Donnerstag, Januar 23

Elina Valtonen wehrt sich im Gespräch mit der NZZ gegen die Idee einer «Finnlandisierung» der Ukraine. Sie warnt davor, dass sich die russische Aggression gegen alle europäischen Länder richte.

Finnland teilt mit Russland eine 1430 Kilometer lange Aussengrenze des Schengenraums und eine bewegte Geschichte. Zum Ende des hart geführten Winterkriegs rettete das Land seine Souveränität, indem es 1940 in einen Friedensvertrag mit Stalin einwilligte, der Gebietsabtretungen und eine starke Einschränkung der aussenpolitischen Souveränität umfasste. Dafür konnte es sich wirtschaftlich in Westeuropa integrieren.

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Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion beschlossen die Finnen bald, der EU beizutreten. Nach dem Überfall der Russen auf die Ukraine entschieden sie sich, ihre Neutralität ganz aufzugeben und der Nato beizutreten.

Im Gespräch erläutert die finnische Aussenministerin Elina Valtonen, wieso die Finnen davon überzeugt sind, dass Europa jetzt Putin dezidiert und geeint Widerstand leisten und die Ukraine unterstützen muss. Und sie erklärt, wie sich ihrer Ansicht nach die EU weiterentwickeln sollte.

Frau Aussenministerin, Sie sind als Kind in Deutschland aufgewachsen. Die Haltung vieler Deutscher gegenüber Russland unterscheidet sich stark von derjenigen der Finnen. Wie erklären Sie sich das?

Im Grossen und Ganzen denken wir sehr ähnlich. Wir schätzen die Demokratie, freie Wahlen, eine transparente Marktwirtschaft, Menschenrechte und den Rechtsstaat. Und genau das steht eben durch die Aggression Russlands auf dem Spiel.

Während die Finnen schon früh zur Vorsicht mahnten, versuchten viele Deutsche mit Russland Freundschaft zu schliessen.

Das war teilweise auch die finnische Haltung, das wollten wir alle in Europa. Aber gleichzeitig haben wir in Finnland immer aufgerüstet. Wir wussten, dass man nie weiss, was kommt, und dass wir selber verteidigungsfähig sein müssen.

Finnland galt früher vielen als der Staat, der Russland am besten versteht.

Wir haben unsere eigenen Erfahrungen. Wir mussten uns in unserer Geschichte mehrmals gegen die russische Aggression verteidigen. Anders als unsere baltischen Freunde waren wir zum Glück nie Teil der Sowjetunion. Wir konnten in einer freien Marktwirtschaft und Demokratie leben, sie nicht. Estland war einst ein reicheres Land als Finnland, dann wurden im Baltikum zu Sowjetzeiten Hunderttausende von Menschen verschleppt. Freiheit, Demokratie, und Wohlstand, all die Werte, die ich eingangs erwähnt habe, sind nicht selbstverständlich. Wir wissen sie zu schätzen. Es kommt nicht von ungefähr, dass Finnland schon mehrmals als das glücklichste Land der Welt ausgezeichnet wurde.

Deshalb haben Sie auch eine andere Einstellung zu Russland?

Und zum Frieden. Für uns bedeutet das, dass wir uns frei entwickeln konnten. Hinter dem Eisernen Vorhang war das anders. Frieden und Freiheit sind nicht selbstverständlich, man muss sie verteidigen. Deutschland hat natürlich historisch eine besondere Verantwortung. Ich finde es toll, wie die Geschichte in Deutschland aufgearbeitet worden ist. In der Schule haben wir das damals jedes Jahr thematisiert.

Am Dienstag hat der ukrainische Präsident Wolodimir Selenski hier am WEF eine Europarede gehalten und den Europäern vorgehalten, dass sich alles um die USA drehe und Europa selbst kaum eine Rolle spiele. Sollte der Machtwechsel in den USA für die EU ein Weckruf sein?

Ich fand das eine ganz tolle Europarede. Natürlich, wir müssen uns ertüchtigen.

Woran fehlt es?

Erstens müssen wir wettbewerbsfähiger werden. Wir müssen den Binnenmarkt stärken, sonst verlieren wir die klügsten und besten Köpfe. Wir Finnen hatten nie Erdöl und Erdgas, wir wissen, dass Bildung der wichtigste Rohstoff ist. Das hat uns erlaubt, technologisch so fortschrittlich zu werden; ich bin übrigens auch eine Informatikerin. Zweitens müssen wir uns selber verteidigen können, da hat Trump recht, da müssen wir mehr leisten. Europa muss so aufrüsten, dass wir eine glaubwürdige Abschreckung haben und Krieg vermeiden können, statt ihn führen zu müssen. Und drittens sollten wir auf Freihandel setzen und uns mit unseren Freunden jenseits des Atlantiks keinen Handelskrieg liefern, das sagen wir ihnen auch.

In der EU gibt es rund um Ungarn einen Block, der zu einer Schaukelpolitik mit Russland tendiert. Erodiert Europa, statt stärker zu werden?

In Demokratien hat man unterschiedliche Meinungen und muss die bestehenden Zustände kritisieren können. Das muss die Politik nicht nur dulden, sie sollte von der Kritik auch lernen. Vielfach ist diese ja auch sehr berechtigt. Wir brauchen zum Beispiel in Europa unbedingt ganz viel Bürokratieabbau, wir können uns das nicht mehr leisten. Aber die Veränderungen müssen über die demokratischen Institutionen initiiert werden, dazu muss Sorge getragen werden.

Geopolitisch spielt Europa auch eine untergeordnete Rolle, weil seine Entscheidprozesse so umständlich sind. Sollte man das Einstimmigkeitsprinzip stärker aufweichen?

In der Aussen- und der Sicherheitspolitik hat es sich gezeigt, dass es sehr schwierig ist, schnell und agil auf Geschehnisse in der Welt zu reagieren, wenn wir zuerst Einstimmigkeit erzielen müssen. Finnland ist offen dafür, die Union funktionsfähiger zu machen, indem wir nicht mehr in allen Fragen völligen Konsens zwischen allen Staaten voraussetzen. Das gilt erst recht, weil die EU ja weitere Mitglieder inklusive der Ukraine aufnehmen will und aus immer mehr Staaten besteht. Vielleicht stösst ja auch Ihr Land einmal dazu.

Sie würden sich wünschen, dass die Schweiz der EU beitritt?

Das müssen die Schweizerinnen und Schweizer natürlich selbst entscheiden, aber als Finnin fände ich das toll.

Aber hätte man den Krieg in der Ukraine nicht vermeiden können, wenn man stärker auf die Forderungen Putins eingegangen wäre?

Desinformation bekämpft man am besten durch Aufklärung. Was Russland angeht, müssen wir den Menschen einfach besser erklären, worum es geht.

Worum geht es?

Die Ukraine war neutral. Sie hatte keine Truppen, die in Russland einmarschieren wollten. Russland kam über die Grenze. Auch die Erzählung, dass die Nato Russland eingeschränkt habe und bedrohe, ist falsch. Erstens ist die Nato ein Verteidigungsbündnis. Finnland hat Russland nie bedroht, nicht vor und nicht nach dem Nato-Beitritt. Wir wollen einfach, dass Russland auf seiner Seite der Grenze bleibt und das Völkerrecht respektiert. Zweitens erweitert sich die Nato nicht durch Gewalt, wie das jetzt Russland tut. Die Nato wird grösser, weil sich Männer und Frauen aus eigenem Willen dazu entscheiden, sich dem Verteidigungsbündnis anzuschliessen. Das war in Finnland und Schweden so – nicht weil wir Russland bedrohen wollen. Wir laden Russland dazu ein, wieder auf die völkerrechtlichen Verträge zu setzen, die Russland früher selber unterzeichnet hat.

Der neue amerikanische Präsident scheint in Einflusssphären zu denken und hat Interesse am Panamakanal und an Grönland geltend gemacht. In welcher Einflusssphäre sehen Sie die Ukraine?

Ich akzeptiere das Konzept von Einflusssphären nicht und zweifle nicht daran, dass Amerika trotz diesen Aussagen des neuen Präsidenten versteht, dass das internationale Recht gelten muss. Im internationalen Recht gibt es keine Einflusssphären.

Wie soll sich Europa auf mehr amerikanischen Druck auf Grönland vorbereiten?

Das Völkerrecht sagt klipp und klar, dass Grönland Teil Dänemarks ist. Dänemark und Grönland müssen selbst entscheiden. Wir versuchen den USA auch klarzumachen, welch krasses Signal sie an Länder aussenden würden, mit denen sich Amerika nicht so gut versteht, wenn sie sich selber nicht mehr ans Völkerrecht hielten.

In Nordosteuropa – in Polen, Skandinavien, den baltischen Staaten und Grossbritannien – wird laut über eine Koalition der Willigen nachgedacht, die die Ukraine notfalls auch ohne die USA gegen Russland verteidigen will. Wie realistisch ist das?

Ganz Europa muss militärisch stärker werden. Das war die amerikanische Botschaft schon vor Trump, und das ist auch die finnische Botschaft an die europäischen Partner. Wir geben längst zwei Prozent des Bruttoinlandprodukts für die Verteidigung aus. Zudem haben wir die allgemeine Wehrpflicht, was wir nicht in die Berechnung einbeziehen. Wir haben keine Angst um uns. Aber was die Werte angeht, sitzen wir wirklich alle im gleichen Boot. Wir müssen die Ukraine alle gemeinsam verteidigen.

Programmiererin, Investmentbankerin und Politikerin

pfi. Die 43-jährige finnische Aussenministerin hat nicht viel Zeit, aber eine klare Botschaft. Ohne Umschweife beginnt sie in fliessendem Deutsch rasch zu reden, als wir sie am WEF in Davos zum Gespräch treffen. Elina Valtonen wurde in Helsinki geboren. Danach lebte sie, bis sie 13 Jahre alt war, mit ihrer Familie in Bonn. Nach ihrer Rückkehr nach Finnland besuchte sie die Deutsche Schule in Helsinki. In der finnischen Hauptstadt studierte sie an der Helsinki University of Technology Informatik und an der Helsinki School of Economics Wirtschaftswissenschaften. An beiden Orten schloss sie mit einem Master ab. Valtonen war zehn Jahre lang im Investment Banking tätig, bevor sie 2013/14 die Leitung der marktwirtschaftlich-liberalen Denkfabrik Libera übernahm, deren Vorstand sie danach noch bis 2021 präsidierte. 2014 wurde Valtonen Parlamentsmitglied für die konservative finnische Sammlungspartei, zu deren stellvertretender Vorsitzender sie 2020 gewählt wurde. Seit Juni 2023 wirkt sie im Kabinett von Petteri Orpo als Aussenministerin.

In der Ostsee haben die hybriden Angriffe Russlands zugenommen. Am Weihnachtstag durchsuchten die finnischen Behörden einen russischen Frachter. Rechnen Sie damit, dass es zu einer direkten Konfrontation der Nato mit Russland kommt?

Wir haben zusammen mit unseren Partnern Listen zusammengestellt, die zeigen, dass eigentlich alle Länder Europas von der russischen Aggression betroffen sind: Es gibt Desinformation, Cyberangriffe, Sabotage, Vergiftungen – alles Mögliche.

Also hat Selenski recht, wenn er sagt, es gehe nicht nur um die Ukraine?

Es geht nicht nur um die Ukraine! Auch deshalb müssen wir uns dafür einsetzen, dass die Ukraine einen gerechten Frieden bekommt.

Finnland musste nach dem Winterkrieg etwa sieben Prozent seines Territoriums an Russland abtreten und den Verlust aussenpolitischer Souveränität hinnehmen, konnte sich dafür aber wirtschaftlich im Westen integrieren. Wäre eine solche «Finnlandisierung» keine Lösung für die Ukraine?

Man kann die Zeit des Zweiten Weltkriegs nicht mit heute vergleichen: Das war eine Zeit vor der Uno-Charta. Eine solche Lösung würde bedeuten, dass wir wieder im Jahr 1940 sind, also in einer Zeit ohne Völkerrecht. Das hätte massive Konsequenzen für die ganze Welt, wenn wir jetzt einfach schnell eine bequeme Lösung suchten. Wollen wir wirklich einem Autokraten geben, was er will? Am Ende geht es um die Menschen. Die Menschen in der Ukraine wollen eine europäische Zukunft.

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