Für ein kleines, unscheinbares Bündner Dorf druckt die ETH Zürich einen Turm. Er soll an die Zuckerbäcker von früher erinnern.
Wie ein Confiseur, der Zuckerglasur aus einem Spritzbeutel auf eine Torte spritzt, trägt der Roboterarm mit einer Düse weichen Beton auf. Schicht für Schicht, in dünnen, gleichmässigen Bahnen. Alle zwei Minuten ertönt ein Knattern, eine Vorrichtung mischt die Zutaten für den Beton. Rundherum stehen drei fertige weisse Säulen.
Hier entsteht keine mehrstöckige Torte, sondern ein ganzer Turm. Statt in einer Bäckerei wird in einer Werkstatt an der ETH Hönggerberg in Zürich mit Tüllen gearbeitet.
30 Meter hoch soll der sogenannte Weisse Turm, der «Tor Alva», werden – das höchste gänzlich digital gedruckte Bauwerk der Welt.
Hier die vernetzte ETH, dort ein sterbendes Bergdorf
Zu stehen kommt der Weisse Turm, den die ETH Zürich am Freitag vorstellte und zu drucken begann, in der Bündner Gemeinde Mulegns.
Gegensätzlicher gehe es kaum, sagt Alt-Nationalrat Andrea Hämmerle (SP) in seiner Rede: Hier die ETH, eine international vernetzte Institution, die den neusten Stand der Technik vorantreibt. Dort Mulegns, ein kleines, auf den ersten Blick sterbendes Bergdorf entlang der alten Julierpassroute, 20 Einwohner zählt es heute noch.
Doch was macht Hämmerle in Zürich? Er ist der Präsident des Fördervereins Pro Origen. Das Festival Origen wiederum prägt unter der Federführung des umtriebigen Theatermannes Giovanni Netzer die Kultur in Dörfern wie Mulegns.
Mulegns sei auch schon als entwicklungspolitisch hoffnungsloser Fall beschrieben worden, sagt Hämmerle. Doch nun verbindet das Projekt des Weissen Turms, von dem man sich weltweite Beachtung erhofft, genau dieses Dorf mit der ETH und soll Touristen ins Val Surses locken. Das Gebäude hat sechs Stockwerke und kann als Aussichtsturm sowie Veranstaltungsort, als Konzertraum oder Theater, genutzt werden. Der touristische Slogan des Val Surses passt da ganz gut: «So nah an einer anderen Welt.»
Der ETH dient der Turm derweil als fortlaufendes Forschungs- und Vorzeigeprojekt dafür, was heute mit computergestütztem Design und digitaler Fabrikation möglich ist.
Der Turm ist nicht das erste Gebäude, das computergestützt geplant und mit digitalen Bautechnologien der ETH erstellt wurde. 2019 fabrizierte die ETH in Dübendorf erstmals ein mehrstöckiges bewohnbares Gebäude mit Robotern und 3-D-Druck, das «DFAB House». Auch die einzelnen Holzelemente für die Holzdachkonstruktion des Neubaus der ETH auf dem Hönggerberg wurden mit Robotern verarbeitet und zusammengefügt.
Neue Bauformen werden immer wichtiger, denn die Zementherstellung verursacht 5 Prozent aller weltweiten CO2-Emissionen. Und der Bedarf an Gebäuden wächst. Die digitale Fabrikation von Baumaterial verspricht, dass man in Zukunft nachhaltiger und kostengünstiger bauen kann. Durch das robotergestützte Verfahren könne etwa der Beton gezielt nur dort aufgetragen werden, wo er benötigt werde, schreibt die Abteilung für Digitale Bautechnologien der ETH Zürich in ihrem Projektbeschrieb zum Weissen Turm. Dadurch reduziere sich der Materialverbrauch um die Hälfte.
Das zentrale Gestaltungselement des Weissen Turms hat 32 verzweigte Betonsäulen. Die grössten Säulen sind 1,2 Tonnen schwer. Sie werden innert 8 Stunden gedruckt. 3 Meter hohe Säulen sind bereits in 2 Stunden fertig. Innerhalb von 90 Tagen sollen alle Turmteile ausgedruckt sein. In Mulegns werden sie ab März zusammengebaut und verschraubt. Am 25. Juni wird der Turm eröffnet. Die Gesamtkosten belaufen sich auf 4,1 Millionen Franken.
Wie eine Kuchenfüllung
Die weissen Säulen sind verziert. Einerseits durch Ornamente, die durch das Betondruckverfahren entstehen. Andererseits durch eine darüberliegende spiralförmige Textur. Die Form ist funktional und statisch relevant. Dass die Überhänge aber wiederum an Kuchenfüllung erinnerten, komme nicht von ungefähr, sagt Giovanni Netzer, Intendant der Nova Fundaziun Origen, der Bauherrin des Projekts. Es sei ein Ausdruck für das Schwelgerische, das Extravagante, das den Graubündner Zuckerbäckern im 19. Jahrhundert vorschwebte.
Mit der neuen Bauform werde die Geschichte der Zuckerbäcker weitergeschrieben, sagt Netzer. Man habe die Kunstfertigkeit und den Pioniergeist der Vorfahren abbilden wollen. Viele Rätoromanen hätten damals ins Ausland auswandern müssen, um ihren Lohn zu verdienen, weil es zu wenig zu essen gegeben habe im Dorf. Dort machten sie sich einen Namen mit filigranen Zuckertürmen mit aufwendiger Verzierung. «Einige blieben in der Fremde, andere kehrten zurück mit neuen Ideen, die Zukunft verhiessen», sagt Netzer.
Das soll nun auch für den Tor Alva gelten. Allerdings ist er als Provisorium für fünf Jahre angedacht. Weil er aus Modulen besteht, kann er dann einfach demontiert und an einem anderen Ort wieder aufgebaut werden.