Sonntag, Oktober 6

Die EU verfällt wegen Orbans Moskau-Reise in Schnappatmung. Es stimmt schon: Wer von Frieden spricht und Kapitulation meint, leistet allein Putin gute Dienste. Aber das wusste man in Brüssel schon lange vor dem ungarischen Ratsvorsitz.

Viktor Orban hat es wieder getan. Er hat wieder einmal den Rest der EU gegen sich aufgebracht. Und was für ein Sturm der Empörung dem ungarischen Ministerpräsidenten dieses Mal entgegenschlägt!

Von den Brüsseler EU-Spitzen Ursula von der Leyen, Charles Michel und Josep Borrell bis hin zu dem deutschen Bundeskanzler Olaf Scholz, dem polnischen Ministerpräsidenten Donald Tusk, der estnischen Regierungschefin Kaja Kallas und dem Tschechen Petr Fiala ist die Kritik an Orban dröhnend.

Niemals, so der Tenor, hätte der Ungar nach Moskau fliegen sollen, um dort den russischen Kriegstreiber Wladimir Putin zu treffen. Vor allem nicht, solange Budapest den rotierenden Vorsitz des Europäischen Rates innehat. Für seine sogenannte «Friedensmission» habe Orban kein Mandat, und ein Fehler sei die Reise sowieso. Denn: «Beschwichtigung wird Putin nicht stoppen», mahnt von der Leyen.

Orban behauptete auch gar nicht, im Namen der Europäischen Union zu sprechen. Aber ein Foto von seiner Ankunft in Moskau, auf dem deutlich das Logo der ungarischen Ratspräsidentschaft zu sehen ist, wollte er trotzdem veröffentlichen. «Man kann Frieden nicht von einem bequemen Sessel in Brüssel aus schaffen», schickte er seinen EU-Kollegen als weiteren Nadelstich hinterher.

Es ist eine verlässliche Provokation des ungarischen Ministerpräsidenten, der nicht zum ersten Mal aus der gemeinsamen Ukraine-Politik ausschert. Seit zweieinhalb Jahren sind sich 26 von 27 Mitgliedstaaten einig, dass Russland in diesem Konflikt der Aggressor und die Ukraine das angegriffene Land ist. Und dass allein die Regierung in Kiew den Zeitpunkt und die Bedingungen für Friedensgespräche zu bestimmen habe.

Orbans Diplomatie nicht gewichtiger machen, als sie ist

Nur Orban sieht das bekanntlich anders. Er findet, dass EU-Sanktionen gegen Moskau und Militärhilfen für die Ukraine den Krieg unnötig in die Länge zögen und dass Kiew um des Friedens willen einem sofortigen Waffenstillstand und Verhandlungen mit Russland zustimmen sollte. Diesen Vorschlag überbrachte er am Dienstag auch dem ukrainischen Präsidenten Wolodimir Selenski.

Wohl genauso gut hätte ein Emissär aus dem Kreml in Kiew anklopfen können. Erst kürzlich hat Putin den Rückzug ukrainischer Truppen aus vier annektierten Regionen in der Ukraine als Voraussetzung für den Eintritt in Friedensgespräche formuliert. Würde Selenski der Bedingung nachgeben, käme das faktisch einer Kapitulation gleich. Was Orban sehr wohl wissen muss.

Der ungarische Ministerpräsident ist in diesem Sinne kein ehrlicher Friedensmakler, sondern ein Mann mit guten Beziehungen zu Moskau und wenig Empathie für den Freiheitskampf der Ukrainer. Aber das wussten von der Leyen, Michel, Borrell und Co. auch schon lange vor Beginn der Budapester Ratspräsidentschaft.

Sicher, man kann enttäuscht sein, dass dieses Ehrenamt nicht den versöhnenden Effekt auf Orban hat, den sich viele erhofft hatten. Der Ratsvorsitz ist idealerweise darauf ausgerichtet, bei Meinungsverschiedenheiten zwischen den Regierungen zu vermitteln und nationale Interessen zurückzustecken. Aber er bleibt trotz allem ein symbolisches Amt ohne reale Macht.

Das bedeutet: Grossen politischen Schaden kann Orban höchstens anrichten, wenn man seiner «Friedensmission» mehr Gewicht beimisst, als sie in Wahrheit hat. Statt über den Kreml-Besuch in Schnappatmung zu verfallen, sollte Brüssel besser gelassen bleiben. Der Mann, der sich am meisten freut, wenn die EU wieder einmal als zerstrittener Haufen dasteht, heisst Wladimir Putin.

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