Freitag, März 21

Die Türkei hat eine starke Rüstungsindustrie und kampferprobte Streitkräfte. Das hat man auch in Europa erkannt. Deshalb sieht sich Präsident Erdogan gegenüber der EU in einer starken Verhandlungsposition.

Die Türkei ist gefragt. Der prominente Medienanwalt Gönenc Gürkaynak schrieb kürzlich auf X, dass er zurzeit viel Spass habe. Wann immer er dieser Tage mit Europäern zusammentreffe, bekomme er zu hören, wie wichtig und wertvoll die Türkei sei und wie sehr man die Türken möge.

Optimieren Sie Ihre Browsereinstellungen

NZZ.ch benötigt JavaScript für wichtige Funktionen. Ihr Browser oder Adblocker verhindert dies momentan.

Bitte passen Sie die Einstellungen an.

Die Türkei sitzt mit am Tisch

Gürkaynaks Eindruck kommt nicht von ungefähr. Während die EU die Türkei in den vergangenen Jahren vor allem als problematischen Nachbarn betrachtete, gilt sie nun als sicherheitspolitischer Schlüsselpartner. Wenn die Europäer dieser Tage über die Stärkung der eigenen Verteidigungsfähigkeit sprechen, sitzt Ankara fast immer mit am Tisch.

Dass Präsident Recep Tayyip Erdogan immer autoritärer regiert, ändert daran nichts. Selbst die politisch motivierte Festnahme des beliebten Oppositionspolitikers und Bürgermeisters von Istanbul, Ekrem Imamoglu, dürfte die Gespräche zwischen der Türkei und der EU nicht beeinträchtigen – zu wertvoll ist das, was die Türkei den Europäern bieten kann.

Einige Beispiele aus der vergangenen Woche: Am Samstag nahm Erdogan an der jüngsten Online-Diskussion der Koalition der Willigen teil, einer vom britischen Premierminister Keir Starmer ins Leben gerufenen Initiative zur Unterstützung der Ukraine. Am Mittwoch hatte sich der türkische Generalstabschef mit mehr als dreissig westlichen Amtskollegen in Paris getroffen. Die separate Unterredung mit den Armeechefs Frankreichs und Grossbritanniens erregte dabei besondere Aufmerksamkeit. Die türkischen Streitkräfte spielten in Europa in der obersten Liga mit, lautete die implizite Botschaft.

Zudem besuchte der polnische Regierungschef Donald Tusk, dessen Land zurzeit den EU-Vorsitz innehat, Erdogan in Ankara und forderte die Türkei auf, in einem künftigen Friedensprozess in der Ukraine eine aktive Rolle zu spielen. Einen Tag davor war der niederländische Aussenminister Caspar Veldkamp bei seinem türkischen Amtskollegen Hakan Fidan. Ausserdem erhielt Ankara am Donnerstag erstmals ein konkretes Kaufangebot für 40 Kampfflugzeuge des Typs Eurofighter. Berlin hatte das Rüstungsprojekt lange blockiert.

Pragmatischer Umgang mit Streitfragen

In Europa hat man sich offensichtlich die Worte von Marc Rutte zu Herzen genommen. Die «Financial Times» berichtet, der Nato-Generalsekretär habe die Regierungschefs der EU bereits im Februar aufgefordert, die Beziehungen zur Türkei zu festigen. Der niederländische Aussenminister Veldkamp, ein Landsmann Ruttes, wiederholte die Botschaft bei seinem Besuch in Ankara.

Dass mit den Niederlanden und Frankreich ausgerechnet zwei Staaten zu den Treibern dieser Entwicklung gehören, die in den vergangenen Jahren ein besonders belastetes Verhältnis zu Ankara hatten, entbehrt nicht einer gewissen Ironie. «Dinge ändern sich. Irgendwann muss man sich entscheiden, wen man auf seiner Seite haben will, unabhängig von allen Streitfragen», zitiert die «Financial Times» einen EU-Beamten in dem Zusammenhang.

Streitpunkte gibt es freilich weiterhin. Die Zypern-Frage gehört dazu, aber auch die Sanktionen gegen Russland, denen sich Ankara nie angeschlossen hat. Doch man will pragmatisch damit umgehen.

Schlagkräftige Rüstungsindustrie

Europa muss angesichts wachsender Zweifel am sicherheitspolitischen Engagement der USA massiv aufrüsten, um ein eigenes Abschreckungspotenzial gegenüber Russland aufzubauen. Die boomende türkische Rüstungsindustrie hat die Kapazität, dafür quantitativ und qualitativ einen wichtigen Beitrag zu leisten.

Schon unter der Biden-Regierung füllten türkische Munitionsfabriken einige Lücken, die in amerikanischen Lagern durch Lieferungen an die Ukraine entstanden waren. In der Drohnentechnologie gehört die Türkei zu den weltweit führenden Herstellern. Der Erfolg zeigt sich auch in der Expansion nach Europa. Baykar, der wichtigste Drohnenproduzent, ist besonders in Italien aktiv, wo neben der kürzlichen Übernahme des Traditionsunternehmens Piaggio nun auch eine Kooperation mit dem Grosskonzern Leonardo bekanntwurde.

Aber auch darüber hinaus kann die Türkei in einer neuen europäischen Sicherheitsarchitektur eine wichtige Rolle spielen. Das Land verfügt nach den USA über die zweitgrössten Streitkräfte der Nato, die zudem kampferprobt sind. Hinzu kommt die geografische Lage, einschliesslich der Kontrolle über den Bosporus. In gleich mehreren Regionen, in denen sich Europa gegen russische Störmanöver wappnen muss, ist die Türkei ein Schlüsselakteur: im Schwarzen Meer, im östlichen Mittelmeer und, in geringerem Mass, auch auf dem Balkan.

Erdogan fordert EU-Beitritt

Erdogan wäre nicht Erdogan, wenn er in dieser Situation keine Chance erkennen würde. «Eine europäische Sicherheitsordnung ohne die Türkei ist unvorstellbar», sagte der türkische Präsident Anfang März beim Fastenbrechen mit dem diplomatischen Korps. Die EU müsse deshalb den Prozess eines türkischen Beitritts vorantreiben. Beim Treffen mit Donald Tusk mahnte er, nur mit einer türkischen Vollmitgliedschaft könne die EU ihren Bedeutungsverlust aufhalten.

An einen baldigen EU-Beitritt der Türkei glaubt freilich auch Erdogan nicht. Dass sein Land auch über Sicherheitsfragen hinaus ein privilegierter Partner der Europäer sein soll, ist aber durchaus ernst gemeint. Die Forderung nach einem neuen Zollabkommen mit der EU oder nach der Lockerung der Visa-Bestimmungen dürfte künftig mit mehr Nachdruck erhoben werden. Beides sind seit Jahren europapolitische Prioritäten der Türkei.

Ausserdem hat auch die Türkei sicherheitspolitische Interessen mit Blick auf Europa. Die Nato als Rückversicherung gegen Russland ist ein zentraler Bestandteil davon. Man möchte Teil der neuen europäischen Sicherheitsarchitektur sein, sollte die Nato dereinst wegfallen, sagte Aussenminister Fidan kürzlich in einem Interview.

Zustand des Rechtsstaats spielt keine Rolle

Dass die wachsende sicherheitspolitische Bedeutung der Türkei ihr mehr Verhandlungsmacht gegenüber der EU verleiht, passt ins transaktionale Politikverständnis Erdogans. Ausgerechnet in proeuropäischen Kreisen in der Türkei gibt es aber auch Kritik an der jüngsten Annäherung. Dabei schwingt das Unbehagen mit, dass in der veränderten Weltlage der Zustand der türkischen Demokratie für Europa keine Rolle mehr spielt.

Es sei scheinheilig, dass die europäischen Schwergewichte zwar an den türkischen Streitkräften interessiert seien, aber nicht über den Prozess eines türkischen Beitritts sprechen wollten, schreibt der Journalist Murat Yekin. Der Anwalt Gürkaynak wiederum äussert in dem eingangs erwähnten Tweet, dass er mehr als einmal die kurzfristige, flüchtige Liebe zur Türkei erlebt habe. Wann immer ihm jemand vorschwärme, wie wichtig die Türkei sei, schicke er ihn einfach weg.

Exit mobile version