Londoner Sommer-Hype um den japanischen Künstler – die grosse Schau in der Hayward Gallery.
Ein typisches Werk von Yoshimoto Nara zeigt ein Cartoon-Kind auf einem einfarbigen Hintergrund, das mit grossen, seelenvollen Augen aus dem Bild schaut. Manchmal wirken seine Kinder aber auch wütend. Manchmal haben sie Tränen in den Augen. Und der japanische Künstler bezeichnet sie alle als Selbstporträts.
Sie hätten mit seiner Kindheit zu tun und mit seinem Gefühl der Isolation, das er erst später erkannte und benennen konnte. «Damals hatte ich keine Vorstellung von Einsamkeit», sagt Yoshimoto Nara (geb. 1959) in einem Interview anlässlich seiner Retrospektive in der Londoner Hayward Gallery. Aber heute wolle er zu dem Gefühl dieser Kindheitseinsamkeit zurückkehren.
Ihm sei es nicht wichtig, als Künstler zu wachsen, vielmehr interessiere ihn die Frage, «ob ich dahin zurückkehren kann, wo ich angefangen habe – wie ein Kind. Um dann dorthin zurückzukehren, wo ich jetzt bin, und weiterzumachen.»
Im ersten Raum der Ausstellung ist eine riesige Wand mit den Covers seiner eigenen Vinyl-Sammlung hauptsächlich aus den sechziger Jahren tapeziert. Die dazugehörige Musik tönt als Soundtrack aus Lautsprechern: Beach Boys, Bowie, Dylan, Jefferson Airplane, Leon Russell, Buffalo Springfield und Jackson Browne. Nara war besessen sowohl von der Musik als auch von den Hüllen der von ihm gesammelten Singles und Alben.
Eine Hütte, die er sich rückblickend für seine Kindheit gewünscht hätte, bildet das Herzstück der Ausstellung. Es ist ein in Holz nachgebauter, akut nostalgischer Phantasieort. Hinter vier Wänden wie diesen hätte Nara gern gesessen, gemalt und Musik gehört. Während seiner gesamten Kindheit zeichnete und malte er. Nara ist so etwas wie der Archetyp des traurigen Kindes, das in der Kunst Trost findet. «Die Malerei», sagte er einmal in einem anderen Interview, «war mein Spielgefährte.»
Gewalt und Protest gegen Gewalt
Ausgestattet ist das kleine Haus mit nostalgischem Schnickschnack und bekritzeltem Papier. Auf der Aussenwand prangt der Slogan «Place Like Home», dem das normalerweise dazugehörige «No» wie in «No Place Like Home» fehlt: Es ist eben nur ein ausgedachter Kindheitsort. Durch die Fenster kann man hineinsehen, aber betreten lässt er sich nicht.
Auf diesen Raum, der im Grunde eine Miniaturwerkstatt ist, folgen wahre Bilderfluten in den daran anschliessenden Räumen der Hayward Gallery. Es sind 150 Werke, die Kinder so zeigen, wie Erwachsene sie in der Wirklichkeit am liebsten nicht sehen wollen: wütend, verängstigt, traurig.
Oder mit unguten Absichten: als kleine Pyromanen mit roter Mütze. Aber auch als tanzende Fans der Ramones, einer der Lieblingsbands des Künstlers. Dann als trotziges Kleinkind im Strampler («Sleepless Night», 1997) oder als widerständiges Mädchen, das sich ein Katzen- oder Fuchsfell mit spitzen Ohren über den Kopf gezogen hat (in «Wild One», 2024).
Ein anderer Fratz zeigt scharfe, bluttriefende Raubtierzähne und schwingt eine Säge (in «Dead Flower», 1994). Zu ihren – oder seinen, das Geschlecht ist oft nicht klar – Füssen liegt eine Blume, der der Kopf abgesäbelt wurde. Auf dem Kleid steht «Fuck You». Gewalt und Protest gegen Gewalt – in Form von wiederkehrenden Anti-Kriegs-Botschaften – tauchen in der gesamten Ausstellung immer wieder auf.
Yoshitomo Nara: «Harmless Kitty», 1994 (links); «Missing in Action», 1999.
Man kann Nara lieben – als subversiven Künstler, der Niedlichkeit und Grausamkeit unerwartet und vielschichtig verbindet. Man kann ihn hassen – als repetitiven Erzeuger infantiler Bambi-Traurigkeit. Der Kunstmarkt und ein junges, hippes Publikum stehen auf seiner Seite. Sein Gemälde «Knife Behind Back» (Messer hinter dem Rücken) erzielte 2019 bei einer Auktion von Sotheby’s den Rekordpreis von 25 Millionen Dollar.
Derzeit ist Nara Japans teuerster Künstler. Und seine Figuren sind so ikonisch geworden wie Warhols «Marilyns» oder Lichtensteins blonde Pin-Up-Akte. Sie lassen sich ebenso gut als Poster, T-Shirts und Untersetzer verkaufen. Der Ausstellungsshop in London ist brechend voll. Es sind fast alles junge Leute, die nach Nara-Souvenirs greifen. Der Grund für den Hype: Naras unaufdringliche Coolness, seine popkulturelle Versiertheit sind zugkräftige Attribute.
Authentische Gefühle
Häufig wurde Yoshimoto Nara mit der Kunstbewegung Superflat von Takeshi Murakami in Verbindung gebracht. Ihre Anhänger stützten sich auf Mangas und Animes und auf das, was Murakami die «seichte Leere der japanischen Konsumkultur» nennt. Doch diese Kategorisierung greift bei Nara letztlich nicht. Nara ist zu politisch und zu sehr darauf bedacht, authentische Gefühle auszudrücken, um wirklich «superflat» zu sein.
Sein Werk wurde auch mit Kawaii in Verbindung gebracht, dem japanischen Niedlichkeitskult, der in den siebziger Jahren entstand und sich seither zu einem weltbekannten Phänomen entwickelt hat, das für seine farbenfrohe, kindliche Ästhetik bekannt ist. Es findet seinen Ausdruck in der Mode, in der Kunst, insbesondere in Mangas, und in alltäglichen Erinnerungsstücken.
Geprägt wurde Nara während seines Studiums an der Kunstakademie Düsseldorf, die er 1988 nach seinem Abschluss an der Aichi University of the Arts besuchte. Zwölf Jahre lang blieb er in Deutschland, wo er seinen typischen Stil entwickelte: Er malte oft eine einzelne Figur in Pastell mit dicken karikaturistischen Linien.
Als er 2000 nach Japan zurückkehrte, machten die schwarzen Umrisse und die punkige, comichafte Energie seiner Figuren einem stärker malerischen, dreidimensionalen Ansatz und dramatischer Tiefe im Ausdruck Platz. In der Ausstellung wechseln sich schnelle Skizzen, die wie kleine Kritzeleien wirken, mit grossformatigen Bildern und ausladenden Skulpturen ab.
Im Jahr 2011 wurde der Künstler mit den katastrophalen Folgen des grossen Erdbebens in Ostjapan, dem darauffolgenden Tsunami und der Atomkrise im Kraftwerk Fukushima Daiichi konfrontiert. Danach war er monatelang so traumatisiert, dass er kaum arbeiten konnte. Mehrfach berichtete er, wie diese Ereignisse seiner Kunst eine soziopolitische Dimension verliehen hätten. Er ging nicht mehr ausschliesslich von seinem eigenen Erleben aus, sondern begann Krisengebiete zu bereisen und öffnete den Blick für die Leiden der betroffenen Gemeinschaften.
Stella McCartney verfasste eine kurze Lobrede auf Nara, als das amerikanische «Time Magazine» ihn im April zur Liste seiner hundert einflussreichsten Menschen des Jahres addierte. Die Designerin, mit der Nara 2022 eine Kollektion entwarf, schwärmt davon, «wie er die Welt mit den Augen eines Kindes betrachtet, das nicht versteht, warum wir Krieg haben und keinen Frieden; warum wir die Natur getötet haben, anstatt in Harmonie mit ihr zu leben».
Das ist nur zur Hälfte wahr: Etliche der rundäugigen Wesen auf Naras Bildern brennen Häuser ab, fluchen, rauchen, schwingen Waffen. Ihnen ist nicht zu trauen. Vor allem, wenn sie Sägen und Messer in ihren kleinen Händen halten.
«Yoshimoto Nara», Hayward Gallery, London, bis 31. August.