An den Börsen finden Präferenzverschiebungen statt, bisherige «Darlings» werden abgestraft. Die Zinskurve in den USA könnte möglicherweise schon bald ein entscheidendes Signal geben. Zudem: Peking enttäuscht.
«When the facts change, I change my mind. What do you do, Sir?»
John Maynard Keynes, Brit. Ökonom (1883–1946)
Die Finanzmärkte durchlaufen einen Findungsprozess. Die Korrektur der zuvor heissgelaufenen amerikanischen Technologiegiganten setzt sich fort; der Index der «Magnificent Seven» – Microsoft, Apple, Nvidia, Alphabet, Amazon, Meta und Tesla – hat seit seinem Höhepunkt am 10. Juli knapp 13% verloren.
Im gleichen Zeitraum hat der Russell-2000-Index der kleinkapitalisierten US-Werte mehr als 8% zugelegt.
Auch andere Börsenlieblinge haben herbe Einbussen erlitten. Die beiden bisherigen Stars der Pharmabranche, Novo Nordisk und Eli Lilly, deren Potenzial mit Abnehmpräparaten keine Grenzen zu kennen schien, stehen gegenwärtig auf der Verliererseite. Die zuvor vernachlässigten Vertreter des Pharmasektors, besonders Roche, melden sich eindrücklich zurück.
Die im Frühjahr aufgekeimten Hoffnungen, die Weltwirtschaft könnte in einen sanften Aufschwung treten, werden derweil enttäuscht. Chinas Regierung verpasst die Chance, der heimischen Konjunktur einen Schub zu geben. Der Einkaufsmanagerindex des Industriesektors in Deutschland ist im Juli gemäss vorläufigen Zahlen überraschend deutlich auf 42,6 und damit tief in den kontraktiven Bereich gesunken. Auch der gestern Donnerstag publizierte Ifo-Geschäftsklimaindex enttäuschte die Erwartungen. Deutschlands Wirtschaft kommt nicht vom Fleck.
Der Kupferpreis spiegelt das Bild einer abermals nachlassenden Dynamik in der Weltwirtschaft.
Schliesslich hält auch die Präsidentschaftswahl in den USA die Märkte in Atem. «Dreieinhalb Monate sind für den Wahlkampfzirkus eine Ewigkeit», schrieben wir vor einer Woche an dieser Stelle. Fürwahr: Am Sonntagabend gab Präsident Joe Biden seinen Rücktritt aus dem Rennen und seine Unterstützung für Vizepräsidentin Kamala Harris bekannt. An den Wettbörsen liegt Donald Trump zwar noch vorn, doch das Momentum, das er nach der ersten TV-Debatte gegen Biden von Ende Juni sowie nach dem Attentat vom 13. Juli aufgebaut hatte, lässt nach.
Kommende Woche wird eine Art Superwoche für die Börsen: Am Mittwoch geben die US-Notenbank (Fed) sowie die Bank of Japan ihren Zinsentscheid bekannt. Am Freitag folgt in den USA sodann der vielbeachtete monatliche Arbeitsmarktbericht.
Wir versuchen uns im dieswöchigen «Big Picture» an einer Bestandesaufnahme der wichtigsten Entwicklungen.
«Die Fakten haben sich geändert, also habe ich meine Meinung geändert. Das Fed sollte die Zinsen senken, am besten bereits an der nächsten Sitzung von Ende Juli»: Diese Zeilen schrieb Bill Dudley, der frühere Präsident der Distriktnotenbank New York, diese Woche in seiner Kolumne für Bloomberg und paraphrasierte dabei ein historisch nicht verbürgtes Zitat, das wahlweise John Maynard Keynes, Winston Churchill oder dem US-Ökonomen Paul Samuelson zugeordnet wird.
Dudleys Worte haben Gewicht. Während seiner Zeit bei der Federal Reserve Bank of New York (2009–2018) zählte er zu den einflussreichsten Notenbankern, und vor drei Jahren hatte er früh eine härtere Geldpolitik gefordert, weil Fed-Chef Jerome Powell seiner Ansicht nach die Inflationsgefahr unterschätzte. Dudley zählte sich zum «Higher for Longer»-Lager, das die Zinsen für längere Zeit auf höherem Niveau sehen wollte.
Seine Kehrtwende fällt deshalb auf. Dudley warnt, der US-Wirtschaft könnte im zweiten Halbjahr eine abrupte Schwäche drohen, falls sich der Arbeitsmarkt zu rasch abkühlt. Der Zeitpunkt überrascht auf dem ersten Blick, zumal die US-Wirtschaft im zweiten Quartal mit 2,8% auf annualisierter Basis schneller gewachsen ist als im ersten Quartal (1,4%) und die Erwartungen übertroffen hat.
Dudley argumentiert bei seiner Warnung mit dem von der früheren Fed-Ökonomin Claudia Sahm entwickelten Sahm-Indikator, der besagt, dass eine Rezession der US-Wirtschaft Tatsache ist, wenn der Dreimonats-Durchschnitt der Arbeitslosenrate ab dem Tiefstwert der letzten zwölf Monate um mindestens 0,5 Prozentpunkte gestiegen ist.
Mit Stand per Ende Juni sind es 0,43 Prozentpunkte. Auch deshalb werden die Märkte gespannt auf den Arbeitsmarktbericht vom 2. August warten. Sollte die Arbeitslosenquote (Juni: 4,1%) im Juli abermals gestiegen sein, wäre das Sahm-Signal ausgelöst.
Leserinnen und Leser dieser Zeilen wissen: Wir verzichten auf Makro-Prognosen und halten uns lieber an die Maxime von Stanley Druckenmiller. «Der beste Ökonom, den ich kenne, sitzt im Inneren des Aktienmarktes», pflegt die Hedge-Fund-Ikone zu sagen.
Der Aktienmarkt sendet zweideutige Signale. So ist beispielsweise zu beobachten, dass der Sektor Basiskonsum (Konsumgüter für den täglichen Gebrauch) relativ zum Sektor zyklischer Konsum seit Ende Juni an Stärke gewonnen hat. Weil Basiskonsum als konjunkturresistent gilt, steigt der Sektor in der Gunst der Investoren, wenn eine Abkühlung der Wirtschaft droht. (Das gilt derzeit leider nicht für alle Vertreter des Sektors, Nestlé hat mit der gesenkten Wachstumsprognose für 2024 herb enttäuscht).
Auch die jüngsten Kursgewinne der ebenfalls defensiven Sektoren Gesundheit und Versorger sprechen für dieses Muster. Dass sich die Börsen mit dem Szenario einer harten Landung auseinandersetzen, zeigt überdies die Aktienperformance von Visa und Mastercard.
Auf der anderen Seite zeigen aber auch zyklische Sektoren wie Finanzen und – in geringerem Ausmass – Industrie relativ betrachtet Stärke. Die Erholung des normalerweise besonders konjunktursensitiven Russell 2000 spricht ebenfalls gegen eine unmittelbar drohende Abkühlung.
Findungsprozess ist der Begriff, der das Bild an den Börsen am besten beschreibt.
Insofern wäre es höchst überraschend, wenn Fed-Chef Powell am kommenden Mittwoch der Forderung von Dudley folgen und eine Zinssenkung beschliessen würde. Die Terminmärkte erwarten es nicht, und die Verantwortlichen im Fed-Offenmarktausschuss haben nichts dergleichen kommuniziert. Eine überraschende Zinssenkung würde von den Marktteilnehmern in diesem Kontext wohl eher als Anzeichen von Panik an der Spitze des Fed («die sehen etwas, das wir nicht sehen») interpretiert.
Für den Moment bleiben die Terminmärkte bei ihrer Erwartung, dass die erste Zinssenkung an der übernächsten Fed-Sitzung vom 18. September beschlossen wird.
Unbestritten aber ist, dass mit der Aussicht auf baldige Zinssenkungen die eigentlich kritische Phase für die Börsen beginnt. Wie der Blick in die Historie zeigt, ereigneten sich Rezessionen in der Regel erst, nachdem das Fed begonnen hatte, die Zinsen zu senken.
Auch hier: Wir wollen nicht prognostizieren, wann und in welchem Umfang das Fed die Zinsen senken wird. Es wird jedoch wichtig sein, die Zinskurve im Auge zu behalten, da sie ein entscheidendes Signal geben könnte.
Die Zinskurve – wir benutzen als Definition die Renditedifferenz zwischen zwei- und zehnjährigen Treasury Notes – liegt seit nunmehr zwei Jahren in einer Inversion. Das heisst, kurzfristige (zweijährige) Treasuries werden höher verzinst als zehnjährige. Das ist die längste und tiefste Inversion der Zinskurve seit mindestens 35 Jahren.
Dabei fällt auf, dass die Inversion gegenwärtig möglicherweise kurz vor einer Auflösung steht. Das heisst, die Zinskurve könnte in ihren «Normalzustand» zurückkehren, in dem die langfristigen Zinsen höher liegen als die kurzfristigen. Das ist wichtig, denn wie die oben abgebildete Grafik zeigt, ist es nicht die Inversion per se, die eine kommende Rezession ankündigt, sondern der Moment, an dem die Zinskurve plötzlich steiler wird und aus der Inversion tritt.
Man spricht in diesem Zusammenhang von einem Bull Steepener, der dann eintritt, wenn die Rendite zweijähriger Treasuries rasch fällt, weil die Märkte baldige, deutliche Zinssenkungen des Fed einpreisen.
Wir haben das Muster vor bald zwei Jahren in diesem Video beschrieben. Wir waren damit im Rückblick zwar hoffnungslos zu früh – die Robustheit der US-Wirtschaft war 2023 die grosse Überraschung für die Märkte –, doch die beschriebene Mechanik gilt weiterhin.
Es wird in den kommenden Monaten also spannend, sollte sich tatsächlich ein Bull Steepener ereignen und die Zinskurve aus ihrer Inversion treten.
Aber Achtung: Auf einem ähnlichen Niveau lag die Renditedifferenz zwischen zwei- und zehnjährigen Treasuries in den vergangenen zehn Monaten bereits zwei Mal; im Oktober 2023 und im Januar 2024.
Im Januar galt es an den Finanzmärkten als ausgemacht, dass die Inflation besiegt sei und das Fed bis Ende 2024 die Zinsen nicht weniger als sechs Mal senken würde. Es kam bekanntlich anders, und die Inflation zeigte sich noch drei weitere Monate überraschend zäh, wodurch die Erwartungen an baldige Zinssenkungen ad acta gelegt werden mussten und die Zinskurve nochmals tiefer in die Inversion fiel.
Auch hier gilt: Der Findungsprozess läuft.
Nicht nur das Fed fällt nächsten Mittwoch den Zinsentscheid, sondern auch die Bank of Japan (BoJ). An den Devisenmärkten bauen sich Erwartungen auf: Der Yen hat innerhalb der vergangenen zwei Wochen gegenüber dem Dollar rund 5% gewonnen.
Die Marktteilnehmer gehen davon aus, dass BoJ-Chef Kazuo Ueda eine weitere Erhöhung des Leitzinses verkünden wird. Die Rendite zehnjähriger japanischer Staatsanleihen (JGB) ist auf etwas mehr als 1,05% gestiegen. Damit ist die Renditedifferenz zu Treasuries mit gleicher Laufzeit zwar immer noch beträchtlich, aber sie ist immerhin um gut 60 Basispunkte geringer als noch vor drei Monaten.
Das liefert einen Teil der Erklärung, weshalb der Yen etwas Auftrieb verspürt. Die Lage bleibt allerdings fragil. Von besonderer Bedeutung wird sein, ob die BoJ eine deutliche Drosselung ihrer JGB-Käufe ankündigen wird, da dies den Weg für einen weiteren Anstieg der langfristigen Zinsen in Japan ebnen würde.
An der letzten Sitzung der BoJ von Mitte Juni hatte Ueda diesbezüglich enttäuscht, was wir als «Sankt Augustinus in Tokio» kommentiert haben. Wählt die BoJ am kommenden Mittwoch abermals einen sanften Kurs, könnte der Druck auf den Yen rasch wieder zunehmen.
«Ideologie steht in China jetzt klar über den Interessen der Wirtschaft», sagte Jörg Wuttke, ehemaliger Präsident der EU-Handelskammer in China, vor bald zwei Jahren im Interview.
Wer dafür noch eine Bestätigung brauchte, erhielt sie in der vergangenen Woche, als in Peking das sogenannte Dritte Plenum des Zentralkomitees der Kommunistischen Partei tagte. Das Plenum dient traditionellerweise dazu, die Wirtschaftspolitik der laufenden, fünfjährigen Regierungsperiode zu definieren und den langfristigen Kurs der Wirtschaftspolitik zu bestimmen.
Die Erwartungen an das letztwöchige Plenum waren gering – aber sie wurden noch unterboten.
Die publizierte Verlautbarung enthält die üblichen Floskeln zu den «New Quality Productive Forces» in der Wirtschaft, aber von marktfreundlichen Reformen oder von einer Stärkung des inländischen Konsums ist kaum die Rede. Auch der seit mehr als drei Jahren kriselnde Immobiliensektor wird nur am Rande erwähnt. Stattdessen wird der Stärkung der «nationalen Sicherheit» eine grosse Rolle eingeräumt. Jude Blanchette vom Center for Strategic & International Studies (CSIS) weist in einem Kurzkommentar darauf hin, dass mit diesem Begriff primär die Sicherheit des Parteiregimes gemeint sei.
Die Verlautbarung des Plenums erwähnt, dass die im Jahr 2013 gesetzten wirtschaftspolitischen Ziele erreicht worden seien – was reichlich sarkastisch klingt, zumal damals beschlossen worden war, dass die Märkte eine grössere Rolle in der Allokation der Ressourcen spielen und zwischen staatseigenen und privaten Unternehmen ein gesunder, fairer Wettbewerb spielen soll.
In den gut zehn Jahren, seit Xi Jinping quasi als Alleinherrscher die Geschicke Chinas führt, hat sich das Land eindeutig weg von diesen damals definierten Wirtschaftszielen bewegt.
Wie das letztwöchige Plenum zeigte, setzt die Parteiführung weiterhin auf die Stärkung des heimischen Industriesektors, um die Produktion zu maximieren und über Exporte zu wachsen. Doch dieses Modell stösst immer klarer an seine Grenzen. «Die Welt ist nicht mehr gewillt, die gigantische Überproduktion aus China zu absorbieren», sagt der seit mehr als zwanzig Jahren in Peking lehrende Ökonom Michael Pettis im Gespräch mit The Market. Die Intensität der Handelskonflikte zwischen China und dem Rest der Welt werde zunehmen.
Wie schwach Chinas Wirtschaft ist, zeigt sich an einem indirekten Indikator: Die Rendite zehnjähriger chinesischen Staatsanleihen ist mit 2,2% auf einen rekordniedrigen Wert gefallen. Eine grobe Faustregel sagt, dass sich das langfristige Zinsniveau im Gleichschritt mit dem nominalen Wirtschaftswachstum bewegt.
Zwar hat die People’s Bank of China zu Beginn der Woche überraschend die Leitzinsen um zehn Basispunkte gesenkt, aber das nützt kaum etwas. Das Wachstum der breiten Geldmenge M2 lässt weiter nach – ein Indiz, dass der Kreditschöpfungsmechanismus nicht anspringt.
Chinas Schwäche – in Kombination mit dem Unvermögen der Parteiführung, Schritte zur Stützung des inländischen Konsums in die Wege zu leiten – liefert einen wichtigen Teil der Erklärung, weshalb die Preise für Industriemetalle wie Kupfer, Aluminium oder Eisenerz seit Mai Schwäche zeigen. Das belastet an den Aktienmärkten auch Rohstoffkonzerne wie BHP, Rio Tinto, Glencore oder Vale.
Zum Schluss noch ein Blick auf den Goldpreis. Nach seinem Rekordlauf auf über 2460 $ je Unze ist der Preis des Edelmetalls in eine Konsolidierungsphase getreten.
Ein weit verbreitetes Argument für den Anstieg des Goldpreises in den vergangenen Monaten waren die Käufe aus Schwellenländern wie China und Indien. Die offiziell gemeldeten Goldbestände der Zentralbanken der BRICS-Staaten (Brasilien, Russland, Indien, China und Südafrika) sind in den vergangenen Jahren laufend gestiegen, wie Christopher Wood, Chefstratege des US-Brokerhauses Jefferies, nachrechnet.
Dabei besteht noch viel Raum nach oben, zumal die offiziellen Goldbestände Chinas nur 4,9% der gesamten Zentralbankreserven ausmachen. Im Fall Brasiliens und der Vereinigten Arabischen Emirate sind es nur 2,8%, Indien kommt immerhin auf 9,5%. Das ist aber nichts im Vergleich zu den USA und den Staaten der Eurozone.
Für langfristig weitere Goldnachfrage von offizieller Seite dürfte damit gesorgt sein. Kurzfristig betrachtet bereitet allerdings die private Goldnachfrage aus China Sorge. Die Juwelierskette Chow Tai Fook, deren Aktien in Hongkong gehandelt werden und deren Filialen in den Metropolen Chinas in jeder Einkaufsstrasse zu finden sind, berichtete im abgelaufenen Geschäftsquartal per Ende Juni von einem Einbruch der Nachfrage: Die Verkäufe sind auf vergleichbarer Basis auf dem Festland 26% eingebrochen, in Hongkong und Macau sogar 31%.
Die Prämie, zu der Gold in Schanghai im vergangenen Jahr im Vergleich zu den internationalen Preisen gehandelt wurde, hat sich zudem verflüchtigt.
Auch das ist ein Zeichen, dass die Konsumenten in China den Gürtel enger schnallen müssen. Leider scheint die Parteiführung in Peking keine bessere Antwort darauf zu haben, als eine Stärkung der «nationalen Sicherheit» zu propagieren.