Der Staat fördert die Kultur, was gut und recht ist. Aber es gibt keine Staatsgarantie für die Kunst. Der Wettbewerb um Fördergelder stärkt das System.
Im vergangenen Mai fand in der österreichischen Hauptstadt eine Revolution statt. Die Wiener Festwochen erklärten sich unter ihrem neuen Intendanten, dem Schweizer Regisseur Milo Rau, zur «Freien Republik Wien». Das war vermutlich den meisten Wienern wurscht. Die Revolution wird, obwohl sie nicht nur theatralisch gemeint ist, für die Wiener überschaubare Folgen haben. Und für den Rest der Welt auch.
Dennoch lohnt sich ein Blick in den Verfassungstext dieser Freien Republik, der einen Monat später unter dem Namen «Wiener Erklärung» veröffentlicht wurde. Darin sollen zwei Fragen beantwortet werden: «Welche Kunst braucht unsere Zeit? Und wie kann ein Festival seine gesellschaftspolitischen Ziele radikal umsetzen?»
Es sind ehrenwerte Fragen und Anliegen. Sie muten nur leider etwas grössenwahnsinnig an. Und die Republiksgründer scheinen sehr revolutionär gestimmt zu sein, wenn hier mit der Kunst «gesellschaftspolitische Ziele» nicht weniger als «radikal» umgesetzt werden sollen. Das ist zum Fürchten – und zum Lachen.
Die Erklärung formuliert sodann zehn Punkte, von denen einige nichts anderes als Gemeinplätze sind: «Wir bekennen uns zu einem respektvollen Arbeitsumfeld und gegen jede Form von Diskriminierung und Gewalt untereinander – vor, auf und hinter der Bühne.» Wer möchte widersprechen? Es gibt Punkte, die vermutlich selbst die Verfasser nicht recht zu deuten vermögen: «Das Festival gehört dem Publikum – auch jenem, das noch nicht da ist.»
Punkt zehn allerdings geht aufs Ganze. «Wer finanziert die Wiener Festwochen, wer profitiert von ihnen?» Man will also den Sponsoren auf die Finger schauen und klopfen – und notfalls den Geldhahn selber zudrehen. Jedenfalls verspricht die Freie Republik im letzten ihrer zehn Gebote eine kritische Auseinandersetzung mit der «vergangenen und gegenwärtigen Einkommensstruktur» der Festwochen im Hinblick auf «soziale und Klimagerechtigkeit». Grosse Worte.
Heroischer Aufruf zum Widerstand
Die Antwort auf das, was wie eine Warnung klingt, kam nun allerdings früher, als den Räten der Freien Republik recht sein konnte: in Form des Anfang September veröffentlichten Wahlprogramms der FPÖ. Darin verspricht – oder droht – die rechtsnationale Partei, die bei der Nationalratswahl am 29. September gemäss Umfragen siegen könnte, sie werde die «Förderpolitik kritisch unter die Lupe» nehmen. Das betreffe gerade auch «woke Events» wie die Wiener Festwochen, die «mit Zwangsabgaben finanziert werden».
Eine Gruppe um Elfriede Jelinek und Milo Rau, die Mitbegründer der Freien Republik Wien, reagierte postwendend und umso heftiger, als sie sich auch an den politischen Positionen der FPÖ abarbeitete: «Wir sagen: Demokratiefeindlicher und offen nationalsozialistischer kann eine Rhetorik nicht sein!» Und aus Sorge wegen des angeblichen Schweigens in der übrigen Kulturszene mündete das Protestschreiben in einen alarmistischen Aufruf: «Lassen wir nicht zu, dass aus Selbstgerechtigkeit und Gleichgültigkeit – noch einmal – Mitläufer:innentum wird!»
Man kann die Bedenken gegenüber einem möglichen Wahlsieg der FPÖ verstehen. Die Partei hat oft genug bewiesen, dass sie ein durchaus zweifelhaftes Verständnis von Demokratie hat und in zentralen politischen Fragen extreme Standpunkte einnimmt. Es gibt ehrenwerte Gründe, die Partei nicht zu mögen und sie politisch zu bekämpfen.
Das Manöver der Gruppe um Milo Rau jedoch ist fadenscheinig. Der Regisseur und seine Getreuen fürchten nicht allein die politischen Konsequenzen eines Wahlsieges, sie glauben im Wahlprogramm auch erkennen zu können, dass in der Kulturförderung massive Verschiebungen geplant sind: weg von der Hochkultur und hin zu Volkskultur. Mehr Trachtengruppen und Musikantenstadl, weniger Ballett und Symphonieorchester. Den Vertretern der Freien Republik geht es in ihrem Protest auch – und vielleicht vor allem – ums Geld.
Auch das ist nichts Ehrenrühriges. Kunst kostet. Eigentlich aber müsste es den Exponenten der Freien Republik Wien ganz recht sein, wenn ihnen die Gelder gestrichen würden. Wieso sollten sie sich aus den Töpfen einer FPÖ-Regierung subventionieren lassen? Sofern sie Punkt zehn ihrer Verfassung ernst gemeint haben, müssten sie bei einem Wahlsieg der Rechtspartei umgehend die finanzielle Verbindung zum österreichischen Staat kappen und freundlich dankend jede Zuwendung zurückschicken.
Egal wer kürzt, protestiert wird sofort
Gelegentlich entsteht der Eindruck, die FPÖ sei vor allem ein dankbares Feindbild. Zur Selbstprofilierung kritischer Intellektueller eignet sich in der gegenwärtigen Politlandschaft kaum ein Thema besser als die Rechte. Sie liefert mit Provokationen fast täglich einen Vorwand für Proteste und heroische Widerstandsgesten. Dabei könnte leicht vergessengehen, dass der Kulturabbau und -umbau keineswegs eine Spezialdisziplin der rechten Parteien ist. Er wird im ganzen politischen Spektrum praktiziert, teils als Folge genereller Sparmassnahmen, teils aus künstlerischen oder kulturpolitischen Erwägungen.
Derzeit erhält Deutschlands grüne Kulturstaatsministerin Claudia Roth alle paar Wochen eine Petition, weil gerade wieder Subventionen in der freien Theaterszene oder für den deutschen Literaturfonds gestrichen worden sind. Dabei muss man sich in Erinnerung rufen, dass Claudia Roth noch im November letzten Jahres angesichts der schwierigen Finanzlage der Bundesregierung vor Kürzungen im Kulturbereich gewarnt hatte. Kunst und Kultur seien nötiger denn je in Zeiten von Krisen und Krieg, stabreimte die Staatsministerin. Sie seien im Übrigen das Lebenselixier und der Sound der Demokratie.
Zehn Monate später ist die Politikerin nicht wirklich kleinlaut geworden, aber die Kultur scheint nun doch etwas weniger nötig zu sein. Es wird daher gestrichen und gekürzt, wo’s geht. Das Drehbuch für die prompt folgenden Proteste hatte die Staatsministerin gleich selbst vorformuliert.
Auch in der Schweiz weiss man, dass die Kultur eine schlechte Lobby hat. Gerade versucht der Nationalrat, bei der Beratung der neuen Kulturbotschaft den Kostenrahmen für die Jahre 2025 bis 2028 um 6,5 Millionen zu kürzen. Sogleich protestieren pflichtbewusst die Verbände der Kunstschaffenden.
Niemand ist verpflichtet, Geld vom Staat zu nehmen
Wenn auch die Konstellationen in Wien, Berlin und Bern sehr unterschiedlich sind, so wiederholt sich doch ein Muster, gleichgültig, ob die Kürzungen von rechten, linken oder grünen Politikern beschlossen wurden. Subventionsabbau in der Kultur wird immer und sofort mit den gleichen Argumenten bekämpft, als gäbe es ein verbrieftes Anrecht auf staatliche Unterstützung: Man gefährde das Kulturschaffen, heisst es, die Demokratie werde geschädigt und das Übungsgelände der Imagination ausgetrocknet. Sogar die Lebensgrundlage der Künstler selbst werde infrage gestellt, weswegen Kürzungen der staatlichen Kulturförderung amoralisch seien.
Gerade mit dem Verweis auf das Prekariat der künstlerischen Existenz wird ein Anspruch geltend gemacht, wonach der Staat gleichsam in der Pflicht stehe, die Existenzsicherung zu garantieren. Die Wortwahl suggeriert, der Wettbewerb um die begrenzten Fördergelder führe zu Situationen wie im Niedriglohnsektor und sei schädlich. Das Gegenteil ist der Fall: Er bringt die Vielfalt hervor und stärkt das Kunstschaffen.
Das Prekariat besteht allenfalls darin, dass sich Kunstschaffende in Abhängigkeit begeben von Geldgebern. Das schafft Asymmetrien und die Gefahr von Willkür. Gerade Letzteres droht da am wenigsten, wo die öffentliche Hand finanziert, weil hier demokratische Prozesse zu befolgen sind. Doch es gibt keine Staatsgarantie im Kunstbereich. Das mag ungerecht sein, wenn man an Grossbanken oder an die Verhältnisse in der Landwirtschaft denkt. Garantien aber widersprächen auch jedem künstlerischen Selbstverständnis. Wer möchte ein staatlich anerkannter und auf Lebenszeit mit einem Grundeinkommen ausgestatteter Kunstschaffender sein?
Zugleich ist niemand, kein Opernhaus oder Festival, gezwungen, Fördergelder von Politikern entgegenzunehmen, die lieber Blaskapellen als Symphonieorchester finanzieren möchten oder deren Wahlprogramm man für demokratiefeindlich hält.
Kultur ist unentbehrlich in der Gesellschaft. Daran besteht kein Zweifel. Es ist auch richtig, wenn der Staat nicht nur Autobahnen und Kraftwerke baut, sondern auch das Kulturschaffen in seiner Vielfalt unterstützt. Doch die Kunst kann es auch ohne den Staat. Diesen Anspruch muss sie an sich selbst haben.
Man vergisst gerne, dass das heute so heftig gerühmte Emigrantentheater am Zürcher Schauspielhaus in seinen Anfängen 1933 ein Privatunternehmen gewesen ist und vielleicht auch nur darum werden konnte, was es zuletzt war: ein Hort des kulturellen Widerstands. Der Staat übernahm immerhin die Aufgabe, das Haus, sein Personal und das Publikum vor Übergriffen durch Sympathisanten des Nationalsozialismus zu schützen. Daran müsste heute erinnert werden, wenn Kulturschaffende zum Widerstand aufrufen.