also letztlich eine reine Illusion? Versehen mit einem Hauch europäischer Klischees? Oder doch nicht?

Wer könnte dies besser beurteilen als ein jüdischer Nazi-Flüchtling aus Berlin, Lothar Brieger, der viele Jahre lang im Schanghaier Exil unter japanischer Besetzung lebte? «Für uns Alt-Europäer ist nun einmal das Verhältnis zwischen Leben und Tod das Wichtigste. (. . .) So sehr wir uns auch bemühen, uns abzuhärten, wir können uns die östliche Einstellung zum Tod schliesslich doch nicht zu eigen machen.»

Die bedeutsame Anschauung, dass es keine scharfe Trennung zwischen Leben und Tod gibt, verbunden mit dem Gedanken der Wiedergeburt, den alle wichtigen Religionen des Kontinents mit Ausnahme des Islams kennen, mag Asiens einziges und einigendes Band sein. Sie betrifft jedoch mit Sicherheit auch die Haltung zum Leben im Hier und Jetzt.

Matthias Messmer ist Sozialwissenschafter, Berater und Autor.

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