Vor fünfzig Jahren starb der Turiner Schriftsteller, Maler, Arzt und Politiker in Rom. Sein Grab liegt auf dem Friedhof von Aliano, jenem winzigen Dorf in der Basilicata, wo er zwei Jahre lang mit Bauern und Tagelöhnern zusammenlebte. Spurensuche jenseits von Eboli.

Die Fahrt erfordert etwas Geduld, aber heutzutage kommt man gut nach Aliano. Wer das 900-Seelen-Dorf von Süden her, vom Golf von Tarent, erreichen will, fährt auf einer gut ausgebauten Strasse zunächst durch die fruchtbare Ebene des Val d’Agri, um schliesslich in die Calanchi abzubiegen, eine von der Erosion geformte, grau-braune Hügellandschaft, die so aussieht, wie man sich vielleicht die Oberfläche des Mars vorstellt: unwirtlich und menschenleer. Die Sonne wirft schroffe Schatten auf die lehmigen Gebirgsrinnen. Zuoberst auf einem steilen Bergrücken thront Aliano. Links und rechts der Strasse fällt das Gelände steil ab.

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In den dreissiger Jahren war der Weg hierhin weitaus beschwerlicher. Aliano war kaum zu erreichen. Der ideale Ort, um unbequeme Menschen für ein Weilchen zu isolieren – Menschen wie Carlo Levi, die dem faschistischen Regime ein Dorn im Auge waren.

Christus kam nur bis Eboli

Levi wurde am 29. November 1902 in Turin in eine wohlhabende jüdische Ärztefamilie geboren. Er schloss ein Medizinstudium ab, wandte sich aber bald der Malerei zu und verkehrte in den intellektuellen Zirkeln Italiens. Er war Mitbegründer der antifaschistischen Bewegung Giustizia e Libertà und gehörte damit zur Opposition gegen die Partei des Duce, Benito Mussolini.

Dieser hatte das Konzept der Verbannung für seine Zwecke neu entdeckt. Wer aufbegehrte, wurde weggeschafft. Einige Oppositionelle – etwa der spätere Staatspräsident Sandro Pertini – landeten auf einer der zahlreichen Inseln im Tyrrhenischen Meer, andere wurden in die Abgeschiedenheit des Mezzogiorno verfrachtet.

Dort schlugen sie, abgeschnitten von jeglicher Kommunikation mit ihrem Umfeld, die Zeit tot. Einmal täglich mussten sie sich bei den Carabinieri melden, ihre Briefpost wurde abgefangen und den Behörden zur Zensur vorgelegt.

In den Jahren 1935 und 1936 traf es Carlo Levi. Aliano wurde zu seinem Gefängnis unter freiem Himmel.

Doch im Unterschied zu manchen seiner Leidensgenossen wusste sich Levi zu beschäftigen. Er machte sich, ausgerüstet nur mit prekären Mitteln, als Arzt in der von der Malaria heimgesuchten Gegend nützlich, er malte – und er begann, das archaische Leben der Bauern und Tagelöhner zu beobachten, unter denen er nun, fernab der Kaffeehäuser Turins, zu leben gezwungen war. Levi notierte akribisch, was er sah und feststellte: die Härte des Alltags, den Aberglauben, dem die Leute nachhingen, die Rituale, die sich über Jahrhunderte kaum verändert hatten, die prekären Verhältnisse, unter denen sie zu leiden hatten.

Nach der Verbannung in der Basilicata emigrierte Levi zunächst nach Paris, reiste auf illegalen Wegen zurück nach Italien, schloss sich dem Widerstand an und schrieb noch im Krieg den Roman «Cristo si è fermato a Eboli», in dem er seine Zeit in der Verbannung schilderte. 1945 erschien das Buch und wurde sogleich zu einem Grosserfolg, in Italien wie im Ausland. Und Aliano, das kleine Nest in den Calanchi, wurde weltberühmt – allerdings unter dem Namen Gagliano. Aus Diskretionsgründen verwendete Levi in seinem Buch diese Bezeichnung. 1979 wurde das Buch von Francesco Rosi verfilmt, mit einem kongenialen Gian Maria Volonté in der Hauptrolle.

Willkommenskultur damals und heute

Würde Carlo Levi heute nach Aliano zurückkehren, würde er sich rasch zurechtfinden. Allzu viel hat sich nicht verändert. Die leise Befürchtung, das Dorf habe sich nach dem Erfolg des Buches zu einem Literatur-Rummelpark entwickelt, bestätigt sich nicht. Es gibt zwar einen Parco Letterario Carlo Levi, es gibt ein kleines Levi-Museum, und an einigen Wänden in den Gassen sind Hinweistafeln angebracht, auf denen erklärt wird, wie der Autor in seinem Buch die jeweiligen Häuser beschrieben hat. Aber viel mehr ist da nicht. Trotz guter Erschliessung verirren sich wenige Touristen hierhin, zur Hauptreisezeit mögen es einige mehr sein.

Aliano befindet sich nicht auf der berühmten Liste der schönsten Bergdörfer Italiens. Es ist unscheinbar geblieben, es gibt keine wichtigen historischen Monumente – ein ziemlich durchschnittlicher Ort, der sich entlang der Durchfahrtsstrasse in die Länge zieht.

Wer trotzdem hier verweilt, wird indessen belohnt. Denn der Ort lebt. Wenigstens ein bisschen. Es gibt Bars, zwei, drei kleine Läden, eine Bäckerei, eine Apotheke. Und viele freundliche Menschen. «Sie wollen übernachten?», fragt uns eine junge Frau im winzigen Lebensmittelgeschäft, die unser Gespräch mitgehört hat. «Kommen Sie mit mir, im Palazzo um die Ecke gibt es Gästezimmer.» Und bei Sisina, einer gesprächigen älteren Frau, deren Haus wir mithilfe des Barista in einer dunklen Gasse finden, wird uns ein mehrgängiges, bäuerlich-deftiges Menu aufgetischt, einfach so, ohne Voranmeldung. Sisina zaubert in der Küche, ihr Mann serviert, am TV-Gerät im Hintergrund läuft eine Quizshow.

Auch Carlo Levi wurde von der Dorfgemeinschaft schliesslich aufgenommen, obschon zunächst nicht allen seine Schilderungen des rauen und rückständigen Lebens gefielen. Der Blick von aussen irritierte. Doch Levi schrieb in guter Absicht, es ging ihm nicht darum, die Protagonisten seines Buches blosszustellen. Er wollte vielmehr aufrütteln, Italien für die Probleme des Mezzogiorno sensibilisieren.

Augenöffner für die Politik

Der Roman schlug ein. Seine Darstellung der rund hundert Kilometer entfernt gelegenen Stadt Matera mit ihren Wohnhöhlen verfehlte ihre Wirkung nicht. Um ihren Bruder Carlo in Aliano zu besuchen, musste Levis Schwester den Weg über diesen Ort nehmen. «In diesen schwarzen Höhlen mit Wänden aus Erde sah ich Betten, elenden Hausrat und hingeworfene Lumpen. Auf dem Boden lagen Hunde, Schafe, Ziegen und Schweine», referierte Levi die Eindrücke der Schwester. «Ich habe noch nie ein solches Bild des Elends erblickt.»

Das Selbstbild Italiens erhielt mit Levis Buch plötzlich einige Kratzer. «Carlo Levi ist Zeuge der Gegenwart einer anderen Zeit in unserer Zeit, er ist der Botschafter einer anderen Welt in unserer Welt», schrieb Italo Calvino über das Buch. 1948 nannte Palmiro Togliatti, der Chef der Kommunisten Italiens, Matera eine «nationale Schande». In den fünfziger Jahren schickte sich die Regierung in Rom unter Führung des damaligen Ministerpräsidenten Alcide De Gasperi an, die Stadt zu sanieren. Es begannen Umsiedlungen und umfassende Renovationsarbeiten. Mit der Zeit wurde die Stadt zum Touristenmagnet, 2019 wurde sie zur Kulturhauptstadt Europas gewählt und diente immer wieder als Filmkulisse, zum Beispiel für Mel Gibsons «Passion Christi».

Aliano seinerseits hat es nie in die Kategorie von Matera geschafft, vielleicht zu seinem Glück. Der Ort mag für Junge allzu abgelegen sein, aber er verfügt heute über die Annehmlichkeiten der modernen Zivilisation, ohne wie Matera von Touristen überrannt zu werden. Gleichzeitig bleibt er der Hauptschauplatz eines Romans, den man als Schlüssel zum Verständnis der Probleme des italienischen Südens bezeichnen darf.

«Es gibt Hagel, Erdrutsche, Trockenheit, Malaria, und es gibt den Staat, allesamt unvermeidliche Übel», schrieb Levi etwa und brachte damit das Staatsverständnis im Mezzogiorno auf den Punkt: der Staat als Heimsuchung und Übergriff. Noch heute ist diese Sicht im Süden weit verbreitet. Hier wähnt man sich auf sich alleine gestellt, gefangen in einem Kreislauf von Armut und Verzweiflung, ohne Hoffnung auf eine bessere Zukunft.

Christus kam eben nur bis Eboli. Der Titel von Levis Roman bezieht sich auf eine Redensart, gemäss welcher es die Zivilisation, die Menschlichkeit und sogar das Christentum nicht weiter als bis nach Eboli geschafft haben, jener Stadt auf halbem Weg zwischen Salerno und Paestum. Die Basilicata ist leer ausgegangen.

Grab mit Aussicht

Ganz oben im Dorf befindet sich, neben einer riesigen Handy-Antenne, der Friedhof. Von hier hat man einen schönen Blick auf das Dorf, die Gemüsegärten und die Schluchten in der Umgebung. Hierhin zog sich Carlo Levi jeweils zurück, um zu malen und nachzudenken.

Am 4. Januar 1975, vor exakt fünfzig Jahren, starb der Autor in Rom. Er war ein berühmter Mann geworden, betätigte sich als Reiseschriftsteller und Maler. Von 1963 bis 1972 war er Mitglied des italienischen Senats in Rom.

Sein letzter Wunsch war es, in Aliano begraben zu werden, bei seinen Leuten. Levis Grab befindet sich am Rand des Friedhofs, an einer Stelle, wo die Mauer sich öffnet und den Blick freigibt auf die Weite der kargen Landschaft. Auf der schlichten Grabplatte liegen ein paar vertrocknete Wiesenblumen und unzählige kleine Steine, die dort nach jüdischer Sitte hingelegt wurden.

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