Zum Entscheid trug bei, dass der Kanton sein Parlament seit 2007 nach dem doppelten Proporz wählt.
Die Überraschung war gross, als das Bundesgericht am 22. Mai eine Beschwerde gegen die Wiederwahl von Isabel Garcia in den Kantonsrat guthiess. Die Vertreterin der Zürcher Stadtkreise 3 und 9 hatte am 23. Februar 2023 ihren Wechsel von der GLP zur FDP bekanntgegeben. Das war nur einen Tag nach Ablauf der Frist für eine Stimmrechtsbeschwerde gegen die Wahl in den Kantonsrat vom 12. Februar.
Der Kantonsrat bestätigte die Wahl am 8. Mai 2023 entgegen einem Minderheitsantrag. Benjamin Gautschi, GLP-Mitglied und Jusstudent, reichte mit weiteren Personen dagegen Beschwerde am Bundesgericht ein. Der zentrale Vorwurf lautet, Garcia habe sich bereits vor dem Wahltag zum Parteiwechsel entschieden und so die Wählerschaft irregeführt.
In der öffentlichen Beratung in Lausanne war der Fall höchst umstritten. Am Ende hiessen die fünf Richter die Beschwerde mit 3 zu 2 Stimmen gut. Der Entscheid hing in mehrfacher Hinsicht an einem seidenen Faden. Das geht aus der nun veröffentlichten Urteilsbegründung hervor.
Fehlende Rechtsmittel
So schloss das Gericht eine Beschwerde gegen die sogenannte Erwahrung der Wahl durch den Kantonsrat aus. Eine Beschwerde an das Verwaltungsgericht nach Ablauf der Frist für einen Stimmrechtsrekurs ist im Kanton Zürich laut Gesetz aber gar nicht möglich. Es sei unklar, ob ein Rechtsmittel auf kantonaler Ebene zur Verfügung gestanden hätte, heisst es in er Begründung. Die Beschwerdeführer hätten jedoch darauf vertrauen dürfen, dass sie ihr Recht auf eine gerichtliche Beurteilung nicht verlieren.
Zur Wahrung des Anspruchs auf Treu und Glauben sei «ausnahmsweise», wie es ausdrücklich heisst, auf die Beschwerde einzutreten. Die Unterzeichner hätten überdies belegen müssen, dass sie berechtigt waren, an den Zürcher Kantonsratswahlen teilzunehmen. Das hatten sie indes nicht getan. Doch das spielte für das Gericht keine Rolle, weil sich unter den sechs Beschwerdeführenden mit Hans Egli (EDU) und Isabel Bartal (SP) auch zwei gewählte Ratsmitglieder befinden, die somit wahlberechtigt waren.
Das Bundesgericht geht auch auf den Fall von 2008 im Kanton St. Gallen ein, als eine gewählte Kantonsrätin der CVP noch vor der konstituierenden Sitzung zur SVP wechselte. Dagegen hatte hatte das Bundesgericht eine Beschwerde noch abgelehnt. Dass es nun eine Neubeurteilung vornahm, hat insbesondere mit dem geänderten Wahlrecht zu tun.
Denn seit 2007 wählt der Kanton Zürich sein Parlament mit dem doppelten Proporzverfahren nach Friedrich Pukelsheim. Damit würden die Wahllisten gegenüber den einzelnen Kandidierenden stärker gewichtet.
«Schwere Irreführung»
Zwar hätten Kandidatinnen und Kandidaten das Recht, ihre politische Überzeugungen zu ändern und ihre Parteizugehörigkeit zu ändern. «Die Freiheit, die Partei zu wechseln, hat jedoch eine Grenze», schreiben die Richter.
Wer für den Kantonsrat kandidiere und den Stimmberechtigten die eigene, «wahre» Parteizugehörigkeit vorenthalte, führe die Wählerschaft über eine für die Wahl zentrale Tatsache in die Irre, heisst es in der Begründung. Denn wer für das Zürcher Parlament antrete, könne dies nur auf einer Liste tun. Der Wechsel kurz nach der Wahl sei eine neue, objektiv feststellbare Tatsache.
Eine derart schwere Irreführung der Wählerschaft verletze die Bundesverfassung, da nicht mehr sichergestellt sei, dass der Wille der Stimmberechtigten zuverlässig und unverfälscht im Ergebnis zum Ausdruck komme, schreiben die Richter. Der Parteiwechsel einen Tag nach Ablauf der Beschwerdefrist und ohne ersichtlichen Grund gebe in der Tat Anlass zu einer Untersuchung.
Allerdings erachtet es das Bundesgericht nicht als seine Aufgabe, ein solches Beweisverfahren durchzuführen. Da der Kantonsrat in der Sache bereits einen Entscheid fällte, weist es den Fall an das Zürcher Verwaltungsgericht. Interessant wird sein, wie dieses Gericht, das seine Entscheide primär aufgrund von Akten fällt und höchstens hin und wieder einen Augenschein durchführt, diese Abklärungen vornehmen wird.
Urteil 1C_223/2023, 22. Mai 2024, rechtskräftig.