Sonntag, September 8

Am EU-Gipfel wurde um innovative Ideen zur Finanzierung der Ukraine-Hilfe und der nötigen Aufrüstung in Europa gerungen. Mehr Geld ist dringend nötig – gratis ist es nirgendwo zu holen.

So viel Einigkeit ist immerhin bereits eingezogen in Europa: Fast alle Regierungen sind frenetisch auf der Suche nach Geld, um ihre Verteidigungsausgaben zu erhöhen. Die Bedrohung des alten Kontinents durch Putins imperialistisches Russland kann nach dem brutalen Angriff auf die Ukraine nicht mehr verdrängt werden. Um nicht weniger als 11 Prozent sind im letzten Jahr die Verteidigungsausgaben der europäischen Nato-Mitglieder und Kanadas zusammen gestiegen, wie Generalsekretär Stoltenberg Mitte März bekanntgab.

Die europäischen Streitkräfte sind durch drei Jahrzehnte Friedensdividende ausgezehrt worden. Die Notlieferungen von Waffen und Munition an die Ukraine haben die Verteidigungsbereitschaft in den letzten zwei Jahren zusätzlich ausgehöhlt. Es gibt keine Ausreden mehr: Die Streitkräfte und die nationale Sicherheit müssen wieder höhere Priorität erhalten. Das kostet Geld, sehr viel Geld.

Mit noch grösserer Dringlichkeit muss die Ukraine weiter unterstützt werden. Sie ist wegen der täglich wachsenden Lücken bei Munitionsvorräten, schweren Waffensystemen und Luftverteidigung gegen die gewaltige russische Kriegsmaschinerie in die Defensive geraten. Das ist eine Gefahr für ganz Europa. Ausser ein paar deutschen Pazifisten wünscht niemand der Ukraine eine Niederlage. Also muss Nachschub für die tapferen Verteidiger an der Front her, und zwar sofort. Auch das kostet viel politisches und finanzielles Kapital.

Das russische Zentralbankvermögen anzapfen

Natürlich haben die Strategen in der Brüsseler EU-Zentrale und den grossen europäischen Hauptstädten diese Krise nicht übersehen. Denn jede Krise ist eine Gelegenheit, um den Einfluss zu steigern und die Macht in Europa weiter zu zentralisieren. Es mangelt nicht an Ideen. Der französische EU-Binnenmarktkommissar Thierry Breton hat im Januar ein Projekt lanciert, das über einen protektionistischen EU-Fonds europäische Rüstungsprojekte finanzieren soll. Dafür hat Breton gleich einen finanziellen Rahmen von 100 Milliarden Euro genannt, der durch Gemeinschaftsschulden aufgebracht werden soll.

Die französische Regierung führt eine Gruppe von südlichen Ländern sowie Polen und Estland an, welche die Bildung eines europäischen Verteidigungsfonds vorgeschlagen haben. Auch hier ist die Rede von einer Finanzierung durch Eurobonds über 100 Milliarden Euro. Parallel dazu treibt die EU-Kommission Überlegungen voran, wie mehr Käufe von Rüstungsgütern durch den EU-Haushalt finanziert werden könnten.

Weit fortgeschritten ist schliesslich die Idee, mit den Zinsgewinnen auf den seit Kriegsbeginn in der EU eingefrorenen russischen Zentralbankvermögen von 210 Milliarden Euro Rüstungsgüter für die Ukraine zu kaufen. Dadurch stünden jährlich etwa 2,5 Milliarden bis 3 Milliarden Euro zur Verfügung.

Die Vorschläge wurden diese Woche von den Staats- und Regierungschefs am EU-Gipfel in Brüssel kontrovers diskutiert, aber beschlossen wurde noch nichts. Was ist der richtige Weg?

Politisch scheinen die Widerstände gegen den Einzug der Gewinne aus den russischen Staatsvermögen am geringsten zu sein. Doch dieser Schritt wäre keine Lösung. Zwar ist nach den eklatanten Verstössen Russlands gegen das Völkerrecht und den immensen Zerstörungen, welche Putins Angriff im Nachbarland anrichtet, eine Rückkehr zum Courant normal mit der bedingungslosen Freigabe der russischen Staatsgelder kaum denkbar. Ihre künftige Nutzung für Reparationsforderungen in geeigneter rechtlicher Form liegt auf der Hand. Doch ein Einzug während Kriegszeiten würde den Zerfall der internationalen Rechtsordnung nur noch weiter beschleunigen. Zwar glauben viele Rechtsexperten, der Einzug nur der Gewinne sei weniger problematisch. Doch die gemessen an den Erfordernissen der ukrainischen Verteidigung bescheidenen Erträge lohnen die politischen und rechtlichen Risiken kaum.

Eurobonds führen nur zu Verschwendung und Streit

Politisch schwieriger wird es mit den Vorstössen für gemeinschaftliche Rüstungsfinanzierungen, sei es über einen (wachsenden) EU-Haushalt oder die Ausgabe von Eurobonds. Natürlich ist die Aussicht auf das Geld anderer Länder für viele Regierungschefs verlockend. Doch das ist ein gefährlicher Weg. Krisen-Eurobonds werden rasch zur Normalität. Sie erodieren die nationale Verantwortung für die Finanzpolitik und strapazieren den Zusammenhalt in der Union. Die Folge sind insgesamt höhere Schulden, mehr Verschwendung und mehr Streit.

Die Verteidigungspolitik ist Aufgabe der Mitgliedstaaten und nicht der Union. Das muss so bleiben, denn wenn der Union schon Einigkeit und gemeinsames Handeln in der Aussenpolitik so ungemein schwerfallen, wie sollte sie dann je zu einer schlagkräftigen Verteidigungspolitik finden? Die Staaten müssen ihre Souveränität in Fragen der nationalen Sicherheit behalten; ein Abschieben dieser Verantwortung an eine handlungsunfähige Zentrale in Brüssel wäre gefährlich.

Somit bleiben die Mitgliedstaaten übrig, welche die Kosten der gestiegenen Anforderungen an die Verteidigungspolitik selbst stemmen müssen. Das ist durchaus möglich. Kurzfristig ist die Finanzierung durch neue Schulden über einen Sonderfonds, wie ihn Berlin vor zwei Jahren mit dem «Sondervermögen» lanciert hat, ein geeigneter Weg. So können rasch die nötigen Mittel beschafft werden für die Behebung der ärgsten Mängel sowie die Nachbeschaffung von an die Ukraine gelieferten Waffen und Munition.

Längerfristig muss aber allen europäischen Staaten klar sein, dass ein höherer Verteidigungshaushalt zu den neuen Realitäten der Geopolitik gehören wird. Eine ordentliche Finanzierung durch den Staatshaushalt statt immer neuer Schulden wird dann unumgänglich sein. Steuern und Ausgabenprioritäten werden sich danach richten müssen.

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