Die jüdisch-christliche Gottesvorstellung als Begleiter des säkularen Staates entspricht aufklärerischer Tradition. Heute gerieren sich Wokeismus und Genderismus als eine Art von Zivilreligionen, die wieder ein unfreiheitliches Klima schaffen.
Anhänger des Liberalismus mag die Behauptung irritieren, wonach dieser die Weiterentwicklung jüdisch-christlicher Ideen darstelle. Auch die Aufklärer waren überzeugt, dass sie im kühnen Brückenschlag in die Antike ohne das Christentum Neues erdacht hätten. Aber die Grundsätze des Liberalismus lassen sich nicht aus der Antike ableiten. Drei Beispiele mögen das verdeutlichen.
Grundlegend ist der Gedanke der Säkularität. Die Vorstellung, dass es Weltlichkeit gibt, die nicht schon von vornherein religiös durchdrungen ist, kommt nicht aus der Antike, auch nicht aus Griechenland und Rom. Denn diese Reiche und ihre Gesetze waren umfassend religiös imprägniert. Den Unterschied machte das Judentum durch die Einführung des Schöpfungsgedankens. Denn die Schöpfung geht der Offenbarung zeitlich voraus. Was geschaffen wurde, ist als solches schon, wie es im ersten Buch der Bibel heisst, «sehr gut».
Wenn später Gott durch Mose und die Propheten religiös offenbarend spricht, ändert das nichts daran, dass die Welt bereits einen guten, vernünftigen Bestand hat. Diese Dualität einer vernünftig geordneten Welt und einer späteren religiösen Rede Gottes ist grundlegend für unser heutiges Denken.
Das Christentum hat dieses Konzept weiterentwickelt, zusammengefasst im Wort Jesu: «Gebt dem Kaiser, was dem Kaiser gehört, und Gott, was Gott gehört.» Daraus entstand die Idee, dass Staat, Recht, Kultur sowie Wirtschaft einerseits und Religion andererseits unterschiedlichen Sphären angehören, die beide ihre Legitimität besitzen. Der Rechtshistoriker Jean-Louis Harouel hat in Anspielung auf Chateaubriand bemerkt, in dieser Einsicht liege das «wahre Genie des Christentums».
Gewissen und Individuum
Auch der Gedanke der Menschenrechte ist ohne das Christentum nicht erklärbar. Denn Christen waren es, die den religiösen Kaiserkult verweigerten. Sie haben damit zum ersten Mal einen dem Staat vorenthaltenen freien Bereich des Gewissens errungen. «Die ganze Christenheit schlug alle Gemeinschaft mit den Göttern Roms, des Reiches und des übrigen Menschengeschlechts einmütig aus. Vergebens berief sich der bedrängte Gläubige auf das unveräusserliche Recht der Gewissensfreiheit und des eigenen Urteils. (. . .) Dass es überhaupt Menschen gab, die Bedenken trugen, sich der eingeführten Gottesverehrung zu fügen, erschien ihnen nicht minder befremdlich, wie wenn diese einen plötzlichen Abscheu gegen Sitten, Tracht oder Sprache ihres Vaterlandes gefasst hätten», schrieb der aufklärerische Historiker Edward Gibbon (1737–1794), ein Gegner des Christentums.
Dieser Kampf um die Freiheit war auch dem Begriff des Individuums förderlich. Denn die antiken Staaten waren von religiös geprägten Grossfamilien her aufgebaut, die einem Oberhaupt unterstanden. In diesen Clans existierte für die Mitglieder weder eine Freiheit in der Lebensgestaltung noch des Gewissens oder der Religion.
Gleichheitsverständnis
Die Idee der Gleichheit lässt sich ebenfalls nicht aus der Antike ableiten. Denn in den damaligen Sklavenstaaten existierte sie nicht. Philosophen wie Aristoteles erklärten die Sklaverei sogar für natürlich. Auch innerhalb der von Stämmen aufgebauten Gesellschaften gab es keine Gleichheit. Sie wurde, wenn überhaupt, nur zwischen den Oberhäuptern der Grossfamilien gelebt. Eine Oligarchie, an der wenige Prozente der Bevölkerung partizipierten, war keine Demokratie. Die Innovation, die dem heutigen Gleichheitsverständnis zugrunde liegt, besteht in einem biblischen Satz wie «Da ist weder Jude noch Grieche, da ist weder Sklave noch Freier, da ist nicht Mann und Frau. Denn ihr seid alle eins in Christus Jesus.»
Die Völker, die das Römerreich überrannten, waren wie die Völker der Antike clanartig organisiert: geprägt von Ungleichheit sowie Unfreiheit des Einzelnen. So gehörte auch der Feudalismus, den die Völkerwanderung importierte und den die Französische Revolution niederwarf, nicht zum jüdisch-christlichen Gedankengut. Ebenfalls waren die rechtlichen Institutionen der einwandernden Völker religiös durchtränkt. Die Vorstellung einer nichtreligiösen Weltlichkeit hatte da keinen Platz. Es bedurfte der Gärung des Mittelalters, bis christliche Vorstellungen allmählich gesellschaftliche Wirksamkeit erlangten.
Von der Leitidee zur Ideologie
Das Verdienst der Aufklärung und ihrer liberalen Weiterentwicklungen bestand dann darin, das, was Judentum und Christentum in die Welt gebracht haben, nach und nach in wirksame rechtliche und soziale Formen gegossen zu haben.
Im Verhältnis von Christentum und Liberalismus geht es nicht um die Frage «Wer hat’s erfunden?». Man kann sich zu Rousseau stellen, wie man will: Er hat erkannt, dass jede Gesellschaft einer Leitidee bedarf, die ihren Willen zur Garantie des nackten diesseitigen Überlebens übersteigt. Der Bürger von Genf hat diese Leitidee «Zivilreligion» genannt. Für ihn beinhaltete sie noch den Gottesglauben.
Im 20. Jahrhundert hat sich gezeigt, dass auch «gottlose» Varianten wie der Marxismus oder der Nationalsozialismus entstehen können. Diese Ideologien sind totalitär gewesen, weil sie weit mehr sein wollten als Staatsformen: Alles, was sie weltanschaulich nicht selbst vertraten, versuchten sie zu vernichten.
Im freien Westen ist dies Vergangenheit. Das heisst jedoch nicht, dass seither nicht neue Formen von Zivilreligion ein unfreiheitliches Klima schaffen. Man sieht es am Wokeismus und am Genderismus. Diese kommen freiheitlich daher, indem sie vorgeben, die Vielfalt fördern zu wollen. Wer sich jedoch die Freiheit nimmt, deren Konzept der «Diversity» abzulehnen, wird aus dem Diskurs gedrängt. So hat das Schweizer Bundesgericht die Entlassung eines Lehrers gutgeheissen, der sich an einem staatlichen Gymnasium geweigert hat, die der Biologie widersprechende «Änderung des Geschlechts» bei einem Schüler anzuerkennen.
Wenn die Magie des Sprechakts, mittels dessen sich ein Mann zur Frau erklärt, über die Naturwissenschaft triumphiert, bleibt die Aufklärung auf der Strecke. Dieser Irrationalismus ruft Christen auf den Plan, aber auch Liberale, die um die Meinungsäusserungsfreiheit fürchten. In Zeiten des Kulturkampfs lässt sich noch einmal erkennen, dass zwischen Christentum und Liberalismus eine Verbindung besteht.
Und in der Tat: Wenn man Rousseau ernst nimmt, bedarf auch der Liberalismus, der selbst keine Zivilreligion sein will, als diesseitiges Ordnungsprinzip einer solchen. Aber welcher? Sinnvollerweise ist es jene, die am Ursprung der Ideen von Säkularität, Freiheit und Gleichheit steht. Denn sie vermag diese Grundsätze der freiheitlichen Staatsordnung aus ihren eigenen Ressourcen zu begründen: die jüdisch-christliche Gottesvorstellung. Judentum und Christentum gehören deshalb geschichtlich und tatsächlich zur Schweiz und zu Deutschland. Anders der Islam: Er arbeitet der Säkularität, der individuellen Freiheit und der bürgerlichen Gleichheit aller Menschen entgegen.
Diderots Gottesgedanke
Die jüdisch-christliche Gottesvorstellung als zivilreligiöser Begleiter des säkularen Staates entspricht aufklärerischer Tradition. Schon Denis Diderot, dessen Gottesglauben man getrost bezweifeln darf, der aber trotzdem nicht anders konnte, als in jüdisch-christlichen Kategorien zu denken, hat im Artikel «Autorité politique» der Enzyklopädie festgehalten: «Die Freiheit ist ein Geschenk des Himmels. Der Mensch soll und darf sich nicht ganz und vorbehaltlos einem anderen Menschen ausliefern, weil er einen allerhöchsten Gebieter hat, dem allein er ganz gehört. Das ist Gott, dessen Gewalt über das Geschöpf immer unmittelbar ist.»
Der Gedanke, dass Gott der Garant von Freiheit und Gleichheit ist, wird nicht nur auf jeden Dollarschein gedruckt: «In God we trust.» Er liegt auch der Erwähnung Gottes in den Präambeln der Schweizer Bundesverfassung und des deutschen Grundgesetzes zugrunde. Die Überlegung dahinter ist: Wenn es einen Gott im Himmel gibt, wird das politische Tun dadurch verweltlicht und in seiner menschlichen Vorläufigkeit belassen.
Mit unvergleichlicher Leichtigkeit hat auch Voltaire den Gedanken der Zivilreligion ausgedrückt, die den säkularen Staat begleitet. Denn er war überzeugt, dass Gottlosigkeit die Freiheit, die Gerechtigkeit und den Staat zersetzt. Von ihm stammt die Sentenz: «Wenn es Gott nicht gäbe, müsste man ihn erfinden.»
Martin Grichting war Generalvikar des Bistums Chur und beschäftigt sich publizistisch mit philosophischen sowie religiösen Fragen.