Freitag, Oktober 18

Das Asylwesen war beim EU-Gipfel der Staats- und Regierungschefs das dominierende Thema. Was noch vor wenigen Jahren als Tabubruch galt, ist mittlerweile salonfähig.

Fünf Monate können eine Ewigkeit sein. Nirgends zeigt sich dies derzeit so augenfällig wie bei der europäischen Migrationspolitik. Erst im Frühling verabschiedeten die EU-Staaten mit viel Brimborium den Migrations- und Asylpakt. Er ist noch nicht einmal umgesetzt – aber bereits jetzt erscheinen wesentliche Elemente überholt.

Am EU-Gipfel in Brüssel hat sich jedenfalls gezeigt, dass eine Mehrheit der 27 Mitgliedsstaaten deutlich weiter gehen will, als es der Pakt vorsieht. Die Migration war das Thema, das die Staats- und Regierungschefs am Donnerstag am längsten und am heftigsten diskutiert haben.

Abschreckende Wirkung erwünscht

Der allgemeine Tenor der Diskussionen war klar: Das europäische Asylrecht soll strenger, verbindlicher und effizienter werden. Angesichts der länderübergreifenden Wahlerfolge von rechten Parteien wird plötzlich salonfähig, was noch vor wenigen Jahren als Tabubruch galt. Ziel ist einerseits, dem heimischen Publikum Handlungswillen zu demonstrieren. Andererseits soll das Signal in die Welt gesendet werden, dass sich potenzielle Wirtschaftsflüchtlinge gar nicht erst auf den Weg machen sollten. Ein Beobachter sprach – in Anlehnung an die seit je kompromisslose Migrationspolitik des ungarischen Ministerpräsidenten – von einer «Orbanisierung» Europas.

Das Zauberwort des Moments heisst «innovative Lösungen». Es sollen neue Wege gefunden werden, damit weniger Asylbewerber europäischen Boden betreten – und diejenigen ihn schnellstmöglich wieder verlassen, denen kein Aufenthaltsrecht erteilt wurde. Nur wie?

Der umstrittenste Punkt in der Diskussion sind sogenannte «Return Hubs», also Rückkehrzentren in sicheren Drittstaaten. Dorthin sollen Asylbewerber geschickt werden, deren Gesuch abgelehnt wurde, deren Heimatstaat sie aber aus verschiedenen Gründen nicht zurücknimmt. Die Niederlande, deren neue Regierung in den letzten Wochen verschiedentlich eine harte Haltung an den Tag gelegt hat, ist nun auch in dieser Frage vorgeprescht: Eine Ministerin reiste am Mittwoch nach Uganda, um dort die Möglichkeiten zur Errichtung eines solchen Zentrums auszuloten. Den Niederlanden schwebt vor, Personen «aus der Umgebung» des ostafrikanischen Staats dorthin abzuschieben.

«Es ist ein ernsthafter Plan, aber er muss noch ausgearbeitet werden», sagte der Ministerpräsident Dick Schoof am Donnerstag in Brüssel. Die Niederlande sehen sich in Migrationsfragen als Vorreiter: Im Vorfeld des EU-Gipfels organisierte die Vertretung, zusammen mit Italien und Dänemark, ein informelles Treffen von ähnlich gesinnten Staaten. Elf Regierungschefs nahmen teil. Man wolle das Format gerade im Hinblick auf das Gipfeltreffen im Dezember, bei dem konkrete Entscheide fallen könnten, beibehalten, sagte ein beteiligter Diplomat.

Eine «innovative Lösung» könnten auch Rückschaffungen nach Syrien sein, aus dem im Zuge des Bürgerkriegs mehrere Millionen Bürger ins Ausland geflohen sind. Weit über zehn Jahre lehnten die EU-Staaten Verhandlungen mit dem Asad-Regime ab – doch werden die Einwände jetzt neu bewertet. Eine Handvoll Staaten hat schon im Frühling angeregt, die Sicherheitslage in Syrien neu zu beurteilen und Rückschaffungen zu ermöglichen. Der österreichische Kanzler Karl Nehammer sagte im Vorfeld des EU-Gipfels, dass der Nahoststaat in vielen Bereichen jetzt wieder «dokumentiert sicher» sei. Auch Deutschland prüft derzeit, ob straffällig gewordene Syrer wieder in ihr Heimatland zurückgewiesen werden können – ähnlich wie es zuletzt mit Afghanen gelungen ist.

Scholz ist skeptisch gegenüber dem Albanien-Modell

Beim morgendlichen Stelldichein der migrationskritischsten Länder sass auch die EU-Kommissions-Präsidentin Ursula von der Leyen am Tisch. Sie hatte schon zu Beginn der Woche den argumentativen Teppich für eine Verschärfung des Asylsystems ausgelegt. In einem Schreiben zuhanden der Mitgliedsstaaten bezeichnet sie die Rückkehrzentren in Drittstaaten als «möglichen Vorwärtsschritt».

Auch gegenüber dem Albanien-Modell zeigt sie sich offen. Nach dem Ende des Gipfeltreffens wiederholte von der Leyen, dass man das Bedürfnis nach Schutz vollkommen anerkenne. «Aber das heisst nicht, dass dieser Schutz innerhalb der EU gewährt werden muss», sagte sie. Italien hat ausgerechnet diese Woche ein Asylzentrum in dem Balkanstaat in Betrieb genommen. Dorthin werden Migranten geschafft, die in internationalen Gewässern aufgegriffen wurden.

Skeptischer zeigt sich der deutsche Bundeskanzler Olaf Scholz. Konzepte, wie sie Italien nun in Albanien anwende, seien für Deutschland «nicht wirklich die Lösung», weil so nur eine verhältnismässig kleine Anzahl von Asylverfahren ausgelagert werden könne. Letztes Jahr seien mehr als 300 000 Migranten irregulär nach Deutschland gekommen, da seien «mal da 1000, mal da 2000» zu wenig, um diese Zahl deutlich zu reduzieren, so Scholz. Wichtiger sei, dass der beschlossene Migrationspakt – der einen verstärkten Schutz der Aussengrenzen beinhaltet – nun schnellstmöglich umgesetzt werde.

Zum Uganda-Vorschlag der Niederländer äusserte sich Scholz nicht explizit. Bei diesem stellt sich die Frage der logistischen und rechtlichen Umsetzbarkeit noch verstärkt. Der ugandische Aussenminister sagte gegenüber Reuters am Donnerstag, er gehe nicht davon aus, dass seine Regierung ein grosses Zentrum akzeptieren werde. Bereits jetzt lebten 1,6 Millionen Flüchtlinge aus umliegenden Staaten in seinem Land.

Schlusserklärung doch noch verabschiedet

Während des ganzen Gipfeltages war unklar, ob sich die Staats- und Regierungschef auf eine substanzielle Schlusserklärung einigen können. Im Verlauf des Abends gelang es dann doch noch. Gegenüber dem Entwurf, der bereits im Verlauf der Woche zirkulierte, fällt vor allem ein Punkt auf: Die aktuellen Asyl-Probleme Polens werden explizit erwähnt – ein Etappensieg fürs fünftgrösste EU-Land, das auf diesen Punkt gedrängt hatte. Über Weissrussland gelangen aktuell wieder mehr Migranten nach Polen, weshalb Regierungschef Donald Tusk kürzlich angekündigt hat, das Asylrecht teilweise aussetzen zu wollen.

Die EU-Leader drücken Polen nun ihre Solidarität aus und betonen ihre Entschlossenheit, die Aussengrenzen effizient zu schützen. «Besondere Umständen erfordern besondere Massnahme», heisst es in der Erklärung. Bedeutet dies, dass neuerdings auch die sogenannten Push-backs, bei denen Migranten gleich nach dem Grenzübertritt ohne Prüfung «zurückgeschoben» werden, von der EU gebilligt werden?

Nein, sagte Bundeskanzler Scholz anlässlich einer Pressekonferenz am späten Abend. Man wolle an den Aussengrenzen alle Möglichkeiten ausschöpfen, dies müsse aber «im Rahmen des europäischen und internationalen Rechts» erfolgen.

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