Ein Parteiwechsel, eine Politikerin – und der Tag, an dem das Bundesgericht über sie entschied.

Irgendwann verwirft der SVP-Richter Thomas Müller die Hände und ruft: «Wenn das so weitergeht, beschliessen wir hier ein Rückgaberecht für Parlamentarier!»

Sein Kollege, Lorenz Kneubühler von der SP, hat kurz zuvor vor einer «Mission impossible» gewarnt. «Hochproblematisch», «übergriffig»: Es fallen deutliche Worte. Und da hat der wichtigste Richter – der mit der alles entscheidenden Stimme – noch gar nicht gesagt, auf welche Seite er sich schlagen wird.

Ein Hauch von amerikanischen Verhältnissen weht am Mittwoch durch den prunkvollen Verhandlungssaal des Bundesgerichts in Lausanne. Ein knapper Entscheid, zwei Seiten, die beide eine Gefahr für die Demokratie heraufbeschwören, und am Ende ein Resultat, das die Schweizer Politik beeinflussen wird: Es ist ein eigentlicher Justizkrimi, der sich hier vor vollen Zuschauerrängen abspielt.

Anlass für die Diskussion ist der umstrittene Entscheid einer Zürcher Politikerin: Im Februar 2023 verkündete Isabel Garcia, Kantonsparlamentarierin der GLP, den Übertritt zur FDP. Elf Tage nach den kantonalen Wahlen, bei denen sie für die Grünliberalen angetreten und gewählt worden war.

Durfte sie das? Oder hat sie damit ihre Wählerinnen und Wähler auf unrechtmässige Art getäuscht?

Das war die Frage, mit der sich das Bundesgericht befassen musste. Sechs Zürcher – unter ihnen ein Jus-Student und GLP-Mitglied, aber auch ein Kantonsrat der rechten EDU – hatten Beschwerde erhoben gegen den Entscheid des Kantonsparlaments, Garcias Wahl zu bestätigen.

Die Beschwerde galt als aussichtslos. Nicht einmal die Zürcher GLP-Führung wollte etwas mit ihr zu tun haben. Und jetzt das.

Politisches Problem – politische Antwort?

Fünf Bundesrichter (alles Männer) nahmen am Mittwoch zum Fall Stellung. Die öffentliche Urteilsberatung, ein seltener Vorgang, ist für Fälle gedacht, die eine bedeutende Rechtsfrage beantworten – und bei denen im Gericht Uneinigkeit herrscht.

Wobei das angesichts der Töne, die angeschlagen wurden, noch ein milder Begriff ist.

Es beginnt mit harschen Worten an die Adresse von Isabel Garcia. Der SP-Richter Kneubühler nennt ihr Verhalten «daneben». Man könne sagen, ihre politische und moralische Glaubwürdigkeit sei damit dahin. Dann jedoch schlägt er sich unversehens auf ihre Seite: «Aber wir sind nicht hier, um eine politische und moralische Würdigung vorzunehmen.»

Das ist die eine Haltung an diesem Morgen: So fragwürdig ein Parteiwechsel auch sein mag – es ist nichts, was man mit einer Klage stoppen kann. Der SVP-Richter Müller sagt es so: «Auf ein politisches Problem muss man eine politische Antwort geben.»

Müller warnt vor einer «Verpolitisierung der Justiz». Ein Gericht könne nicht überprüfen, «wie viel GLP in einer GLP-Kandidatin steckt». Parteiwechsel seien nichts Aussergewöhnliches oder Verbotenes. Sie dürften darum auch kein juristisches Nachspiel haben.

Zerstörtes Vertrauen in die Demokratie?

Ganz anders sieht das der Bundesrichter François Chaix von der FDP – jener Partei also, die eigentlich von Garcias Manöver profitiert. Wer die Liste einer Partei einwerfe, müsse sich darauf verlassen können, damit auch Vertreter dieser Partei zu wählen, sagt er.

Dieser Gedanke – eine möglichst genaue Abbildung der Wahlresultate im Parlament – sei das Grundprinzip, nach dem in der Schweiz Parlamente besetzt würden. Wer es unterlaufe, «zerstört das Vertrauen der Bürger in die Demokratie».

Gleich sieht es der Richter Stephan Haag von der GLP; die Parteien, die im Fall Garcia auf gegensätzlichen Seiten stehen, sind auf der Richterbank überraschenderweise Verbündete.

Haag sagt: «Wählende wissen, wofür die Leute stehen, die sie wählen. Wer erst für den Kantonsrat kandidiert und dann die Partei wechselt, täuscht die Wählerschaft.» Sei das Manöver bereits vor den Wahlen geplant, handle es sich um eine «schwere Irreführung».

Es war die Frage, die über dem ganzen Verfahren schwebte: Wusste Garcia schon als GLP-Kandidatin, dass sie ihre Partei nach erfolgter Wahl verlassen würde?

Eine abschliessende Antwort darauf gaben die Lausanner Richter nicht. Doch äussert eine Mehrheit Zweifel an Garcias Darstellung, den Entschluss erst nach der Wahl gefasst zu haben.

Chaix zitiert gar aus einem NZZ-Interview, in dem Garcia ihre Beweggründe erläutert. «Pas très convaincant», ist sein Kommentar. Eine anwesende Delegation ehemaliger und gegenwärtiger Kantonsräte bricht daraufhin kurz in Gelächter aus.

«Das Votum, auf das wir alle warten»

Je länger die Urteilsberatung dauert, desto schärfer werden die Voten, desto angriffiger der Ton. Jede Seite wirft der anderen vor, die Rechte – mal der Parlamentarier, mal der Wähler – zu ignorieren.

Entspannt daneben sitzt jener Mann, der die Sache am Ende entscheiden wird: der Bundesrichter Laurent Merz von den Grünen. Er hat als Einziger seine Meinung noch nicht gemacht. Stattdessen erklärt er – «ausnahmsweise auf Deutsch, für die vielen Zürcher» – den rechtlichen Konflikt, der dem Fall zugrunde liegt. Und der ihm so viel Kopfzerbrechen bereitet.

Zwei Prinzipien stünden sich gegenüber, beide wichtig, beide in der Bundesverfassung verankert: zum einen das Recht von Parlamentariern auf die freie Ausübung ihres Mandats, das sogenannte Instruktionsverbot. Zum anderen das Recht auf freie Willensbildung der Wählerinnen und Wähler.

Keines der Rechte sei absolut, sagt Merz. Welches überwiege, sei eine Frage der Abwägung. «Das Instruktionsverbot hat seine Grenze dort, wo die Wahlfreiheit der Wähler beginnt.»

Aber war diese Grenze im Fall Garcia erreicht?

Merz sagt dazu nichts. Es folgt eine weitere lange Runde mit Argumenten. Dann endlich «das Votum, auf das wir alle warten», wie es der Gerichtspräsident Kneubühler formuliert.

Es wird still, und Merz verkündet, diesmal auf Französisch: Er stimmt der Beschwerde zu – und damit gegen Garcia.

Gefährlich – oder gut für die Demokratie?

Mit 3:2 beschliesst das Bundesgericht so, den Fall Garcia in die nächste Runde zu schicken. Anders als von ihren Kritikern gefordert, wird ihre Wahl allerdings nicht direkt aufgehoben. Die Bundesrichter geben stattdessen dem Verwaltungsgericht des Kantons Zürich den Auftrag, Garcias mutmassliche Täuschungsabsicht vor der Wahl genauer zu untersuchen. Erhärtet sich diese, müsste nach dem Willen des Bundesgerichts eine Aufhebung von Garcias Wahl erfolgen.

Wie genau das Verwaltungsgericht die Vorwürfe untersuchen soll, ist noch unklar – es ist die «Mission impossible», von der Kneubühler spricht. Möglicherweise wird die schriftliche Urteilsbegründung, die noch aussteht, hier Antworten liefern.

Jetzt schon klar ist, dass der Entscheid Folgen haben wird, und zwar über den Einzelfall hinaus. «Wir öffnen die Büchse der Pandora», mahnt der unterlegene Richter Müller. Auch die Zürcher FDP warnt in einer Medienmitteilung vor «weitreichenden Auswirkungen auf die Schweizer Politik» und spricht von einem «gefährlichen Präzedenzfall».

Die Mehrheit der Richter wie auch die Beschwerdeführer sehen es positiver: Die Rechte der Wählerinnen und Wähler würden gestärkt.

«Man kann sich nicht auf Platz 1 einer Wahlliste setzen lassen und dann nach den Wahlen eine Standortbestimmung durchführen», sagte Merz. Es sei wie immer im Leben: Handlungen hätten zuweilen halt Konsequenzen.

Ein Urteil mit Folgen

Das Urteil des höchsten Gerichts ist damit auch ein Signal an die Parlamentarierinnen und Parlamentarier im ganzen Land: Ihre Freiheit ist nicht absolut. Wo das Wahlsystem – wie in Zürich – den Proporzgedanken über alles stellt, sind die Parteien gegenüber den Gewählten nun in einer stärkeren Position.

Das Bundesgericht macht mit seinem Urteil klar: Es wird in solchen Fällen zuerst die Partei gewählt, dann die individuelle Kandidatin.

Die betroffene Isabel Garcia war am Tag des Urteils übrigens nicht vor Ort. Ihre neue Partei, die FDP, macht aber klar, dass die Niederlage keine Folgen für ihr politisches Mandat haben wird. Man stehe uneingeschränkt hinter Garcia, über das Urteil sei man «befremdet».

Der Student Benjamin Gautschi, der mit seiner Beschwerde obsiegte, meint dagegen: «Es ist ein guter Tag für die Demokratie. Die Wählenden haben nun die Chance auf eine Vertretung, die ihrem Willen entspricht.»

Wieder und wieder sagt Gautschi den Satz, in verschiedenen Varianten und in verschiedene Mikrofone, während sich der Platz vor dem Bundesgericht langsam leert. Weiter hinten, kaum bemerkt, laufen derweil drei der Bundesrichter aus dem Gebäude.

Sie, die eben noch gestritten haben, gehen munter schwatzend zusammen in Richtung Mittagspause.

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