Freitag, September 27

Ursula von der Leyen zeigt Führungsstärke. Doch um die Herausforderungen der Zukunft zu meistern, braucht es mehr.

Wird die Europäische Union in der entstehenden neuen Weltordnung ein relevanter Akteur sein oder eine Quantité négligeable? Diese Frage stellen viele Kommentatoren, nachdem Ursula von der Leyen in Brüssel vergangene Woche die neue EU-Kommission vorgestellt hat.

In einem Punkt ist der Tenor klar. Die Rahmenbedingungen gelten nicht mehr, unter denen die Union nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs auf 12 Mitgliedstaaten wuchs und nach dem Kalten Krieg auf heute 27. Nach 1989 war im Westen die Vorstellung verbreitet, dass eine globale Durchsetzung des eigenen Politik- und Wirtschaftsmodells unter Führung der USA wünschbar und möglich sei. Das hat sich als Illusion erwiesen.

Heute beobachten wir die Entstehung einer multipolaren Welt. Der Prozess erscheint chaotisch, oft gewaltsam, und ist verbunden mit einer Zunahme militärischer Konflikte. Isolationismus, Nationalismus und Protektionismus nehmen vielerorts zu. Das ist ziemlich genau das Gegenteil jenes Klimas, in dem die EU zu einer wirtschaftlichen Grossmacht gedieh – politisch und vor allem militärisch aber ein Zwerg blieb.

Kann die EU ihren Status als Wirtschaftsmacht halten und zusätzlich zu einem geopolitischen Akteur werden? Sie steht vor drei grossen Herausforderungen.

1. Politische Polarisierung

Extreme Kräfte zur Linken und zur Rechten nehmen in vielen Ländern Europas zu. Davon betroffen sind auch die beiden grössten EU-Mitglieder Deutschland und Frankreich. In Berlin wehrt sich die Ampelkoalition vergeblich gegen den Aufstieg der rechten AfD und des linken BSW im Osten des Landes. In Frankreich ist die konservative Regierung von der Duldung des rechten Rassemblement national abhängig und sieht sich der Fundamentalopposition der linken France insoumise gegenüber.

Der Aufstieg der Extremisten ist Ausdruck einer Vertrauenskrise. Viele Wähler zweifeln an dem sozioökonomischen, politischen und kulturellen Modell, das diesen Gesellschaften zugrunde liegt. Konkret zeigt sich das an der europaweiten Virulenz der Migrationsfrage und den Kulturkämpfen, die immer unversöhnlicher ausgetragen werden. Manche Gesellschaften sind dadurch empfänglich geworden für autoritäre Herrschaftsformen: In Ungarn, der Slowakei und Serbien haben sich illiberale Demokratien gebildet. Sie opfern die Gewaltenteilung und die Medienfreiheit der alles dominierenden Exekutive.

Die Vertrauenskrise öffnet die Gesellschaften auch für russische Desinformation und für chinesische und islamistische Propaganda. Und natürlich lehnen die links- und rechtsextremen Parteien die EU als universalistisches und kapitalistisches Projekt ab. Ihre Stärke schwächt die Bedeutung der europäischen Ebene, auf der Handlungsfähigkeit heute nötiger ist denn je.

2. Produktivitätsproblem der Wirtschaft

Die Wirtschaft Europas droht mangels Produktivität den Anschluss an die USA zu verlieren. Der Draghi-Bericht und die nachfolgenden Debatten haben das eben bestätigt. Der Hauptgrund für die Produktivitätslücke ist die vergleichsweise kleinteilig und national organisierte Wirtschaftsstruktur. Nur in der Automobil- und der Gesundheitsindustrie existieren wirkliche Grosskonzerne. Die grossen Produktivitätsfortschritte werden aber nicht dort, sondern in den Betrieben der Informations- und Kommunikationstechnologie gemacht. Doch ist gerade der Telekommunikationsbereich in Europa stark national reguliert – ganz ähnlich wie die strategisch wichtige Rüstungsindustrie.

Es gibt einen Zielkonflikt zwischen dem Wettbewerb im Binnenmarkt, dem sich die EU verpflichtet sieht, und dem planmässigen Aufbau einer Grossindustrie, die es mit der chinesischen und amerikanischen Konkurrenz aufnehmen kann. Draghi nimmt das Fusionsverbot von 2019 zwischen Alstom (Frankreich) und Siemens (Deutschland) als Beispiel für eine Regulierung, die zwar den freien Markt stärkt, aber das Heranwachsen eines globalen Players behindert.

Wie viele fordert auch Draghi eine stärkere Integration der nationalen Kapitalmärkte, um den Zugang zu (Risiko-)Kapital zu erleichtern. Doch andere Vorschläge sind kontrovers. Etwa die jährlich notwendigen 750 bis 800 Milliarden Euro zusätzlicher Investitionen, die unter anderem durch gemeinsame Anlagen, also Gemeinschaftsschulden, gedeckt werden sollen. In Deutschland reichte dieses Reizwort, um die Debatte über die Wettbewerbsfähigkeit der EU ad acta zu legen. So ist es zurzeit völlig offen, ob das für Europa strategisch brisante Thema von der Politik aufgenommen wird – oder ob Draghis Bericht in den Schubladen verschwindet.

3. Geopolitische Unsicherheit jenseits der Grenzen

Die EU-Aussenpolitik, ihre Institutionen und ihre Arbeitsweise wurden in einer Ära entwickelt, in der in Europas Nachbarschaft Frieden herrschte, der Multilateralismus hoch im Kurs stand und Regeln im internationalen Verkehr zumindest im Prinzip etwas galten. Diese Zeit ist vorbei. Ist die Union in der Lage, auf die neue Situation zu reagieren?

Das Institut für Sicherheitsstudien der EU hat sich dazu Gedanken gemacht. Es will das Konzept der europäischen Nachbarschaftspolitik beerdigen, das ein politökonomisches Standardrepertoire gegenüber allen Anrainern pflegt. Stattdessen sollten mit ausgewählten, strategisch wichtigen Partnern intensive Beziehungen gepflegt werden. Etwa – zentral für die Migrationsfragen – mit den Ländern am Südufer des Mittelmeers. Dass es nun eine Kommissarin speziell für diesen Raum gibt, wird begrüsst.

Auch die Beziehungen zu schwierigen Partnern und Konkurrenten wie China sollte die EU-Aussenpolitik intensivieren. Als Handelspartner ist die Union wichtig genug, um Druck aufbauen zu können, zum Beispiel gegen Pekings indirekte Unterstützung der russischen Eroberungen in der Ukraine. Osteuropäische Länder (etwa die Ukraine, die Moldau, Armenien) und der Westbalkan sollen schrittweise in die gemeinsame Aussen- und Sicherheitspolitik eingebunden werden.

Zudem schlagen die Berater die Aufwertung der Chefin des EU-Aussendienstes (Kaja Kallas) vor. Sie soll zusätzlich den Titel einer Sicherheitsberaterin erhalten (analog zum «National security advisor») und in den relevanten Bereichen (Verteidigung, Energie, Migration, Technologie) die Agenda der Staats- und Regierungschefs massgeblich mitgestalten. Schliesslich sollen die zivilen und militärischen Missionen der EU reduziert und auf wenige Einsatzorte konzentriert werden. Eine militärische Trainingsmission in der Ukraine soll den Anfang machen.

Das sind gut durchdachte Vorschläge. Aber auch hier stellt sich die Frage: Wie kann es gelingen, dass sich die 27 Mitgliedstaaten darauf (oder auf Ähnliches) einigen und da und dort Abstriche machen in ihrer souveränen Aussenpolitik? Die Wahrscheinlichkeit ist klein.

Die Chancen für einen Gestaltwandel der EU sind gering

Zurzeit sind die wichtigsten Mitgliedstaaten Deutschland und Frankreich auf der Brüsseler Bühne kaum mehr präsent. Sie werden, wie viele ihrer Nachbarn auch, von inneren Konflikten gelähmt. Wirtschaftspolitisch bleibt es umstritten, auf welchem Weg die EU ihre Wettbewerbskraft gegenüber den globalen Konkurrenten stärken kann. Und sicherheitspolitisch ist es nicht einmal sicher, ob die fragile Einigkeit in Bezug auf die Unterstützung der Ukraine die kommenden Monate überlebt.

Die Chancen, dass die EU unter der neuen Kommission als geopolitischer Akteur grosse Fortschritte macht, sind also gering. Es fehlt ihr eine Führungsstruktur, und es fehlt die politische Legitimität, um einen solchen Gestaltwandel durchzuziehen. Die Kommission ist ein Scheinriese, denn sie ist in allen wichtigen Entscheidungen auf das Plazet der Mitgliedstaaten angewiesen – oft sogar auf deren Einstimmigkeit.

Daran ändert wenig, dass die Kommissionspräsidentin die Exekutivmacht wie nie zuvor bei sich konzentriert und Konkurrenten kaltblütig aus dem Kollegium aussortiert. Aber immerhin lässt sich jetzt die Frage von Henry Kissinger – nach seinem Tod – beantworten: «Wo rufe ich an», wollte er wissen, «wenn ich mit der EU sprechen will?» Es ist die Nummer von Ursula von der Leyen.

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