Bangladeshs Studenten haben die Autokratin Sheikh Hasina gestürzt, nun wollen sie eine grundlegende Reform des Systems. Doch sechs Monate nach dem Umsturz bröckelt ihr Rückhalt, und der Ruf nach Neuwahlen wird lauter.
Asif Mahmud ist ein gefragter Mann. Der 26-Jährige eilt von Termin zu Termin, seit er nach dem Sturz der Autokratin Sheikh Hasina als Minister für Jugend, Sport und ländliche Entwicklung in die Interimsregierung berufen worden ist. Als er mit zweistündiger Verspätung in Dhaka zum Interview empfängt, kommt er gerade von einem Treffen mit einem verbündeten Studentenführer. Trotz seinen neuen Würden trägt er T-Shirt, Sneakers und Lederjacke. Doch sprechen tut Mahmud bereits wie ein erfahrener Politiker.
«Wir haben fünfzehn Jahre ohne freie Wahlen unter einer faschistischen Regierung gelebt. Alle unsere staatlichen Institutionen sind kaputt und korrumpiert», sagt Mahmud in dem halbleeren Büro im Rathaus von Dhaka, in dem er vorübergehend Quartier bezogen hat. «Diese Regierung wurde mit einer klaren Agenda gebildet, und ganz oben steht die Reform des Systems.» Andernfalls, so fürchtet er, könnte das Land leicht in die alten autoritären Praktiken zurückfallen.
Die Polizei, die Gerichte, die Verfassung – alles müsse reformiert werden, sagt der junge Mann, der im Sommer an der Spitze der Proteste stand, die zum Sturz von Hasina geführt haben. Nur knapp entkam er damals dem Schicksal anderer Regimegegner, die in den Geheimgefängnissen Hasinas verschwanden. Nun ist er einer von drei Vertretern der Studenten in der Interimsregierung, die der Friedensnobelpreisträger Muhammad Yunus im August gebildet hat.
Doch die Zeiten, als die Studenten als Helden der Nation gefeiert wurden, sind vorbei. Knapp sechs Monate nach dem Triumph des Volksaufstands droht die Stimmung in der Bevölkerung zu kippen.
Die Macht im Land wird neu verteilt
«Für die Interimsregierung sind die Flitterwochen zu Ende», sagt der Politikanalyst Parvez Karim Abbasi bei einem Tee im chaotischen und chronisch verstopften Stadtzentrum von Dhaka. Ihre Unfähigkeit, Recht und Ordnung durchzusetzen und die Wirtschaft wieder in Schwung zu bringen, koste sie zunehmend Rückhalt. Die meisten Geschäftsleute investierten nicht, solange es keine gewählte, stabile Regierung gebe. Die Inflation bleibe hoch und die Finanzlage prekär, sagt der Ökonom von der East West University in Dhaka.
Der Sturz Hasinas hat ein Machtvakuum hinterlassen, das die Interimsregierung nur bedingt hat füllen können. Bangladesh befindet sich in einer heiklen Übergangsphase. Posten, Geld und Macht im Land werden neu verteilt. Die mafiösen Strukturen, welche die Awami League kontrolliert hatte, gehen in neue Hände über. Viele führende Politiker, Funktionäre und Geschäftsleute aus dem Umfeld des Regimes sind abgetaucht oder wegen drohender Klagen ins Ausland geflohen.
Rund 40 Prozent der Polizisten sind nach dem Sturz Hasinas nicht mehr zum Dienst erschienen. Sie fürchten Racheakte, nachdem sie in den finalen Wochen des Regimes mehr als 850 Menschen erschossen haben. Anstelle der Polizisten regeln nun Freiwillige in gelben Warnwesten den Verkehr im Stadtzentrum. Dort kommt es regelmässig zu riesigen Staus, da auf der Shahbagh-Kreuzung vor der Uni praktisch täglich irgendeine Interessengruppe einen Sitzstreik abhält.
Das Vertrauen in die Interimsregierung ist erschüttert
Rund um den Campus sind die Mauern noch voll von Slogans und Malereien, die den Sieg der «Revolution» feiern und an die «Märtyrer» der Bewegung erinnern. Doch bei den Studenten ist Ernüchterung eingekehrt. «Die Regierung hat unsere Erwartungen nicht erfüllt», sagt Armanul Hoque bei einem Treffen auf dem Campus. Der 27-jährige Vorsitzende des Studentenverbands der Universität Dhaka findet es falsch, dass Mahmud und die beiden anderen Studentenvertreter der Regierung beigetreten sind. «Sie hätten lieber von aussen Druck machen sollen. Wir vertrauen ihnen nicht mehr», sagt Hoque.
Selbst die engsten Unterstützer der Regierung werden inzwischen ungeduldig. «Hasina ist ins Ausland geflohen, doch das System ist geblieben», sagt Monira Sharmin, die Co-Vorsitzende des Jatiya Nagorik Committee, das im September von den Studenten als Plattform gegründet worden ist, um die Reformagenda der Regierung zu unterstützen. «Die drei Vertreter der Studenten tun ihr Bestes, aber wir würden uns wünschen, dass die Regierung proaktiver handelt.»
Der Ökonom Abbasi sieht zumindest einen Teil der Schuld bei der Interimsregierung. Besonders die drei Vertreter der Studenten hätten mit ihrer Forderung nach einer kompletten Reform des Systems Erwartungen geweckt, die sie nicht erfüllen könnten, sagt er. Nun führe der Mangel an Fortschritten zu Frustrationen an der Basis. Viele ihrer früheren Anhänger fühlten sich verraten und beschuldigten die Studentenführer, nur ihren eigenen Vorteil zu suchen.
Die Opposition hofft auf eine Rückkehr an die Macht
Für die Interimsregierung ist das ein Problem, denn die Unterstützung der Studenten war bisher ihre stärkste Legitimation. Ihr Mandat zur Reform basiert in erster Linie auf dem Rückhalt der Protestbewegung, die im Sommer für ein gerechteres, besseres Bangladesh auf die Strasse gegangen ist. Die Regierung argumentiert, ohne grundlegende Reformen wären die Opfer, welche die Demonstranten im Kampf gegen die Autokratie erbracht hätten, vergebens gewesen. Und für die Reform des Systems brauche sie mehr Zeit.
Die Opposition ist aber nicht bereit, ihr mehr Zeit zu geben. Besonders die Bangladesh Nationalist Party (BNP) fordert rasch Neuwahlen. Die Partei von Khaleda Zia, die zwischen 1991 und 2006 zwei Mal Premierministerin war, hofft nach dem Sturz ihrer Rivalin, wieder an die Macht zu kommen. Obwohl die Regierungszeit der BNP auch nicht gerade frei von Korruption und autoritären Tendenzen war, stehen ihre Chancen auf eine Rückkehr an die Macht gut.
Dies liegt in erster Linie daran, dass die Awami League gründlich diskreditiert ist durch die Brutalität, mit der sie im Sommer gegen die Proteste vorgegangen ist. Seit Hasinas Sturz ist zudem klargeworden, in welchem Ausmass ihre Partei den Staat ausgeplündert hat und wie skrupellos sie ihre politischen Gegner verfolgt, gefoltert und ermordet hat. Hasina lebt heute in Indien im Exil. An eine Rückkehr nach Bangladesh ist bis auf weiteres nicht zu denken.
Düstere Erinnerungen an die Repression unter Hasina
Doch auch die Studentenbewegung hat ihren Glanz verloren. «Einige Studentenführer verhalten sich wie Maos Rote Garden, wenn sie ihre Kritiker beschuldigen, Unterstützer des faschistischen Regimes zu sein», kritisiert der Ökonom Abbasi. Das sei der gleiche Tonfall wie unter Hasina. Viele Beamten und Polizisten fänden es unfair, dass sie dafür attackiert würden, dass sie nur ihren Job gemacht hätten. Inzwischen gehe vielen Bürgern der Eifer zu weit, mit dem unter der Interimsregierung die Vertreter des alten Regimes verfolgt würden.
Auch Human Rights Watch (HRW) kritisiert in einem neuen Bericht, dass einige der repressiven Praktiken, die man von Hasina kannte, wieder auflebten. Statt Angehörige der Opposition treffe es nun Funktionäre der Awami League sowie Geschäftsleute und Journalisten aus ihrem Umfeld. HRW mahnt, die Justiz müsse die Verantwortlichen von schweren Menschenrechtsverstössen zur Rechenschaft ziehen, aber das Recht auf ein faires Verfahren und die Unschuldsvermutung achten.
Der Bericht zeigt, dass die repressiven Reflexe in Polizei und Justiz weiter lebendig sind. Beide Institutionen waren unter Hasina extrem politisiert. Wichtige Urteile wurden nicht gefällt, ohne vorher die Meinung der Premierministerin einzuholen. Über die Freilassung prominenter Oppositioneller entschied Hasina meist persönlich. Ein neues Gesetz soll nun sicherstellen, dass die Richter wieder nach Qualifikation und nicht nach politischer Loyalität ernannt werden.
Die Studenten wollen eine gänzlich neue Verfassung
Im Januar haben zudem die ersten vier Kommissionen, die Yunus im Sommer mit der Ausarbeitung von Reformvorschlägen beauftragt hatte, ihre Berichte vorgelegt. Die Arbeitsgruppe zur Reform der Verfassung schlug vor, die Amtszeiten des Premierministers auf zwei Mal vier Jahre zu begrenzen, eine zweite Parlamentskammer zu schaffen und vor Wahlen jeweils eine Interimsregierung einzusetzen. Vertretern der Studentenbewegung geht dies aber nicht weit genug.
«Wir fordern die Abschaffung der bisherigen Verfassung und die Wahl einer konstituierenden Versammlung, um eine neue Verfassung zu schreiben», sagt Monira Sharmin, die Co-Vorsitzende des Jatiya Nagorik Committee. Nur mit einer neuen Verfassung könne sichergestellt werden, dass die Reformen von Dauer seien. Werde die bestehende Verfassung lediglich angepasst, könnten die Änderungen nach den nächsten Wahlen leicht rückgängig gemacht werden, fürchtet sie.
Die BNP und andere Parteien lehnen es aber ab, die Verfassung neu zu schreiben. Asif Mahmud, der junge Minister, muss daher versuchen, die Forderungen seiner Basis mit dem politisch Möglichen in Einklang zu bringen. «Wir glauben, dass es einige tiefgreifende Änderungen der Verfassung geben muss», sagt er bei dem Interview in seinem Büro vorsichtig. Die vorgeschlagenen Reformen basierten auf den Ideen, welche die Bürger während des Konsultationsprozesses eingebracht hätten. Es bleibe aber die Frage, was davon umgesetzt werden könne.
Der Einfluss des Militärs auf die Politik wächst
Sechs Monate nach dem Umsturz ist die Regierung an einem heiklen Punkt. «Wir haben die Autokratie gestürzt, aber die Demokratie noch nicht erreicht», sagt Abbasi. Es bestehe die Gefahr, dass sich die Leute aus Frustration über die politische Instabilität und die wirtschaftliche Stagnation nach dem früheren Regime zurücksehnten oder nach dem Militär riefen. Zwar zeige die Armee bis jetzt kein Interesse daran, mitten in der Wirtschaftskrise selbst die Regierungsverantwortung zu übernehmen. Angesichts seiner schwindenden Popularität sei Yunus aber zunehmend auf die Generäle angewiesen.
Ob es unter diesen Umständen gelingt, die angestrebten Reformen durchzusetzen, ist ungewiss. Auch Asif Mahmud ist unzufrieden mit der bisherigen Bilanz der Regierung. Er findet, dass sie mehr hätte erreichen können. Von Wahlen ohne vorherige Reformen hält er aber weiter nichts. «Der Zeitplan der Wahlen hängt vom Fortschritt der Reformen ab», sagt er bestimmt. «Je schneller die Reformen abgeschlossen sind, desto früher können Wahlen organisiert werden.»
Der 26-Jährige ist überzeugt, dass es eine neue politische Kultur und einen Generationenwechsel braucht. «Nur wenn sich gute Leute in der Politik engagieren, werden wir die Früchte der Revolution ernten», sagt er, bevor er die Treppen des Rathauses hinabeilt und in einer wartenden Limousine zum nächsten Termin aufbricht. «Wenn die gleichen alten Politiker an der Macht bleiben, wird sich nichts ändern in Bangladesh, und die Reformen werden keinen Bestand haben.»
Mitarbeit: Rashad Ahamad