In Frankreich findet am Sonntag die erste Runde der Parlamentswahl statt. Der deutsch-französische Politiker Daniel Cohn-Bendit spricht über Macron, der mit Dynamit spielt, und die Fata Morgana der extremen Rechten, die bald regieren könnten.

Herr Cohn-Bendit, als Auslandfranzose konnten Sie schon Mitte Woche online wählen. Mit welchem Gefühl?

Mit dem Gefühl, dass diese ganze Sache total verrückt ist. Macron hat nach der verlorenen EU-Wahl das Parlament aufgelöst, ein Wahnsinn. Ich gebe Ihnen ein Bild, das Sie als Schweizerin sicher gut verstehen.

Bitte.

Der französische Staatspräsident kommt mir vor wie ein Tourenskifahrer. Und was hält er in der Hand? Eine Stange Dynamit. Diese wirft er in einen Schneehang, vor dem ein Schild warnt: Lawine möglich. Frankreich betritt unsicheres Terrain. Die Auseinandersetzung, in die Macron die Franzosen zwingt, rüttelt an den Grundfesten der Fünften Republik – und das so kurz vor der Eröffnung der Olympischen Spiele. Wahnwitziger kann man nicht sein.

Würden Sie dies Präsident Macron auch ins Gesicht sagen?

Wir reden seit gut zwei Jahren nicht mehr miteinander. Wenn ich ihn träfe, würde ich natürlich sagen: «Du bist doch angetreten, um die extreme Rechte zu verhindern. Aber jetzt verhilfst du ihr möglicherweise an die Macht.»

Für wie gross halten Sie die Chance, dass das Rassemblement national (RN) die absolute Mehrheit gewinnt nach dem zweiten Wahlgang am 7. Juli?

In Frankreich wird mit einem Mehrheitswahlrecht gewählt. Dies macht es möglich, dass mit rund 40 Prozent Stimmenanteil mehr als die Hälfte der 577 Sitze gewonnen werden können. Vorhersagen sind aber schwierig. Offen ist, wie Mehrheiten gebildet werden, wenn dem RN 30 bis 40 Sitze für eine absolute Mehrheit fehlen. Und noch etwas hat es in der Fünften Republik in Frankreich noch nie gegeben.

Daniel Cohn-Bendit

Der 79-jährige Politiker und Publizist ist ein steter Wanderer zwischen Frankreich und Deutschland. Seine jüdischen Eltern flohen vor den Nationalsozialisten nach Paris. Während der Pariser Studentenunruhen von 1968 war er deren prominenter Sprecher und wurde deswegen von der französischen Regierung ausgewiesen. Zwischen 1994 und 2014 vertrat der deutsch-französische Doppelbürger abwechselnd die deutschen Grünen, die er mitbegründet hatte, und die französischen Les Verts im Europaparlament. Emmanuel Macron bot ihm 2017 einen Ministerposten an, den Cohn-Bendit ablehnte.

Was?

Im September werden 577 Abgeordnete zusammenkommen, die eines gemeinsam haben: Ihnen wird Macron und was er aus seinem Élysée-Palast verkündet, egal sein. Gemäss Verfassung ist Frankreich ein Land, in dem der Präsident einen starken Einfluss auf das Parlament hat. Nun werden sich die Kräfte umkehren: Das Parlament wird die Agenda bestimmen. Macron wird nicht nur keine Mehrheit mehr haben, sondern auch die eigenen Leute gegen sich. Denn die sind sauer auf ihn, wegen der Lawine.

Vielleicht hatte Macrons Wurf mit der Dynamitstange durchaus Kalkül: Er will, dass sich die extreme Rechte, einmal an der Macht, als regierungsunfähig beweist. Was halten Sie davon?

Könnte sein, dass sich die extreme Rechte entzaubert. Aber das ist doch kein Spiel!

Mit Giorgia Meloni regiert eine Postfaschistin Italien. Sie ist nach der Wahl in die Mitte gerückt. Italien unter Meloni stellt sich hinter die Ukraine und bekämpft die EU nicht.

Ich bitte Sie. Vordergründig mag das stimmen, aber als langfristiges Ziel strebt Meloni doch an, was Orban in Ungarn getan hat: die Grundlagen bereiten für eine illiberale Demokratie. Die EU bekämpft Meloni nicht, weil sie das Geld aus Brüssel braucht. Le Pen wird sich da ähnlich verhalten, falls sie 2027 zur Präsidentin gewählt werden sollte. Auch sie will eine illiberale Demokratie, das heisst eine Diktatur der Mehrheit. Der Rechtsstaat wird ausgehöhlt. Das RN warnt ständig vor Fremden. Absurde Vorschläge machen die Runde.

Zum Beispiel?

Parteipräsident Jordan Bardella will verhindern, dass Franzosen mit zwei Pässen künftig relevante Staatsposten besetzen können. Dahinter steckt die Botschaft: Wer kein Biofranzose ist, ist nicht vertrauenswürdig. Das Rassemblement national verkauft den Franzosen eine Fata Morgana, ein Frankreich, das es nicht gibt. Und weil es sich hier wegen Macrons Zündung um eine Stimmungswahl handelt, könnte die Partei damit sogar Erfolg haben.

Woraus besteht diese Fata Morgana?

Es ist im Grunde ein nationalistisch-sozialistisches Programm. Endlich wieder Ordnung im Land, weniger Migranten und schon gar keine illegalen. Zudem die Rente wieder mit 62 Jahren oder früher.

Das Programm der französischen Linken ist nicht weniger utopisch.

Brauchst du was, kriegst du was – auch das eine Fata Morgana. Die Wähler sind emotional herausgefordert. Und in der Mitte sind die Leute, die zum Lager des Präsidenten gehören, der schlicht versagt hat.

Wie hat sich Macron so dermassen unbeliebt gemacht?

Eine Frage, die ich nicht so einfach beantworten kann. Vielleicht komme ich so der Sache näher: Emmanuel Macron hat die unglaubliche Begabung, eine politische Situation zu erfassen und seine Analyse in Realpolitik zu giessen. Dieser Mann ist aber gleichzeitig unfähig, mit seinem Gegenüber im Austausch zu bleiben und Widersprüche auszuhalten. Macron glaubt, dass er alles besser weiss und dass das, was er für richtig hält, auch richtig ist. Das hat ihn in den letzten Jahren isoliert.

Haben Sie ein Beispiel dafür?

Ich war in den ersten Jahren seiner Präsidentschaft ab und zu bei ihm eingeladen. Ich mag Typen wie Macron, den Scharfsinn, die Debatte, die Belesenheit. Und Macron mag Menschen wie mich. Gebrochen habe ich mit ihm wegen der Rentenreform, die er vor einem Jahr gegen heftigen Widerstand durchsetzte. Sein Vorgehen zeigt, wie wenig Gespür Macron für ausgleichende Politik hat.

Inwiefern?

Er wollte zu viel auf einmal und hat damit den wichtigsten Verbündeten, die gemässigte Gewerkschaft CFDT, gegen sich aufgebracht. Ich habe ihm geraten, diese fundamentale Reform in kleineren Schritten anzugehen, damit er die Menschen mit im Boot hat. Macron aber antwortete mir, dass die CFDT falschliege und dass er recht habe. Das war für mich der Anfang von Macrons Niedergang. In der Politik geht es nicht darum, wer recht hat, sondern wer eine Gesellschaft mitnimmt zu Veränderung.

Wohin sollte sich denn Frankreich verändern?

Es gibt viele Herausforderungen, denen sich das Land stellen muss. Einfacher würde das, wenn Frankreich so schnell wie möglich das Wahlsystem ändert. Das Mehrheitswahlrecht ist in dieser aufgeheizten Stimmung gefährlich. Auf Parlamentsebene sollte Frankreich lernen, was die ganze Gesellschaft lernen sollte: Kompromisse aushandeln und Koalitionen eingehen. Mit einem Verhältniswahlrecht wäre Frankreich dazu gezwungen. Mit Macron habe ich 2016 schon darüber diskutiert. Er gab mir damals recht.

Frankreich muss vor allem dringend sparen. Aber wie?

Mit dem Rassemblement national wohl nicht. Und auch die neue Volksfront hat hier nichts zu bieten. Die Franzosen sind Träumer. Sie glauben daran, dass alles besser wird. Wir leben aber in einer Zeit nach der Pandemie. Wir haben Krieg in der Ukraine, einen nicht beherrschbaren Konflikt im Nahen Osten und den sich verschärfenden Klimawandel. Und wie verhalten sich die Mehrheit der Franzosen gegenüber dieser Häufung an Krisen? Wie kleine Kinder! Sie halten die Hände vor den Kopf und verschliessen die Augen. Sie tun so, als wären sie nicht hier.

Was braucht es, dass sich die Franzosen der Realität stellen?

Eine vertrauensvolle politische Führung, die mit der Bevölkerung in den Dialog tritt und die Mehrheit davon überzeugt, dass es Schritt für Schritt Veränderungen braucht. Eine Führung auch, die den Kurs korrigiert, wenn etwas nicht funktioniert, und die nicht einfach Geschenke verteilt, sondern sich vornimmt, das viele Geld, das es gibt, anders auszugeben und zu sparen. Es sollte eine Politik gemacht werden, die möglichst vielen das Gefühl gibt, dass das, was beschlossen wird, gerecht ist. Ich sage nicht, dass das einfach ist. Im Gegenteil.

Sie nennen Macron einen intellektuellen Don Juan. Was verstehen Sie darunter?

Der französische Präsident ist für eine bestimmte Zeit bestimmten Leuten zugänglich. Doch dann begegnen ihm neue Leute, die er bezirzen und erobern will. An den andern verliert er komplett das Interesse und tut so, als würde er sie nicht mehr kennen. Macron hat keine Empathie. Das hat längst auch die Öffentlichkeit mitbekommen.

Auch General Charles de Gaulle, der Gründer der Fünften Republik, hatte 1968 die Nationalversammlung aufgelöst und danach wieder eine Mehrheit hinter sich geschart. Folgt Macron seinem Beispiel?

De Gaulles politischer Zug war damals genial. Mit den sozialpolitischen Verwerfungen von 1968 hatte er den Rückhalt in der Gesellschaft verloren. Nach dem grössten Generalstreik in der Geschichte rief er Neuwahlen aus. Die Devise: mich oder die Kommunisten. Diese waren mit rund 27 Prozent Stimmenanteil die stärkste Opposition. Die demokratische Linke war unorganisiert und gespalten. Und wir 68er sagten, dass Wahlen Verrat seien, und gingen gar nicht an die Urne. Mit der Neuwahl verschaffte sich de Gaulle wieder politischen Rückhalt.

Das hat doch Ähnlichkeiten zu heute. Macron sagt: ich oder die Extreme.

Auf der rhetorischen Ebene mag das stimmen, aber die Welt ist heute eine ganz andere. Heute gibt es eine erstarkte extreme Rechte und keinen Regierungsblock wie 1968, der ihr standhalten kann. Für de Gaulle ging die Sache am Ende trotzdem nicht gut aus. Das Volk verwarf in einer Referendumsabstimmung die beiden Verfassungsreformen, mit denen de Gaulle Frankreich einen Schritt dezentralisieren wollte. Nach der Niederlage trat er zurück.

Halten Sie es für möglich, dass auch Macron zurücktritt?

Macron sagte vor den EU-Wahlen, dass diese keine Auswirkungen auf die Innenpolitik haben würden. Trotzdem löste er das Parlament auf. Letzte Woche schrieb er in einem Brief an die Franzosen, dass er bis zum Ende seiner Amtszeit 2027 bleiben würde. Ob er das einhält? Ich weiss es nicht.

Emmanuel Macron hat Anfang Woche stattdessen in einem Podcast vor einem Bürgerkrieg gewarnt . . .

Am besten würde er schweigen.

. . . Bürgerkrieg, was halten Sie davon?

Die Leute, die nicht RN wählen, werden in Massen auf die Strasse gehen, falls die Rechtsextremen gewinnen. Das ist so in Frankreich. Doch wer provoziert das? Macron. Es hätte Alternativen gegeben zur sofortigen Auflösung des Parlaments. Ein wichtiger Berater, so hat dieser es mir erzählt, hat Macron folgenden Vorschlag gemacht: Macron solle die Bevölkerung auf eine Auflösung vorbereiten, indem er den Sommer über drei ehemalige Premierminister aus verschiedenen Lagern damit beauftrage, auszuloten, wie Mehrheiten künftig zustande kommen könnten. So hätte eine Diskussion innerhalb der Gesellschaft stattfinden können, und im September hätte Macron, gut vorbereitet, immer noch die Assemblée nationale auflösen können.

Was sagte Macron zum Vorschlag?

Old School nannte er ihn angeblich. Er wollte die Schocktherapie. Moderne Politik nennt er das.

Mit Jordan Bardella hat das RN bereits einen künftigen Premierminister auserkoren, ein 28-Jähriger ohne Ausbildung.

Eine hohle Kokosnuss.

Macron wurde mit nicht einmal 40 Jahren Präsident. Der gegenwärtige Premierminister Gabriel Attal ist 35. Und nun ein 28-Jähriger. Was hat Frankreich nur mit diesen jungen Männern?

Ein Rätsel. Auffällig ist auch, dass Attal in den Debatten im Vorfeld der EU-Wahl gegen Bardella logischer argumentiert hat und viel besser informiert war. Den Leuten scheint das aber völlig egal zu sein. Viele sagten, Bardella argumentiere logischer und sei besser informiert.

Wir kennen das aus Amerika.

Wir leben in verrückten Gesellschaften, wo Objektivität offenbar nichts mehr gilt. Vor rund zwei Jahren fragte mich eine Zeitschrift, ob ich einen Text über Utopie schreiben wolle zusammen mit meinem Freund, dem Politikwissenschafter Claus Leggewie. Wir haben uns gefragt, was in der Politik von heute denn eigentlich noch eine Utopie ist.

Zu welchem Schluss sind Sie gekommen?

Zu einem ernüchternden. Die eigentliche Utopie heute ist schlicht der Wunsch nach einer rationalen Politik. So weit sind wir davon entfernt.

Mit welchem Wahlausgang rechnen Sie in einer Woche?

Auf die Gefahr hin, dass auch ich mich nun als Utopist manifestiere, glaube ich an die Möglichkeit, dass nach dem ersten Wahlgang die Herzen der Franzosen in Bewegung kommen. Dies könnte dafür sorgen, dass sie nicht zulassen wollen, dass eine Partei, die von einem Mitglied der Waffen-SS gegründet worden ist, die absolute Mehrheit erhält.

Und was passiert dann?

Es könnte sein, dass sich gemässigte Kräfte um einen wie den rechtsliberalen Abgeordneten Charles de Courson scharen und ihn als Premierminister portieren. De Courson ist ein erfahrener Politiker, und auch die Geschichte seiner Eltern und Grosseltern, Widerstandskämpfer gegen die Nazis, verleiht ihm Glaubwürdigkeit. Eine Regierung de Courson könnte ein Jahr lang Reformen voranbringen. So lange darf Macron die Nationalversammlung nämlich nicht erneut auflösen.

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