Samstag, November 23

Früher als erwartet werde die Weltbevölkerung schrumpfen, sagt der amerikanische Demograf Nicholas Eberstadt – das habe dramatische Folgen.

Die Ballung von Kinderwagen und Lastenrädern in Kreuzberg, an der Alster oder im Englischen Garten täuscht. So viele Kinder! Falsch. In Deutschland herrscht die Geburtendürre. Nach kurzem Zwischenhoch ist die Geburtenrate wieder auf 1,3 Kinder pro Frau gesunken – trotz staatlichen, teilweise gebührenfreien Kitas, Elternzeit und finanziellen Zuwendungen. Um die Bevölkerung stabil zu halten, müsste jede Frau 2,1 Kinder gebären; diese Ersetzungsrate heisst «total fertility rate» (TFR).

Die Deutschen sind nicht allein. Die Briten haben eine TFR von 1,4, die Italiener 1,2, Spanier noch darunter. In der westlichen Welt sind Frankreich und die USA die Ausreisser nach oben, freilich liegen auch sie deutlich unter der Ersetzungsrate von 2,1. Asien ist viel schlechter dran. China liegt mit 1,0 ganz weit unten und wird nur noch unterboten von Südkorea und Hongkong mit 0,7. Selbst Indien schafft die magischen 2,1 nicht mehr.

Was ist los? Zum ersten Mal, seitdem die Pest im 14. Jahrhundert ein Drittel der europäischen Bevölkerung umbrachte, steht jetzt die «Entvölkerung» im Programm. Aber diesmal sind nicht Pandemie und Krieg schuld. «Die Implosion ist ganz und gar auf Entscheidungen von Einzelnen zurückzuführen», sagt der amerikanische Demograf Nicholas Eberstadt in der Zeitschrift «Foreign Affairs». «Vor uns liegt eine Welt schrumpfender und alternder Gesellschaften.» Doch wen kümmert das? Vor hundert Jahren hat die Spanische Grippe etwa 50 Millionen umgebracht. Nicht zu reden vom Dreissigjährigen Krieg im 17. Jahrhundert, dem 40 Prozent der Bevölkerung Europas zum Opfer fielen.

Mehr Platz, weniger Stress?

Die neue Horrorvision verstört die wenigsten. Im Gegenteil: Dann hätte doch jeder mehr Platz und weniger Stress. Ade, Umweltverschmutzung. «Es wäre gut, wenn sich die Biosphäre ein bisschen erholen könnte vom Menschen», sagt Verena Brunschweiger, Autorin des Manifests «Kinderfrei statt kinderlos». 38 Millionen Deutsche wären doch besser als 80, meint sie. Die französische Autorin Corinne Meier hat in «No Kid» die kinderlose Gesellschaft gepredigt. Doch wer erarbeitet die Renten, wer pflegt die Alten? Das beantworten die No-Kid-Apologeten nicht. Schon vor fünfzig Jahren empfahl ein ironischer Autoaufkleber in Boston: «Save the Planet, Kill Yourself.»

Der naive Einwurf: «Irgendwann zeugen wir dann eben wieder mehr Babys», funktioniert nicht. Denn «die Mädchen, die vor zwanzig Jahren nicht geboren wurden, können heute auch keine gebären», wie der Demograf Ben Wattenberg in den Achtzigern formulierte. Die weltweite Fruchtbarkeitskurve zeigt seit der Bevölkerungsexplosion in den sechziger Jahren nur nach unten. 2015 war die globale TFR laut Uno-Bevölkerungsstatistik (UNPD) nur noch halb so hoch wie vor fünfzig Jahren. Seitdem beschleunigt sich der Schwund. Und das in reichen wie armen Ländern.

Eberstadts Analyse enthüllt, wohin die Reise geht. In Ostasien sinkt die Bevölkerungszahl: in China, Japan, Südkorea und Taiwan seit 2021. Im Jahre 2023 lag die Geburtenrate unter der Ersetzungsrate. In Südostasien befindet sich die «Babyproduktion» im freien Fall. Thailand hat mehr Tote als Geburten.

Das sind leider die Länder, aus deren Geburtenüberschuss wir unser Pflegepersonal rekrutieren wollen. Nicht nur Indien, auch Nepal oder Sri Lanka sind abgerutscht. In indischen Grossstädten nähert sich die Geburtenunterzahl der europäischer Städte. In Kolkata liegt die TFR bei einem Kind pro Frau, noch niedriger als in Berlin.

Lateinamerika ist auf demselben Weg nach unten – mit einer TFR von 1,1 bis 1,3. Grossstädte wie Mexiko-Stadt oder Bogotá schaffen gerade einmal ein Kind pro Frau. Auf die islamische Religion ist kein Verlass – siehe Nordafrika und Nahost. Tunesien ist unter die Ersetzungsrate gerutscht, Iran ist seit 25 Jahren auf 1,5 Kinder pro Frau abgestürzt und findet trotz allen Appellen des Gottesstaates keinen Weg zurück zum Geburtensegen. In Istanbul werden weniger Babys als in Berlin geboren.

Europas Fruchtbarkeitskurve zeigt seit einem halben Jahrhundert nach unten. Russland hadert seit Breschnews Tagen mit Geburtenschwund und dümpelt bei einer TFR von 1,5. Russland entvölkert sich trotz Krim-Annexion. Einen Krieg, in dem junge Männer zu Hunderttausenden sterben, kann sich Russland bei dieser Rate eigentlich nicht leisten, insbesondere wenn auch gut ausgebildete junge Männer sechsstellig das Land verlassen.

Und der europäische Raum? 1964 hatte dieser noch knapp 7 Millionen Geburten vorzuweisen, heute sind es 3,7 Millionen, fast die Hälfte. Die EU ist seit 2012 eine Netto-Todes-Zone: 2022 standen vier Todesfällen nur drei Geburten gegenüber. «Der Kontinent befindet sich im Bevölkerungsverfall», notiert Eberstadt.

Unbequemer Nachwuchs

Die Talfahrt ist ein globales Rätsel – auch in Afrika, nur da auf weit höherem Niveau, denn die TFR 6 geht in Richtung TFR 4. Lange mussten Wirtschaftswachstum und materieller Reichtum als Erklärung herhalten – steigt das Einkommen, sinkt die Vermehrungslust. Doch hat es längst auch arme Länder wie Nepal und Myanmar erwischt. Ganze Regale im Buchhandel sind voller Literatur zur Geburtenschrumpfung. Die üblichen Verdächtigen: Fallen der Kindersterblichkeit (was den Gebärtrieb schwächt), verbreiteter Zugriff auf Verhütung, bessere Ausbildung und bessere Berufschancen für Frauen, die in den Arbeitsmarkt drängen – der gewachsene Status der Frau überhaupt.

Die Argumente wirken auf den ersten Blick plausibel, können aber nicht erklären, warum Familien sich überall mit einem oder keinem Kind zufriedengeben. Eberstadt zeigt auf die «Revolution in der Familie», also auf den Kultur- und Wertewandel. Der erklärt die Flucht vor der Ehe. Menschen heiraten viel später oder gar nicht, sie leben unverheiratet zusammen oder verbinden sich nur auf Zeit. Single-Haushalte werden zum Normalfall.

Der neue Lebensstil hat sich auf allen Kontinenten ausgebreitet – ob reich oder arm. Die neuen Generationen haben gecheckt, dass andere Lebensentwürfe als die elterlichen möglich und attraktiv sind. Das Schwinden der Religiosität spielt eine Rolle. Vor allem aber die Tendenz zur Selbstverwirklichung und Bequemlichkeit. Das sind die Treiber. «Bei aller Freude sind Kinder nun einmal nicht bequem», konstatiert der fünffache Vater Eberstadt.

Deutlicher Unterschied in dreissig bis fünfzig Jahren

Demografen sind sich einig, dass die Weltbevölkerung noch in diesem Jahrhundert ihren Höhepunkt erreicht. Ob in dreissig oder fünfzig Jahren, «die entvölkerte Welt wird sich deutlich von der heutigen unterscheiden», schreibt Eberstadt. «Niedrige Geburtenraten ziehen jährlich mehr Todesfälle als Geburten nach sich.» Und weiter: «Während die Gesamtbevölkerung schrumpft, nimmt die Zahl der Menschen über 65 exponentiell zu.» Deshalb werde die Zahl der «Super-Alten» über 80 noch schneller wachsen – auf 425 Millionen bis 2050. So viele haben vor knapp zwanzig Jahren nicht einmal ihren 65. Geburtstag feiern können.

Es ist eine einfache Rechnung: weniger Schüler, Arbeiter, Steuerzahler, Mieter, Häuslebauer, Unternehmer, Erfinder, Verbraucher. Die Ergrauung der Welt wird den Wohlfahrtsstaat aus den Angeln heben. Familiennetzwerke werden verschwinden, ganze Familienstämme werden erlöschen. Das ist nicht Sci-Fi, sondern Fakt.

Südkorea, die Avantgarde des Geburtenrückgangs, illustriert die Folgen drastisch. 2050 wird es dort auf drei Todesfälle nur eine Geburt geben; mehr als 40 Prozent der Koreaner werden Rentner sein, und einer von sechs wird über 80 Jahre alt sein. Es wird nur ein Fünftel so viele Babys geben wie vor sechzig Jahren. Auf jeden Rentner werden nur knapp 1,2 arbeitsfähige Menschen kommen. Bleiben die Geburtenraten so niedrig, wird die Bevölkerung jährlich um 3 Prozent schrumpfen; das bedeutet, dass es in einem Jahrhundert keine Südkoreaner mehr geben wird. «Südkorea gibt uns einen Vorgeschmack auf das, was den Rest der Welt erwartet», schreibt Eberstadt warnend.

Ein absolut unvertrautes Kapitel der Menschheit steht bevor. Und anders als die Demografen, die aus den heutigen Daten über Geburten und Sterbefälle die Zukunft berechnen können, guckt der Normalbürger nicht hin, und auch die Politik scheint nicht sonderlich alarmiert. Eberstadt sieht freilich nicht nur schwarz: «Menschen sind das erfinderischste und anpassungsfähigste Lebewesen.» Wir müssen nur erkennen, «welche ungewollten Folgen heutige Entscheidungen für Familie und Fortpflanzung haben». Händeringen hilft nicht.

Christine Brinck lebt als Bildungswissenschafterin und Autorin in München.

Exit mobile version