Freitag, April 18

Auschwitz und Buchenwald werden missbraucht, um über Tagespolitik zu diskutieren. So banalisiert man die Vergangenheit und setzt den Horror der industriellen Morde in verharmlosende, falsche Kontexte.

Das Gelände eines ehemaligen Konzentrationslagers zu betreten, ist im Leben eines fühlenden und denkenden Menschen eine einschneidende, oft lebenslang prägende Erfahrung. «O die Schornsteine / Auf den sinnreich erdachten Wohnungen des Todes» (Nelly Sachs) zu sehen, bedeutet, sich dem Begreifen dessen ansatzweise anzunähern, was Menschen durch andere auf diesen Quadratmetern, in diesen Räumen, Kammern, verständig geplanten und funktional erbauten Mordgebäuden, erlitten haben.

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Die Erinnerung an den Holocaust ist in Deutschland eine grundsätzliche Aufgabe, die glücklicherweise Orte, Zeiträume und Institutionen durchdringt: in den Gedenkstätten natürlich, aber auch in den Medien, den Schulen, in der Erwachsenenbildung, in öffentlichen Gebäuden und vor allem in den Reden an Gedenktagen. Der Umgang mit der Erinnerung ist zugleich ein Gradmesser für den gesellschaftlichen Anstand – so wie wachsender Antisemitismus ein zuverlässiges Anzeichen für eine zunehmend kranke Gesellschaft ist.

Bald kann kein Überlebender mehr berichten

Das noch junge Jahr 2025 markiert dabei eine Zäsur. Es fällt in eine Zeit, in der die Berichte derjenigen, die den Holocaust erlebt haben, endgültig abreissen. Intellektuellen wie Jean Améry oder Paul Celan war es einst möglich, ihr eigenes Erleben mit der ihnen eigenen Geistesschärfe zu kombinieren und so die Frage nach der möglichen, richtigen Erinnerung zu beantworten oder zumindest zu diskutieren. Sie konnten auch Vereinnahmungen des Erinnerns entschieden und glaubwürdig entgegentreten. Aber sie sind nicht mehr unter uns.

Gleichzeitig hat sich die Gesellschaft durch die Verschiebung von traditionellen zu sozialen Netzwerken in einen Zustand begeben, in dem sekündlich unglaubliche Dinge – von der Alltagslüge bis zur Holocaustleugnung – veröffentlicht werden, ohne dass die Aussagen auch nur milde Empörung auslösen. Und das Wissen über den Holocaust ist immer weniger präsent. Bei einer repräsentativen Befragung im Herbst 2023 gaben etwa 40 Prozent der 18- bis 29-Jährigen in Deutschland an, nicht zu wissen, dass etwa sechs Millionen Juden unter deutscher Herrschaft ermordet wurden.

Es wäre deshalb notwendiger denn je, an das zu erinnern, was war. Stattdessen aber wird die Erinnerung zunehmend zur Interpretationssache. Zufall? Nicht, wenn man sich anschaut, wer eingeladen wird, Reden zu halten und Gedenktexte zu schreiben.

Ein erster Tiefpunkt des Jahres war es, als der «Spiegel» am Jahrestag der Befreiung von Auschwitz im Januar titelte: «Der Holocaust dient Israel als Lehre der Unmenschlichkeit». An dem Tag also, an dem der Ermordeten gedacht wurde, zog ein deutsches Medium eine Parallele zwischen dem Land, in das sich Überlebende mit letzter Kraft geflüchtet hatten, und dem mörderischen Regime, das Juden systematisch in die Vernichtung getrieben hatte.

Die Opfer von damals sollen die Täter von heute sein

Nach der Interpretation, die der «Spiegel» mindestens in der Überschrift transportierte, haben die Opfer aus den Lagern, die dem an ihnen geplanten Mord entrinnen konnten und es oft nur schwer traumatisiert in den sicheren Hafen Israel geschafft haben, aus ihrem Erlebten «die Unmenschlichkeit» gelernt. Die Opfer von damals (oder ihre Nachfahren) sind demnach die Täter von heute. Es ist eine Aussage über den Holocaust, die noch vor wenigen Jahren nur in extremistischen Kreisen existierte. Heute steht sie prominent auf der Homepage des «Spiegels».

Dass das dazugehörige Interview mit einem israelisch-amerikanischen, jüdischen Holocaust-Forscher geführt wurde, Omer Bartov, kann ein guter Grund sein, es abzudrucken; auch scharfe Kritik an der israelischen Regierung, wie Bartov sie übt, ist ein wichtiges Thema, dem sich Redaktionen widmen können.

Dass aber eine Redaktion, zumal eine deutsche, den Satz «Der Holocaust dient Israel als Lehre der Unmenschlichkeit» mit der Dachzeile «80. Jahrestag der Auschwitz-Befreiung» kombiniert und zum Gedenktag für die richtige Wahl als wichtigsten Text auf der Homepage hält, bleibt schwer fassbar. Wer denkt sich so etwas aus? Wer kommt auf eine solche Zeile – die übrigens im Interview wörtlich gar nicht vorkommt?

Hielten es wirklich mehrere Journalisten für einen angemessenen Umgang mit dem Jahrestag der Befreiung von Auschwitz – jenem Ort, an dem 1,1 Millionen Menschen ermordet wurden, darunter 960 000 Juden? Eigentlich hätte zumindest die Schlagzeile in Verbindung mit dem Tag der Publikation für breite Kritik quer durch die Gesellschaft sorgen müssen. Auch deshalb, weil der Beitrag der wichtigste Text des Magazins zum Gedenktag war. Aber es blieb ruhig.

Ein neuer, kurzer Weg zur Kritik an Israel

Der Weg von Auschwitz zur Kritik an Israel ist kurz geworden in diesem Jahr. Es ist ein Weg, den nur beschreiten kann, wer bereit ist, nahezu alles, was über Auschwitz bekannt ist, zu vergessen: den systematischen Mord, die Folter, die Perversion der sogenannten «Experimente» an Menschen, die Verankerung all dessen in einer zunehmend kranken, gestörten deutschen Volksseele, die sich im Verrat und der Auslieferung von Nachbarn und Freunden spiegelte und im Ausleben niederster, verdammenswerter Instinkte. Vergessen ist damit auch die Heldenhaftigkeit der Eingesperrten, von denen viele übermenschliche Kraft und Menschlichkeit bewiesen.

Anfang April feierte man dann im ehemaligen Konzentrationslager Buchenwald die Befreiung desselben; sie jährt sich an diesem Freitag zum 80. Mal. Eingeladen als Redner war der israelische Philosoph Omri Boehm. Wegen Protests der israelischen Botschaft, die sich derzeit offenbar als letzte Instanz um würdevolles Gedenken kümmern muss, wurde er wieder ausgeladen. Boehms Überzeugungen liegen denen des Interviewpartners des «Spiegels», Bartov, nicht fern.

Die nicht gehaltene Rede wurde bekannt, indem sie am Tag des Gedenkens von der «Süddeutschen Zeitung» veröffentlicht wurde. Der Titel der Redaktion lautete: «Das ist die Rede, die Omri Boehm nicht halten durfte». Illustriert wurde der Text mit einem Schwarz-Weiss-Foto, das Hunger leidende, eingepferchte Inhaftierte zum Zeitpunkt ihrer Befreiung im April 1945 zeigte. Den Horror der Buchenwald-Baracken mit einer Abverkaufs-Schlagzeile zu kombinieren, passte zum Text, dessen genaue Lektüre sich lohnt.

Kein Wort über den Horror

Denn Boehm hatte vor, in Buchenwald kaum über Buchenwald zu sprechen. Da ist kein Wort über die Öfen zur Verbrennung der Leichen, über die Todesmärsche, die Zwangsbordelle, den ganzen Horror. Gewiss, Erinnerung kann sich nicht in einer blossen Aneinanderreihung dessen erschöpfen, was geschehen ist. Aber es hilft, sich an die Debatte über Theodor Adornos These zu erinnern, wonach es barbarisch sei, nach Auschwitz ein Gedicht zu schreiben. Der Philosoph formulierte Jahre später: «Die authentischen Künstler der Gegenwart sind die, in deren Werken das äusserste Grauen nachzittert.»

Stattdessen findet die Erinnerung an das konkret Vorgefallene in diesem Jahr so wenig statt wie selten zuvor. Auch Boehm entschied sich für die Interpretation, die zweite, dritte Ableitung. In seinem Fall, dem «Spiegel»-Text nicht unähnlich, lautet diese unter anderem: Gaza.

Boehm schreibt: «Wenn in diesen Tagen vom brutalen Massaker des 7. Oktobers gesprochen wird, heisst es auch manchmal «Nie wieder!». Andere blicken auf die Zerstörung und den Hunger in Gaza und sagen dasselbe. Sofern beides ein Vergleich mit dem Holocaust sein soll, ist das eine so irreführend wie das andere. In beiden Aussagen steckt allerdings auch ein Körnchen Wahrheit.»

Monströse Sätze, die keine Debatte auslösen

Der Philosoph lässt hier in unklaren Formulierungen Interpretationsspielraum. Offensichtlich bleibt aber, dass er «ein Körnchen Wahrheit» in der Behauptung sieht, wonach die auf den Holocaust gemünzte Aussage «Nie wieder» auch auf Gaza zu münzen sei. Womöglich, dies lässt sich anhand des Textes nicht abschliessend klären, hält er ein «Körnchen Wahrheit» auch im Vergleich der Situation in Gaza mit dem Holocaust für möglich. Obendrein setzt Boehm in diesen Zeilen das einzige Geschehen, dessen Intention vielleicht dem Holocaust verwandte Züge trug – nämlich den barbarischen und nur mit einer vollständigen Auslöschung eigener Ethik erklärbaren Anschlag auf Israel am 7. Oktober 2023 – mit dem Verteidigungseinsatz der israelischen Armee in Gaza gleich.

Letzteren kann man kritisieren. Aber Ursache und Wirkung, Angriff und Verteidigung, Terroristen und Soldaten, gleichzusetzen, ist schlicht falsch.

Boehms Sätze hätten noch vor zehn Jahren eine ernsthafte Debatte in den Feuilletons ausgelöst: darüber, was Erinnerung bedeutet, und auch darüber, ob man auf diesem Weg nicht Gefahr läuft, den Holocaust zur historischen Anekdote zu machen, zum passenden Aufhänger für jede eigene These.

Die Banalisierung des Holocaust und die AfD

In diese Debatte wäre vorsichtig mit einbezogen worden, dass Bartov und Boehm jüdische und israelische Stimmen sind, denen das Interesse an einem aufrichtigen Gedenken nicht abgesprochen werden darf. Allerdings zielt die Kritik hier vor allem auf die Platzierung der Texte, den Zeitpunkt der Veröffentlichung, den Kontext und die von deutschen Redaktionen produzierten Schlagzeilen.

Richtig ist auch, dass beide Philosophen, Boehm und Bartov, aus einer politisch scharf linken Denkrichtung kommen. Kritik am Vorgehen der israelischen Regierung in Gaza erscheint ihnen so dringlich, dass sie bereit sind, viel moralisches Argument aufzubringen. Beide haben dazu womöglich eher das Recht als deutsche, nichtjüdische Kritiker. Aber der Weg, den Boehm und Bartov einschlagen, prägt nicht zuletzt durch ihre Auftritte in Deutschland einen neuen, fragwürdigen Umgang mit dem Gedenken.

Man sieht das zum Beispiel daran, dass die Angst vor einem Erstarken der AfD zunehmend in einen Zusammenhang mit dem Holocaust gesetzt wird. Die Sorge kann man nachvollziehen, ihre Ausformulierung mag sogar in historischen Kontexten angebracht sein. Aber das Erstarken der heutigen Rechtsaussenpartei in Buchenwald zu thematisieren, besonders am Tag der Befreiung, banalisiert, was dort geschehen ist.

Die Gedenktage des Holocaust werden zunehmend genutzt, um eigene politische Argumente anzubringen, und die Feierlichkeit der Atmosphäre wird umfunktioniert von der Ehrung derjenigen, die den Horror durchlitten haben, zur Erhebung der heutigen Redner.

So ist man, 90 Jahre nach dem organisierten Massenmord, der von deutschem Boden ausging, in Deutschland in der Erinnerungskultur bei der Tagespolitik angekommen.

Wie ginge es anders?

Bärbel Bas von der SPD hat sich im Januar als Bundestagspräsidentin darauf beschränkt, sachlich zu beschreiben, was in Auschwitz geschehen ist. Sie hielt sich an die Zitate von Befreiern: «Auf den dreistöckigen Pritschen liegen halbtote Menschen wie Skelette» und erwähnte glaubwürdig ihre eigenen Gefühle bei einem Besuch der Gedenkstätte, ehe sie mit Margot Friedländer eine Überlebende im Parlament begrüsste. Es war keine grosse, rhetorisch brillante Rede, aber es war eine, die unbedingt bei den Fakten blieb und Interpretationen vermied.

Erinnerung ist bestenfalls ein Akt der geistigen Rettung der Opfer: Ihr Leiden sichtbar zu machen und sichtbar zu halten, sie nicht im Rauschen der Geschichte verschwinden zu lassen, ist die Aufgabe der lebenden Generationen. Sie wird zunehmend schwerer, weil die Zeitzeugen sterben. Gelingt diese Leistung, schafft man – nebenbei – ein starkes Argument gegen Unmenschlichkeit, Terror und Diktatur. Aber die Ableitung darf die Erinnerung nie ersetzen.

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