Dienstag, März 18

Der Frauenverband ist unzufrieden mit dem Bundesrat und schickt seine Parlamentarierinnen in den Kampf. Wen interessiert Gleichstellung angesichts der Krisen noch? Offenbar einen grossen Teil der Bevölkerung, wie neue Daten zeigen.

Kathrin Bertschy sitzt in einem Sitzungszimmer im Bundeshaus und ist empört. «Der Bundesrat orientiert sich immer noch am Ernährermodell der Nachkriegszeit», sagt die Nationalrätin. Es sei Zeit, anzuerkennen, wie Familien in der Schweiz heute lebten. «Wenn wir dem nicht Rechnung tragen, verschenken wir unglaublich viel Potenzial.»

Die Grünliberale Bertschy ist Co-Präsidentin von Alliance F, dem 124 Jahre alten, überparteilichen Bund schweizerischer Frauenorganisationen. Und dieser ist nicht zufrieden, immer noch nicht. Die Landesregierung unterschätze die Dringlichkeit der Gleichstellung der Geschlechter «krass», schrieb der Verband in einem Newsletter Anfang Woche. Das zeige die Legislaturplanung zuhanden des Parlaments.

Das 140-seitige Dokument legt die politischen Prioritäten der folgenden vier Jahre fest. Als einziges «erforderliches Geschäft zur Zielerreichung» sieht der Bundesrat die «Zwischenbilanz zur Umsetzung der Gleichstellungsstrategie 2030». Obendrauf sind auch die Individualbesteuerung oder die Rentenreform Thema. Das sei zu wenig, findet die Alliance F und legt ein eigenes «Gleichstellungslegislatur-Programm» mit zahlreichen Forderungen vor, darunter beispielsweise eine «Elternzeit», einen «geschlechtersensiblen Umgang» mit künstlicher Intelligenz oder eine «feministische Aussen- und Sicherheitspolitik».

Wer will das noch?

Nun ist Empörung zwar ein Treiber der Aufmerksamkeitsökonomie. Doch politische Erfolge erzielt man häufig im Stillen, mit strategischer Überzeugungsarbeit im Hintergrund. Kathrin Bertschy und ihre Kolleginnen wissen das. Nach der Frauenwahl 2019 war der Anteil an Parlamentarierinnen so hoch wie nie zuvor. Die Lobbyistinnen von Alliance F nutzten die neu gewonnene Stärke und brachten Anliegen durch, die in der Vergangenheit keine Chance gehabt hätten, beispielsweise das neue Sexualstrafrecht, ein Forschungsprogramm zur Gendermedizin oder die soziale Absicherung von Bäuerinnen. Und vor allem die erwähnte Rentenreform, über welche die Schweiz dieses Jahr noch abstimmt. Sie will unter anderem die Eintrittsschwelle für Teilzeitarbeitende für die zweite Säule senken, das betrifft vor allem Frauen.

All diese Erfolge sind nicht einmal vier Jahre her. Und doch erscheint die vergangene Legislatur wie eine andere Zeit. Die Schweiz wird von internationalen Krisen und Kriegen geschüttelt, die Aussenpolitik ist in den Fokus gerückt, und das Bedürfnis nach Sicherheit hat den Fortschrittsglauben abgelöst. Dementsprechend haben die progressiven Kräfte bei den Wahlen im Oktober abgeschnitten. Der Freisinn, die Grünliberalen und die Grünen verloren Sitze. Konservative Kräfte wie SVP und Mitte sind erstarkt, ebenso die SP, welche wieder vermehrt auf klassische gewerkschaftliche Themen setzt. Und der Frauenanteil ist im Nationalrat leicht gesunken, während er im Ständerat stieg.

So zeigt sich gegenwärtig eine Konfliktlinie in der Bundespolitik besonders deutlich: Sicherheit contra Sozialstaat. Die Finanzen sind knapp. Auf der rechten Seite will man das Militär wieder verteidigungsfähig machen. Auf der linken Seite mehr Geld in die soziale Absicherung wie AHV und Prämienverbilligungen stecken.

Es stellt sich daher die Frage: Interessiert Gleichstellung in diesen Krisenzeiten überhaupt noch jemanden?

Offenbar schon. Und zwar «signifikant» mehr als beispielsweise die Armeeausgaben, wie Reto Mitteregger sagt. Der Politikwissenschafter forscht an der Universität Zürich unter anderem zur Frage, welche Themen die Bürger beschäftigen. Soeben hat er neue Umfragezahlen im Rahmen eines Nationalfondsprojekts von April 2024 ausgewertet. 2500 Deutschschweizerinnen und Deutschschweizer wurden gebeten, 42 Themen nach ihrer Dringlichkeit zu bewerten. Die Ergebnisse sind noch nicht publiziert, lassen aber bereits Tendenzen erkennen.

So weisen die Daten darauf hin, dass sich der Fokus der Bevölkerung tatsächlich verschoben hat: Stand das Klima 2019 bei vielen an erster Stelle, sorgen sich die Schweizer 2024 am meisten um die Lebenshaltungskosten wie Krankenkassenprämien oder Mietpreise. Dennoch sind Gleichstellungsthemen einem grossen Teil der Befragten nach wie vor wichtig, wie Mitteregger sagt: So steht die Lohngleichheit an siebter Stelle der 42 abgefragten Themen. Auch Kinderbetreuung, Elternzeit oder Individualbesteuerung sind auf der Prioritätenliste relativ weit oben. Das dritte Geschlecht wird dagegen nicht als so bedeutend angesehen. Und die Armeeausgaben rangieren im unteren Drittel der Wichtigkeitsskala.

Vor allem junge Frauen

Politik sei zu einem gewissen Grad eine «Betroffenheitsgeschichte», sagt der Wissenschafter Mitteregger. Fast 70 Prozent der befragten Frauen unter 44 stimmten der Frage zu, ob es mehr Massnahmen für die Gleichstellung brauche, bei den gleichaltrigen Männern waren es 45 Prozent.

Das bedeutet aber nicht, dass die Schweizer Bevölkerung willens ist, hemmungslos Steuergeld für staatliche Lösungen aufzuwerfen. So haben die Kantone Bern und Zürich etwa (zu) grosszügige Elternzeitmodelle an der Urne mit Stimmenanteilen von jeweils etwa 65 Prozent deutlich verworfen. Und auch im Parlament wird es harte Kämpfe um die Forderungen der Alliance F geben.

Dabei verfolgt der Verband häufig folgende Strategie: Zuerst handeln bürgerliche und linke Parlamentarierinnen innerhalb der Alliance F einen für alle tragbaren Kompromiss aus. Danach lobbyieren die Vertreterinnen in ihren jeweiligen Fraktionen dafür. Häufig gegen Widerstand von rechts und links.

Klassenkampf vor Gleichstellung?

Vor allem zwei Geschäfte stehen im Fokus. Zum Ersten die erwähnte Individualbesteuerung, welche Ehepartner in Zukunft separat besteuern soll. Eigentlich wird das Anliegen von Politikerinnen und Politikern von FDP bis SP getragen. Doch seit die Sozialdemokraten gemerkt haben, dass es bei einer Umsetzung – zumindest kurzfristig – zu Steuerausfällen zugunsten gutverdienender Frauen kommen könnte, bröckelt ihre Unterstützung. Wenn es hart auf hart kommt, gilt beim Gewerkschaftsflügel häufig: Klassenkampf vor Gleichstellung. Auf der anderen Seite fürchten Politiker der SVP und der Mitte um die Bedeutung der traditionellen Ehe.

Zum Zweiten geht es um die rund 700 Millionen Franken teure Kita-Vorlage, bei der die Betreuungskosten für Eltern vergünstigt werden sollen. Die Befürworter wollen den Anreiz für Frauen erhöhen, auch mit Kindern erwerbstätig zu bleiben. Doch wer soll das bezahlen? Zurzeit steht eine Finanzierung via Arbeitgeber oder Bund zur Debatte. Es ist fraglich, ob bürgerliche Frauen diese Lösungen mittragen. So wünscht sich beispielsweise Susanne Vincenz-Stauffacher, dass auch die zuständigen Kantone in die Pflicht genommen werden. Die Nationalrätin präsidiert die FDP-Frauen, welche Mitglied der Alliance F sind. Sie werden ihre Position zur Kita-Vorlage Anfang Juni beschliessen.

Die vieldiskutierte Elternzeit dürfte dagegen nebensächlich bleiben. Zwar versuchen die Grünen gerade wieder, das Thema zu ihrem zu machen. So hat die Präsidentin Lisa Mazzone in der «NZZ am Sonntag» eine Initiative mit einer «breiten Allianz» angekündigt. Doch wenn man sich im Bundeshaus umhört, ist von dieser Allianz noch wenig zu sehen. So sprach Mazzone von ganzen 30 Wochen Urlaub. Das ist politisch kaum mehrheitsfähig, gerade KMU ächzen bereits heute über die Ausfälle ihrer Mitarbeitenden. Bis jetzt haben die Mütter 14 Wochen, die Väter 2 Wochen bezahlten Urlaub. Die Freisinnige Vincenz-Stauffacher kann sich zwar sehr gut vorstellen, auf Basis des bisherigen Urlaubs eine Elternzeit einzuführen, welche paritätisch zwischen Vater und Mutter aufgeteilt wird. Diese müsse aber für die Wirtschaft tragbar sein.

Kathrin Bertschy, Co-Präsidentin der Alliance F, spricht daher von einem längerfristigen «Generationenprojekt». Will sie die Familien im Land vielleicht radikaler verändern, als es den Schweizerinnen und Schweizern lieb ist? «Ach was, es geht schlicht um den Wohlstand», sagt die Ökonomin. Die Schweiz könne nicht mehr auf das Arbeitsmarktpotenzial der Mütter verzichten.

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