Samstag, September 28

Vor 6000 Jahren errichteten die Menschen in der osteuropäischen Waldsteppe Plansiedlungen mit Häusern in konzentrischen Ringen. Archäologen streiten darüber, ob dahinter eine egalitäre Gesellschaftsordnung gestanden haben könnte.

Ein Schatten und paar Scherben aus Ton, mehr ist nicht mehr da. Da sind nur endlose Felder, auf denen Mais wächst, Sonnenblumen oder Soja. Nichts deutet auf das hin, was hier in der Ukraine im Boden liegt.

Den Schatten sieht man nur aus der Luft, die Scherben nur, wenn man über das Feld geht, und beides nur mit geschulten Augen, die wissen, wonach sie suchen. Erst wenn man in den Boden hineinschaut, wird klar, dass der Schatten und die Scherben nicht alles sind, was von der einst grössten Stadt der Welt geblieben ist.

Jahrzehntelang gab es in der Archäologie keinen Zweifel daran, dass die ersten Städte der Menschheit ab etwa 3800 v. Chr. in Mesopotamien, im heutigen Irak, entstanden. Nur dort, das schien festzustehen, lebten zu diesem Zeitpunkt Tausende Menschen auf engem Raum zusammen, ernährten sich von im Hinterland produzierten Lebensmitteln, trieben Handel und entwickelten eine Verwaltung.

Nun wackelt dieses scheinbare Dogma gewaltig: Archäologen erforschen Siedlungen, die bereits um 4000 v. Chr. Ausdehnungen von bis zu 320 Hektaren, das ist dreimal die Grösse der Altstadt von Bern, erreichten und in denen mehr als 10 000 Menschen gelebt haben könnten. Sie befinden sich nicht in Mesopotamien – sondern in der Ukraine. Und sie zeigen, wie verschiedene Archäologen aus dem gleichen Material völlig entgegengesetzte Narrative über die Vergangenheit entwickeln können.


«Fünf-Jahres-Pläne»: Die Entdeckung

Wenn man mit Johannes Müller darüber spricht, wie diese Siedlungen entdeckt wurden, fällt das Wort «Fünf-Jahres-Pläne», und das zeigt: Es geht um die Sowjetunion, ist also mindestens ein paar Jahrzehnte her.

Müller ist Archäologe an der Universität Kiel. Seit 2011 erforscht er mit einer Gruppe von Kollegen die Riesensiedlungen in der Ukraine, vor allem eine, die nach dem modernen Namen des benachbarten Dorfes Maidanezke heisst. 10 Kilometer westlich von Maidanezke liegt eine weitere Riesensiedlung: Taljanki. 30 Kilometer südlich von Taljanki kommt die nächste: Nebeliwka. Sie ähneln sich sehr; es ist klar, dass sie Teil desselben Phänomens, der gleichen Gesellschaftsordnung sind. Doch so nah die Siedlungen beieinanderliegen, so weit voneinander entfernt sind die Interpretationen ihrer Ausgräber.

Mitte der 1960er Jahre beugte sich ein Militärtopograf namens Konstantin Schischkin über Luftbilder aus der Ukraine und entdeckte einen Schatten. Wenn man ganz genau hinschaut, kann man den Schatten auch heute noch sehen. Er entsteht, weil die Pflanzen auf den Feldern an manchen Stellen mehr oder weniger Nährstoffe und Wasser bekommen als an anderen. An diesen Stellen liegen archäologische Reste unter der Erde verborgen. Wo einst ein Graben war, dringen die Wurzeln tiefer in die Erde, die Pflanzen wachsen höher. Stossen die Wurzeln auf Steine, bleiben die Stengel kürzer.

Diese Bewuchsmerkmale waren auf eine Weise angeordnet, die einen natürlichen geologischen Grund unwahrscheinlich machte: in konzentrischen Kreisen. Hier lagen offensichtlich von Menschen gemachte Strukturen im Boden.

Luftbilder geben nur Hinweise; sie müssen anschliessend am Boden verifiziert werden. Doch es ist undenkbar, ein mehrere hundert Hektaren grosses Gelände komplett auszugraben. So begannen 1971 ukrainische Wissenschafter an einigen dieser Orte eine grossangelegte Forschungskampagne mit einer Methode, die in der Archäologie gerade erst entwickelt wurde: Geomagnetik.

Sie beruht auf der Messung sehr geringer Veränderungen des Magnetfelds der Erde, die durch im Boden verborgene Strukturen und die darin enthaltenen Eisenpartikel entstehen.

Die Methode verlangt auch heute noch Handarbeit, aber die Geräte messen kontinuierlich, und so geht es wesentlich schneller als vor 50 Jahren in der Ukraine. Damals stand nur ein einziger Magnetometer zur Verfügung, der an jedem Messpunkt mit dem Stativ aufgestellt werden musste. Erst dann konnte die Messung ausgelöst werden. Zusammen mit dem vorherigen Erstellen des Rasters ist es eine mühselige, langweilige Arbeit. So lassen sich keine grossen Gelände untersuchen. Eigentlich. Aber es war eben die Zeit der Sowjetunion. «Da wurden ganze Schulklassen mobilisiert im Rahmen der Fünf-Jahres-Pläne», sagt Müller, «und dann ging das trotzdem.»

Innerhalb kurzer Zeit liess sich so die Grösse einer Siedlung feststellen, die auf den Luftbildern nur vage erahnbar war. Hätte man das mit Ausgrabung versucht und zehn Häuser im Jahr freigelegt, hätte es, so schätzten die Archäologen damals, mehr als 100 Jahre gedauert, einen ähnlich detaillierten Plan zu erstellen wie mit der Geomagnetik.

Was man aus dieser Zeit und dieser Region bis dahin kannte, war vor allem Keramik gewesen, Gefässe aus gelblichem Ton mit Verzierungen aus geometrischen Mustern und geschwungenen Linien, die sogenannte Cucuteni-Tripillja-Keramik. Benannt wurde sie bereits im Jahr 1885 nach zwei Fundorten, Cucuteni in Rumänien und Tripillja in der Ukraine, 40 Kilometer südlich von Kiew. Ihre Verbreitung reicht bis in die Republik Moldau. Auch die Scherben, die bei den Ausgrabungen gefunden wurden, lassen sich dieser Gruppe zuordnen.

Die Siedlungen in dem riesigen Gebiet, in dem diese Keramik in Gebrauch war, haben alle möglichen Grössen. Wie viele es sind, darüber gehen die Meinungen auseinander; mindestens 140 sollen mehr als 10 Hektaren gross sein. Riesensiedlungen mit mehr als 100 Hektaren gibt es aber nur in der Ukraine, am nördlichen Rand der Pontischen Steppe. Archäologen nennen sie Megasites, vom griechischen Wort «mega» für etwas Grosses und vom englischen Wort «site», das einen archäologischen Fundort bezeichnet.

In der Sowjetunion waren sie eine Sensation, im Westen fanden die spektakulären Erkenntnisse kaum Resonanz. Das eine war, dass niemand den Archäologen im sozialistischen Regime zutraute, dass sie so grosse Flächen geomagnetisch untersuchen konnten.

Das andere war, dass das, was bei den Untersuchungen herauskam, so gar nicht ins Bild passte. Siedlungen mit mehreren tausend Häusern, also möglicherweise Städte, in konzentrischen Ringen, aus der sogenannten Kupferzeit – in der Ukraine? Das widersprach allem, was man über diese Epoche zwischen dem Ende der Steinzeit und dem Beginn der Bronzezeit zu wissen glaubte: dass die Menschen in kleinen Dörfern als Bauern lebten, in einer Zeit, in der sie erstmals auch mit Metall, nämlich Kupfer, zu experimentieren begannen.

Der Zusammenbruch der Sowjetunion und die sich damit eröffnenden neuen Forschungsgebiete, bessere Technik und das Infragestellen alter Dogmen in Bezug auf Begriffe wie Stadt oder Zivilisation trugen dazu bei, dass seit etwa 15 Jahren auch westliche Archäologen wie Johannes Müller die Tripillja-Megasites verstärkt erforschen. Sie haben eine Reihe besonders grosser Siedlungen noch einmal geomagnetisch kartiert. Die neuen Aufnahmen haben eine viel höhere Auflösung als die alten. Einzelne der auf ihnen sichtbaren Strukturen haben die Wissenschafter ausgegraben, und sie haben Bodenproben genommen.


«Die Architektur erinnert an Lego»: Die Siedlungen

Schaut man die Umzeichnung der geomagnetischen Ergebnisse an und vergleicht sie mit einem Stadtplan von heute, sieht man sofort: Mit einer gewachsenen Altstadt voller verwinkelter Gässchen hat eine Tripillja-Megasite nichts gemein. Von oben gesehen, sind die Siedlungen rund oder oval. Die Häuser stehen sauber aufgereiht in konzentrischen Ringen, in regelmässigen Abständen durchbrochen von breiten Korridoren. Die Mitte ist dabei ein offenbar unbebauter Platz.

Eine solche Anordnung entsteht nicht, wenn man es dem Zufall überlässt. Hier wurde die Siedlung offensichtlich geplant, Parzellen abgesteckt und nach und nach bebaut. Es sind die ersten Planstädte der Menschheit, die kleinsten um die 30 Hektaren gross – ungefähr so gross wie der Friedhof Sihlfeld in Zürich –, die grösste 3,2 Quadratkilometer, mehr als das Fürstentum Monaco, fast so viel wie der Central Park in New York.

Die Häuser waren aus Holz und Lehm errichtet, durchaus vergleichbar mit heutigem Fachwerk. Ob sie ein- oder zweistöckig waren, ist umstritten, auch, ob die Giebel spitz oder bogenförmig waren. Sie glichen sich jedenfalls alle in vielerlei Hinsicht und waren oft ähnlich gross, etwa 5 Meter breit und 14 Meter lang. Müller sagt sogar: «Die Architektur erinnert an Lego, das war ein Modulsystem.»

Die Häuser wurden irgendwann niedergebrannt, nicht von Angreifern im Rahmen eines Konfliktes, sondern in regulierter Weise von ihren Bewohnern. Über die Motivation lässt sich nur spekulieren.

Vielleicht besteht ein Zusammenhang mit dem Totenkult. Denn Gräber aus der Zeit der Megasites sind nirgends aufgetaucht. «Individualgräber sind etwas, mit dem die Gruppe der Bestattenden ihre Rolle gegenüber anderen darstellt. Diese Widerspiegelung sozialer Strukturen gibt es hier nicht», sagt Müller. Aber, schiebt er sogleich hinterher: «Wenn es keine archäologenfreundlich gekennzeichneten Gräber gibt, heisst das nicht, dass kein Totenkult existierte.»

Selten finden sich einzelne menschliche Knochen in den Abfallgruben in der Nähe der Häuser; auch sie hätten, sagt Müller, «in irgendeiner Form sicher eine Bedeutung». Aber regelhafte Bestattungen fehlen, sie treten erst in der Zeit nach den Megasites auf.

Eine Reihe von Gebäuden unterscheidet sich von den Wohnhäusern deutlich, schon allein in ihrer Grösse: Eine dieser sogenannten Megastructures in Nebeliwka war 20 Meter breit und 60 Meter lang, das grösste bisher bekannte Gebäude Europas zu der Zeit.

Dass die Megastructures eine besondere Funktion hatten, daran zweifelt niemand. Es besteht Einigkeit darüber, dass es sich nicht um grosse Wohnhäuser handelt, denn es fehlen etwa Vorratsgefässe oder der in den kleineren Häusern stets präsente Ofen. Die Riesengebäude stehen an exponierter Stelle, nämlich in den sonst unbebauten, 100 Meter breiten Ringen, die zwischen den Häuserreihen liegen. Gut möglich, dass sie der Schlüssel für die damalige Gesellschaftsordnung sind. Aber die Archäologen haben völlig unterschiedliche Ansichten darüber, in welches Schloss er passt.


Frauenzentriert, egalitär oder Partyvolk: Die Gesellschaft

Was, wann, wo – das sind Fragen, die das archäologische Material bereitwillig beantwortet. Bei einer Frage aber muss die Antwort der Archäologen immer Interpretation bleiben, und das ist: Warum? Warum legten die Menschen vor 6000 Jahren in der heutigen Ukraine Plansiedlungen an, die grösser waren als alles, was es zu der Zeit irgendwo in Europa gab? Warum lebten sie nicht einfach weiter ihr Leben in den kleinen dörflichen Gemeinschaften, wie sie es vorher getan hatten und wie sie es später wieder tun würden? Bis es in der heutigen Ukraine wieder Siedlungen vergleichbarer Grösse gab, dauerte es fast 3000 Jahre, dann gründeten griechische Kolonisten Städte an der Schwarzmeerküste.

Bis hierhin ging es um Fakten. Nun geht es in gewisser Weise um Wahrheit, und das ist in der Archäologie eigentlich keine passende Kategorie. Aber während es sonst oft schwer ist, von Archäologen mehr als ein «Es gibt Hinweise, dass es so und so gewesen sein könnte, aber genau wissen wir es nicht» zu bekommen, scheinen sich bei Tripillja viele überraschend sicher zu sein. Sie präsentieren ihre Interpretation als Wahrheit. Das Problem ist nur: Sie haben alle eine andere Wahrheit.

Einige Archäologen, unter ihnen Michailo Wideiko von der Universität Kiew, vertreten eine in mehrfacher Hinsicht eher traditionelle Ansicht: In ihr gilt es als gegeben, dass mit der Grösse einer Gesellschaft auch die sozialen Unterschiede wachsen. Wideiko sieht denn auch in den grossen Tripillja-Siedlungen Anzeichen für eine hierarchische Gesellschaftsordnung mit einem Häuptling an der Spitze.

Zudem folgen Wideiko und ähnlich denkende Kollegen einer Theorie, die die litauische Archäologin Marija Gimbutas zwischen 1974 und 1991 in Büchern einer «Göttinnen-Trilogie» postulierte: In Europa sei die Gesellschaft frauenzentriert und matriarchalisch organisiert und friedlich gewesen; die Menschen hätten eine «Grosse Göttin» angebetet. Erst mit der Einwanderung der Indoeuropäer in der Bronzezeit habe sich das Patriarchat durchgesetzt.

Viele Archäologen lehnen diese Theorie ab, weil es zu wenig Belege dafür gibt. Wideiko stützt sich auf die zahlreichen Terrakottafigürchen, die in den Megasites gefunden wurden: Wie Gimbutas interpretiert er sie als weibliche Gottheiten. Die exponierten Gebäude, die Megastructures, sollen ihre Heiligtümer gewesen sein.

Für Heiligtümer und Hierarchien sieht die Gruppe um Johannes Müller in Kiel hingegen keinerlei Anzeichen. Müller interpretiert die Gebäude vielmehr als kommunale Versammlungshäuser, in denen Entscheidungen gemeinsam getroffen worden seien.

Da die Wohnhäuser alle sehr ähnlich seien und sich in der ganzen Siedlung keine Hinweise auf institutionalisierte soziale Unterschiede feststellen liessen, geht er von einer egalitären Gesellschaft aus. Die Menschen seien aus der ganzen Umgebung in die grossen Siedlungen gezogen, deshalb seien die umliegenden Gebiete quasi entvölkert gewesen. Müller und seine Kollegen vertreten das «maximalistische Modell»: Sie zählen, wie viele Häuser es gab, multiplizieren diese Zahl mit einer Schätzung von fünf bis zehn Bewohnern pro Haushalt und kommen so auf Zahlen «zwischen 5000 und 15 000», wie Müller im Gespräch sagt.

Er geht davon aus, dass alle Häuser, die zur gleichen Zeit existierten, auch bewohnt waren. Da diese vielen tausend Menschen sich ernähren und an Feuern wärmen mussten, müsste sich das ökologisch auf die Umgebung der Siedlungen ausgewirkt haben, und zwar negativ. Doch Müller kommt auf Grundlage von Bodenanalysen zu dem Schluss: Die Menschen hätten in der Siedlung Tiere gehalten, mit deren Fäkalien sie die Felder ausserhalb der Siedlung gedüngt hätten. Es gebe keine Hinweise darauf, dass sie die natürlichen Ressourcen jemals überstrapaziert hätten. Zwar sei der Holzbedarf gross gewesen, der Wald gerodet worden und Steppe an seine Stelle getreten. Doch die ökologische Tragfähigkeit sei nie überschritten worden und der Effekt letztlich positiv gewesen: «Durch Verbesserung der Bedingungen für den Regenwurm durch Waldrodung entsteht Schwarzerde», sagt Müller.

Die Schwarzerde gehört zu den fruchtbarsten Böden der Welt

Wichtig für die Bildung von Schwarzerde ist ein kontinentales Klima. Das heisst, die jährlichen Durchschnittstemperaturen schwanken um über 20 °C. In den Mittelbreiten sind dafür heisse Sommer und kalte Winter typisch. Ausserdem ist ein ausgeglichener Wasserhaushalt wichtig.

Die Frage der ökologischen Auswirkungen ist auch der Ansatzpunkt des inzwischen emeritierten John Chapman von der Universität Durham und seiner Kollegin Bisserka Gaydarska. Sie bauten experimentell eines der Wohnhäuser in Originalgrösse nach und brannten es ab, um festzustellen, wie viel Holz dafür nötig war. Es war so viel, dass sie argumentieren: Wären alle Häuser gleichzeitig in Benutzung gewesen und anschliessend abgebrannt worden, hätte es für all das Brennholz einen Wald gebraucht. Der aber müsste sich in den 6000 Jahre alten Pflanzenpollen aus den Bodenproben abzeichnen. Doch laut Gaydarska fanden sich Anzeichen weder von Entwaldung noch für intensiven Getreideanbau, der für die Verpflegung Tausender Menschen nötig wäre.

Während Müller und seine Kollegen daraus folgern, dass die vielen tausend Menschen einen geradezu magischen Weg gefunden hatten, die Umwelt nicht zu zerstören, zieht Gaydarska einen anderen Schluss: Es können nicht so viele Menschen gewesen sein, nicht zur gleichen Zeit. Die Siedlung, glaubt sie, wurde nur saisonal genutzt, als Pilgerzentrum: Hier seien die Menschen aus der Umgebung einmal im Jahr zusammengekommen, um Rituale durchzuführen und Feste zu feiern. Das erkläre auch den grossen freien Platz in der Mitte, der nie bebaut wurde.

Johannes Müller nennt das «die Woodstock-Theorie», und daran, wie er es sagt, hört man schon, dass er sie nicht für plausibel hält. Das Gleiche gilt für die These von der hierarchischen Gesellschaft: Mit Wideiko hat Müller zusammen ausgegraben, bei der Interpretation trennen sich ihre Wege. Auch Chapman und Gaydarska halten von der Hierarchie-Theorie wenig; sie geben sogar offen zu, sie sähen sich aufgrund der Differenzen in der Interpretation nicht mehr in der Lage, Publikationen mit den ukrainischen Kollegen zusammen zu verfassen.

Und Regina Uhl sagt: «Das ist es alles noch nicht.» Uhl arbeitet am Deutschen Archäologischen Institut als Referentin für prähistorische Archäologie des Schwarzmeerraums, mit Tripillja beschäftigt sie sich schon seit dem Studium. Dass die Megastructures Versammlungshäuser gewesen seien, sei plausibel, sagt sie. Aber bei anderen Aspekten ist sie skeptisch. Die Kieler Archäologen stützten ihre Annahmen darüber, wie viele Häuser gleichzeitig bewohnt waren, auf C14-Daten. Diese aber seien just für den Anfang des 4. Jahrtausends ungenau und könnten im Rahmen von bis zu 150–200 Jahren schwanken. «Die Feinauflösung kriegen wir nicht hin», sagt Uhl. «Wir können nicht sagen, ob alle Häuser gleichzeitig bewohnt waren. Wir können es aber auch nicht ausschliessen.»

Sie hat auch Bedenken, was die egalitäre Gesellschaft angeht. «Das geben die Daten nicht her.» Sofort schiebt sie hinterher: «Das Gegenteil allerdings auch nicht. Aber dieses Basisdemokratische, das ist Wunschdenken. Gleiche Häuser bedeuten nicht gleiche Gesinnung, Architektur ist nicht gleich soziale Ordnung.» Ja, die Häuser seien sich alle ähnlich. «Aber wenn man etwas regelmässig macht, also zum Beispiel Häuser baut, resultiert daraus eine gewisse Standardisierung.»

Uhl selbst gräbt in der Republik Moldau eine Siedlung aus, die ebenfalls in konzentrischen Ringen angelegt, mit 10 Hektaren aber viel kleiner ist als die Megasites in der Ukraine. Die Häuser, die Keramik, das sei zwar ähnlich wie in der Ukraine, aber nicht gleich. «Es muss ein Verband von Menschen gewesen sein, die eng in Austausch standen, aber dass die überall die gleiche politische oder soziale Organisation hatten, ist unwahrscheinlich.» Sie bezweifelt, dass die Menschen wirklich so wenig negativen Einfluss auf ihre Umwelt hatten. «Ich denke schon, dass die Leute die Landschaft so genutzt haben, dass sie irgendwann weiterziehen mussten. Vielleicht sind sie – oder ein Teil der Bewohner – von einer Siedlung in die nächste gezogen, weil die Tragfähigkeit erschöpft war.»

Dass irgendjemand die richtige Interpretation schon gefunden hat, glaubt sie nicht. «Deshalb muss man dranbleiben. Wir sind noch nicht fertig damit.»


«Die Planung ist von Anbeginn nachweisbar»: Die Stadt

Uhl wäre auch vorsichtig mit der Aussage, dass es sich um Städte handle. Sie spricht lieber von «sozialen komplexen Strukturen».

Als erste Stadt der Welt galt lange Uruk im heutigen Irak. Hier lebten im 4. Jahrtausend v. Chr. Menschen, die nicht selbst Landwirtschaft betreiben mussten: Städter. Ihre Lebensmittel bezogen sie aus dem umgebenden Hinterland, es gab eine herrschende Elite, Monumentalarchitektur und ein Verwaltungssystem, das die Entwicklung von Schrift einschloss. Lange hielten Archäologen das für essenzielle Merkmale einer Stadt.

Doch die Tripillja-Siedlungen weisen keines dieser Merkmale auf. Johannes Müller, der Archäologe von der Universität Kiel, sagt: «Als ich 2012 anfing, die Tripillja-Stätten zu erforschen, dachte ich nie, dass ich sie mal ‹Städte› nennen würde.» Jetzt tut er es doch. «Das steht für mich ausser Frage. Zu einer Stadt gehört ein Konzept. Und hier ist die Planung von Anbeginn nachweisbar.» Und: «Entscheidend für mich ist nicht, dass es Riesensiedlungen sind, sondern dass man die Leute, die in 1,5 Kilometer Entfernung in der gleichen Siedlung wohnen, nicht mehr kennt.»


Kein Krieg, sondern mangelnde Kommunikation: Das Ende

Um 3600 v. Chr. verschwinden die Megasites wieder. Auch hier ist die grosse Frage, warum. Hinweise auf Konflikte und Gewalt gibt es nicht, keine Invasion, kein Angreifer von aussen. Es liegt nahe, zu vermuten, dass die Ursache hausgemacht war.

So sieht Johannes Müller von der Universität Kiel auch das Ende des Megasite-Phänomens in Verbindung mit der egalitären Struktur. «Um 4100 v. Chr., am Beginn der Megasites, verschwinden die Unterschiede in den Hausgrössen, da nimmt offensichtlich die Ungleichheit ab», sagt Müller. «Als die Siedlungen zusammenbrechen, nimmt sie wieder zu.»

Wahrscheinlich seien mit der Zeit die Entscheidungen von immer kleineren Gruppen getroffen worden, das zeige sich am Verschwinden der kleineren Versammlungshäuser. Die Bevölkerungszahlen aber seien gestiegen, und es hätte andere Arten der Kommunikation gebraucht. «Der Grund für den Zusammenbruch war das, was nicht gemacht wurde», sagt Müller. «Offenbar setzte sich die Bürokratisierung nicht so durch wie in Mesopotamien.» Die Schrift, die sich in Mesopotamien, Ägypten und zum Beispiel China unabhängig voneinander entwickelte, weil es Verwaltungsbedarf gab, hätten die Menschen in den Megasites nicht erfunden. Möglicherweise – dieser Aspekt ist noch fast unerforscht – nutzten sie sogenannte «tokens», Marken, als Zählsystem. Aber das reichte offenbar nicht.

Das ist nun alles Müllers Interpretation. Vielleicht war es auch ganz anders. Jede Siedlung bestand über etwa 200 Jahre, und das ganze Phänomen setzte sich etwa 500 Jahre fort. Das ist sehr viel länger als die meisten Gesellschaftsordnungen, die sich seitdem herausgebildet haben, ob Feudalismus oder Industriekapitalismus. Auch wenn sie heute nur noch ein Schatten auf einem Maisfeld sind, waren die Tripillja-Megasites und ihre Gesellschaftsordnung also lange Zeit ein Erfolgsmodell. Nun müsste man nur noch wissen, welche Ordnung das war.

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