Seine Inszenierungen wurden schon als «Wunder» bezeichnet, er selbst als «Zauberer». Jetzt bringt entrümpelt der Regisseur am Opernhaus Zürich «Die Lustige Witwe». Was macht den Mann so magisch?
Wunder brauchen etwas länger, weiss der Volksmund. Ausser man hat es mit Barrie Kosky zu tun. Dann stellen sie sich ein, sobald der Vorhang aufgeht, entfalten ihren Sog in einem kastenförmig umrissenen Umfeld namens Opernbühne, und das mittels einer geheimnisvollen Legierung aus Musik und Theater. Als «Genie» oder «Zauberer» wurde der Australier mit jüdisch-osteuropäischen Wurzeln schon bezeichnet, was er auf die Bühne bringt als «Wunder». Seine Version von Mozarts «Zauberflöte» haben weltweit 600 000 Menschen gesehen.
Fakt ist: Wo Barrie Kosky ist, da wird Oper magisch. Und jetzt ist der Regisseur in Zürich. Genauer: Er ist daran, das Chefdirigentenzimmer des Opernhauses zu betreten. Und bereits der Eintritt in dieses nüchterne Zimmer wird beim 56-Jährigen zum Auftritt. Einem Auftritt, der ihn auf dem indirektesten Weg zum Sofa führt. Die Jacke legt er im Gehen ab, dann folgt der Schal, der sich wie von selbst über mehrere Stühle drapiert. Dieser Mann macht nicht nur Oper. Er ist Oper.
Das hat viel mit Koskys Kindheit zu tun. Damit, wie er in Australien aufwuchs als dunkelhaariger Junge mit Kafka-Brille inmitten von blonden Kameraden, bei denen es zu Hause Weissbrot mit Brotaufstrich gab, wie er in einem Dok-Film erzählt. Bei den Koskys gab es gehackte Leber und sauer eingelegtes Gemüse. Aber es gab auch: Oper. Als Barrie mit sieben Jahren zum ersten Mal eine Vorstellung von «Madame Butterfly» sah, hatte er das Stück zuvor bereits fünfzigmal auf LP gehört. Vor seinem 18. Geburtstag war er in 200 Opernaufführungen gewesen.
Oper als Muttersprache
So wurde das Musiktheater Barrie Koskys zweite Muttersprache. Und auch zu einer klingenden Heimat für den jungen Mann, dessen Wurzeln 14 000 Kilometer entfernt lagen. Es war eine Heimat, die er überall entstehen lassen und in die er seine Mitmenschen einladen konnte. «Ich mache diese Stücke nicht für mich allein. Auch nicht für die Sänger. Sondern wir wollen etwas für tausend bis zweitausend Menschen erschaffen», sagt er im Dirigentenzimmer des Opernhauses. Und vielleicht stimmt es doch, dass Wunder länger dauern. Jedenfalls beginnt Kosky dafür drei Jahre vor der Premiere mit der Arbeit.
Was aber macht die Magie seiner Inszenierungen aus? Erstens: die Verbindung zur Musik. Bei Kosky vollzieht sich nicht nur die Geburt der Tragödie aus dem Geist der Musik, sondern auch die Geburt der Komödie: «Ich höre zuerst das Stück ohne Noten, ohne Text. Dann mit Text. Dieser Prozess löst in meinem Kopf etwas aus. Manchmal ist es ein spezifisches Bild, manchmal eine Farbe, ein Geschmack. Ich schmecke, in welche Richtung es gehen soll.»
Zweitens: die Suche nach der Essenz. «Was interessiert uns an diesem Stück? Was ist wichtig an dieser Geschichte?» Darüber diskutiere er monatelang mit seinem Team für Bühnenbild, Kostüm und Lichtdesign. «Man findet eine Tür, öffnet sie und geht durch. Manchmal merkt man ein Jahr später: Wir sind durch die falsche Tür gegangen. Das ist okay.»
Drittens: die Fähigkeit zu Selbstkritik. Viertens: die Fähigkeit zu Selbstkritik. Fünftens: die Fähigkeit zu Selbstkritik: «Sie ist das Wichtigste überhaupt neben Talent. Man muss zugeben können: Meine Idee war falsch.» Und sechstens, die Sängerinnen und Sänger: «Das Zentrum jeder Theaterarbeit muss der Darsteller sein. Viele Sänger fragen mich am ersten Probentag: Herr Kosky, woher trete ich auf? Und ich sage: Ich weiss es nicht.» Denn ob Auftritt, Geste oder Ausdruck: Alles, was auf der Bühne passiert, wird während der sechswöchigen Probearbeit gemeinsam entsprechend den individuellen Persönlichkeiten der Sänger entwickelt.
Wohl deshalb schaffte es Kosky 2016 in seiner Inszenierung von «Eugen Onegin», das Unausgesprochene zwischen den Figuren mittels kleinsten Gesten auf die Bühne zu zaubern. Wohl deshalb 2017 in Bayreuth mit Wagners «Meistersinger» ein musikalisches Psychogramm des deutschen Antisemitismus zu zeichnen oder 2012 die «Zauberflöte» von dem über Jahrhunderte auf ihr abgelagerten Regiesündenregister zu befreien und als grandiosen Live-Stummfilm neu erfahrbar zu machen. Und nun ist in Zürich «Die lustige Witwe» dran.
Ausgerechnet. Eine Operette mit kandierten Melodien und Paprika-edelsüss-Folklore, worin eine steinreiche Witwe von einer Horde Männer umschwärmt wird und schliesslich ihre verflossene Jugendliebe heiratet. Dazu gibt es Arien wie «Da geh ich zu Maxim (…), ich duze alle Damen, ruf sie beim Kosenamen: Lolo, Dodo, Joujou, Clocio, Margot, Froufrou» Darf so viel Harmlosigkeit nach dem 7. Oktober überhaupt sein? Wie viel Joujou und Froufrou verträgt es heute angesichts der humanitären Katastrophe in Gaza?
«Die Welt brennt. Und ich gehe eine Operette proben, in der ein Fächer verlorengeht und sich zwei Personen heimlich in einem Pavillon treffen.»
Die Frage treibe ihn seit Monaten um, sagt Kosky: «Ich wache morgens auf, die Welt brennt. Und ich gehe eine Operette proben, in der ein Fächer verlorengeht und sich zwei Personen heimlich in einem Pavillon treffen.» Der Fall läge anders, wenn es um «Wozzeck» oder die «Götterdämmerung» ginge. Aber: «Die darstellende Kunst umfasst eben nicht nur ‹Wozzeck›», sagt er. Das hätten die alten Griechen erkannt und auf jede Tragödie ein komödiantisches Satyrspiel folgen lassen. «Zu lachen heisst nicht, etwas nicht ernst zu nehmen. Diese Haltung ist sehr deutsch. Tschechow hatte damit kein Problem und Shakespeare auch nicht.»
Und dann wird der 56-jährige Regisseur grundsätzlich. «Ich mache mir Sorgen um die Zukunft, wenn ich sehe, dass die Welt immer öfter auf die Dimension eines Smartphone-Bildschirms zusammenschrumpft», so Kosky. «Auf das Gefühl: Ich bin der Einzige, und all das ist nur für mich gemacht.» Das sei eine narzisstische Praxis. Auch deshalb brauche es Theater: «Theater ist immer für uns gemacht, für ein Kollektiv. Das ist wichtig, denn die Welt wird nicht funktionieren durch Narzissmus.»
Darum mag seine «Lustige Witwe» an der Oberfläche zwar heiteren Slapstick mit Zuckerguss bieten. Aber Kosky wäre nicht Kosky, wenn sich unter dieser Leichtigkeit nicht auch noch eine tiefere Schicht verbärge. Eine Schicht, die trotz Operettenfassade vom Menschsein in dieser Welt erzählt. Nicht für einen Einzelnen. Sondern für uns.
Franz Lehár: «Die lustige Witwe», Barrie Kosky (Regie). Mit Marlis Petersen und Michael Volle. Premiere 11. Februar, 19 Uhr. opernhaus.ch
Ein Artikel aus der «NZZ am Sonntag»