Mittwoch, November 27

Im Gesundheitswesen werden ambulante Eingriffe, stationäre Behandlungen und die Pflege unterschiedlich finanziert. Das führt zu Fehlanreizen. Das Parlament hat einen neuen einheitlichen Finanzierungsschlüssel beschlossen. Wegen eines Referendums entscheiden die Stimmbürger am 24. November.

Das Wichtigste in Kürze

  • Das Schweizer Gesundheitswesen steckt voller Fehlanreize. Das führt zu Verschwendung. Einer dieser Fehlanreize ist durch die unterschiedliche Finanzierung verschiedener Gesundheitsleistungen begründet. So können stationäre Behandlungen im Spital für die Krankenkassen günstiger sein als vergleichbare ambulante Eingriffe, obwohl Letztere für das Gesamtsystem viel billiger sind. Die Abstimmungsvorlage will diesen Fehlanreiz beseitigen und sieht einen einheitlichen Finanzierungsschlüssel für ambulant, stationär und für die Pflege vor. Laut den Befürwortern wird dies die Gesamtkosten des Systems senken und auch die Prämienzahler der Krankenkassen entlasten.
  • Die Gewerkschaften haben das Referendum ergriffen. Sie sagen, dass die Reform wegen der Integration der Pflege in den Finanzierungsschlüssel zu höheren Krankenkassenprämien führe und dass die Vorlage nicht auf die Bedürfnisse des Pflegepersonals eingehe.

Die Vorlage im Detail

Die Abstimmungsvorlage verändert die Finanzierung der vom Krankenversicherungsgesetz (KVG) geregelten Gesundheitsleistungen. Dabei geht es um ein Volumen von etwa 50 Milliarden Franken pro Jahr, Tendenz jährlich steigend. Nach geltendem Recht gehen ambulante Nettoleistungen (abzüglich Eigenanteil der Patienten) voll zulasten der Krankenkassen und ihrer Prämienzahler. Bei stationären Leistungen – also mit Übernachtung der Patienten im Spital – gehen derzeit mindestens 55 Prozent der Nettokosten zulasten der Kantone und damit der Steuerzahler. Bei der Pflege ist es komplizierter, doch die über den Selbstbehalt hinausgehenden Kosten gingen in der jüngeren Vergangenheit im Mittel etwa zu 54 Prozent zulasten der Krankenkassen. Den Rest schulterten die Steuerzahler von Kantonen und Gemeinden.

Die Reform bringt einen einheitlichen Finanzierungsschlüssel. Ob ambulant, stationär oder Pflege: Künftig sollen die Kantone immer mindestens 26,9 Prozent der Nettokosten übernehmen und die Krankenkassen höchstens 73,1 Prozent. Wie schon im geltenden Recht können die Kantone ihren Anteil freiwillig erhöhen. Der Grund für die ungeraden Zahlen im neuen Verteilschlüssel: Mit diesem Schlüssel wäre der Systemwechsel in der Referenzperiode 2016 bis 2019 im Durchschnitt aller Kantone für die Krankenkassen und ihre Prämienzahler kostenneutral gewesen.

Der neue Verteilschlüssel soll für ambulant und stationär ab 2028 gelten, für die Pflege ab 2032. Der Systemwechsel bringt auch Änderungen in der Rolle diverser Akteure. So nehmen die Kantone Einsitz in die Tariforganisation für ambulante Leistungen, da sie neu auch einen Finanzierungsbeitrag zahlen. Die Pflegeleistungen werden bisher nebst dem Eigenanteil der Patienten finanziert durch einen vom Bundesrat festgelegten Beitrag der Krankenkassen pro pflegebedürftiger Person und die Restfinanzierung durch die Kantone. Neu werden die Pflegetarife durch eine Tariforganisation ausgehandelt, in der die Pflegedienstleister, die Krankenkassen und die Kantone vertreten sind.

Mit der einheitlichen Finanzierung sollen vor allem die Krankenkassen und die Kantone am gleichen Strick ziehen. Denn sie hätten künftig ähnliche Anreize, die günstigsten Behandlungsmethoden zu fördern, da die Finanzierungsanteile unterschiedlicher Methoden jeweils die gleichen sind. Im geltenden System kann es vorkommen, dass ambulante Behandlungen für die Krankenkassen wegen der vollen Kostenübernahme teurer sind als stationäre Eingriffe, obwohl letztere insgesamt viel mehr kosten.

Insgesamt sind stationäre Eingriffe oft zwei- bis viermal so teuer wie vergleichbare ambulante Behandlungen. Dies liegt nicht nur an den Übernachtungskosten für die Patienten, sondern auch an der teureren Infrastruktur und dem grösseren Personalbedarf. Die letzten Jahre zeigten einen deutlichen Trend von stationär zu ambulant, doch die Schweiz hat im internationalen Vergleich noch grosses Aufholpotenzial. Der Bund verweist auf Daten des Ländervereins der OECD, die zeigen, dass in der Schweiz 2022 bei den erfassten Eingriffen der Marktanteil ambulanter Behandlungen mit 21 Prozent noch weit hinter dem Mittelwert der europäischen Vergleichsländer von 42 Prozent lag.

Mit der einheitlichen Finanzierung steigt der Anreiz der Krankenkassen, den Trend zu ambulanten Behandlungen zu verstärken. Im Prinzip entscheiden nicht die Kassen, sondern die Ärzte, ob eine Behandlung ambulant oder stationär erfolgt. Doch mit der Finanzierungsreform werden die alternativen Versicherungsmodelle mit Budgetmitverantwortung der Ärzte attraktiver, weil diese Modelle ihre Einsparungen unter anderem durch die Vermeidung unnötiger stationärer Eingriffe erreichen und die Einsparungen künftig voll den Versicherten weitergeben können. Damit könnten künftig höhere Rabatte möglich sein – zum Beispiel bis zu 25 Prozent statt bis zu 20 Prozent. Das könnte zusätzliche Kunden in solche Modelle bringen. Das Potenzial ist noch gross: Zurzeit sind laut Schätzungen erst etwa 20 bis 30 Prozent aller Versicherten in einem Modell mit Budgetmitverantwortung der Ärzte.

Der einheitliche Finanzierungsschlüssel wird für sich allein aber nicht alle Hürden für eine stärkere ambulante Versorgung beseitigen. Mittelfristig bedeutender könnte der Effekt der Finanzierungsreform auf die Tarife sein. Zurzeit sind für die Spitäler stationäre Eingriffe deutlich rentabler (oder weniger verlustreich) als die für das Gesamtsystem viel günstigeren ambulanten Behandlungen. Die Finanzierungsreform kann mittelfristig zu Veränderungen der Tarifstruktur führen und damit diese Fehlanreize der Spitäler mindestens lindern. Denn die Krankenkassen dürften künftig eher zu Konzessionen bei den ambulanten Tarifen bereit sein. Das Ausmass dieses Effekts lässt sich derzeit aber nicht zuverlässig einschätzen.

In der öffentlichen Debatte spielen vor allem die Umverteilungswirkungen zwischen Prämienzahlern und Steuerzahlern eine prominente Rolle. Bei den ambulanten Leistungen führt die Reform zu einer Entlastung der Prämienzahler und einer Belastung der Steuerzahler, weil die Krankenkassen künftig einen kleineren Anteil tragen müssen als bisher. Bei den stationären Leistungen und der Pflege gilt das Umgekehrte. Die Saldowirkung hängt von der Grösse und vom künftigen Wachstum der einzelnen Kostenblöcke ab.

Der mit Abstand grösste Kostenblock im KVG sind die ambulanten Leistungen, und dieser wächst in absoluten Zahlen auch klar am stärksten. So sind die Nettokosten der ambulanten KVG-Leistungen (nach Abzug der Eigenzahlungen von Patienten) von 2014 bis 2022 um total 7 Milliarden Franken gewachsen, während die Kosten der stationären Leistungen und der Pflege zusammen «nur» um 3,3 Milliarden Franken wuchsen. Selbst wenn die Pflegekosten künftig prozentual stärker wachsen sollten als die Kosten der ambulanten Leistungen, dürfte der Kostenblock ambulant in absoluten Zahlen auch in Zukunft frankenmässig deutlich stärker zulegen – denn in absoluten Zahlen betrugen die Nettokosten der ambulanten Leistungen 2022 rund das Vierfache der Pflegekosten.

So ist per saldo durch die Reform mit einer Entlastung der Prämienzahler und einer Zusatzbelastung der Steuerzahler zu rechnen. Auf Basis der Referenzperiode 2016 bis 2019 wäre die Reform im Durchschnitt aller Kantone verteilungsneutral gewesen. Doch schon auf der Basis der Kosten von 2022 hätten die Prämienzahler per saldo profitiert. Bis 2028, dem vorgesehenen Jahr der Einführung des neuen Finanzierungsschlüssels für ambulant und stationär, könnte die jährliche Entlastung für die Prämienzahler laut groben Abschätzungen etwa 1 bis 2 Milliarden Franken ausmachen.

Hinzu kommt ein politischer Effekt der Reform. Ist ein einheitlicher Finanzierungsschlüssel einmal beschlossen, dürfte es nur eine Frage der Zeit sein, bis Vorstösse zur Erhöhung des Kostenanteils der Steuerzahler kommen werden.

In beiden Parlamentskammern gab es grosse Mehrheiten für die Reform. Im Nationalrat waren die Mitte, die FDP und die Grünliberalen klar dafür. Für die Vorlage stimmten auch rund zwei Drittel der SVP-Exponenten und etwa die Hälfte der linken Vertreter. Auch die grosse Mehrheit der Kantone und eine breite Koalition im Gesundheitswesen, unter anderem mit den Verbänden von Ärzten, Spitälern, Krankenkassen und Spitex-Organisationen, unterstützen die Vorlage. Laut den Befürwortern wird die Reform durch die Linderung von Fehlanreizen unnötige Hospitalisierungen verringern, den Kostenanstieg im Gesundheitswesen und die Erhöhung der Krankenkassenprämien bremsen. Mit der Förderung des Trends von stationären zu ambulanten Eingriffen werde die Reform auch die Personalknappheit der Spitäler lindern.

Gegen die Vorlage kämpfen vor allem die Gewerkschaften. Die Gegner sagen, dass die Reform zu höheren Krankenkassenprämien führe, weil neu auch die Pflege im Finanzierungsschlüssel integriert sei. Die Pflegekosten wachsen prozentual relativ stark und dürften künftig wegen der Umsetzung der vom Volk angenommenen Pflegeinitiative noch stärker zunehmen. Gleichzeitig sagen die Gegner, dass das Pflegepersonal durch die Reform stärker unter Druck kommen werde. Zudem werde der Einfluss der Krankenkassen gestärkt, da diese künftig auch bei den Tarifverhandlungen für die Pflege beteiligt seien. Die Gegner sagen auch, dass die von den Befürwortern erhoffte Linderung der Fehlanreize der Krankenkassen keine wesentlichen Kosteneinsparungen bringen werde, weil die Entscheide über ambulante oder stationäre Eingriffe bei den Ärzten lägen.

Der Verband des Pflegepersonals hat keine klare Position bezogen und Stimmfreigabe beschlossen.

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