Nach Jahrzehnten des Friedens ist der Krieg wieder da. Am Rand Europas. Und er könnte noch näher kommen. Der Militäranalyst Franz-Stefan Gady hat ein nüchternes, kluges Buch darüber geschrieben, was das für den Westen bedeutet.
Zunächst die gute Nachricht: Kriege sind kein Naturphänomen, das uns aus heiterem Himmel ereilt, ohne dass wir Einfluss darauf hätten. Vielmehr werden sie von Menschen herbei- und durchgeführt. Was bedeutet, dass man sie verhindern kann. Und selbst wenn der Krieg doch einmal ausgebrochen ist, liegt sein Wesen wie die Möglichkeit seiner Beendigung in Menschenhand.
Das war es dann aber auch schon mit dem Positiven. Die derzeitige Lage der Welt, wie sie der Militäranalyst Franz-Stefan Gady in seinem Buch beschreibt, sieht alles andere als rosig aus. Der Krieg ist nicht nur in Form des russischen Angriffs auf die Ukraine an die europäische Peripherie zurückgekehrt, sondern er wird dort voraussichtlich auch nicht haltmachen, sofern Putin nicht militärisch gestoppt wird. Grundsätzlich geht Gady davon aus, dass das 21. Jahrhundert eine kriegerische Epoche wird, sowohl global wie für Europa.
Deswegen hält er es im Wortsinn für existenziell, dass wir uns auch in Europa wieder mit dem Krieg befassen, und zwar in Politik und Gesellschaft gleichermassen. Der Pazifismus der vergangenen Jahrzehnte, allen voran jener im deutschsprachigen Teil Europas, hat sich für Gady nicht nur als naive Illusion herausgestellt, sondern auch als gefährlich. Er hat die europäische Sicherheits- und Verteidigungspolitik der wichtigsten Fähigkeit überhaupt beraubt: der glaubhaften militärischen Abschreckung.
Die Nato wird brüchiger
Diese, dafür plädiert Gady, gelte es umgehend wiederherzustellen, denn nur so lasse sich das wichtigste politische Ziel der kommenden Jahrzehnte erreichen: Kriege zu vermeiden. Das Risiko, dass sich daraus eine Rüstungsspirale mitsamt militärischem Eskalationspotenzial ergibt, sieht Gady für die westliche Welt nicht. Denn in Demokratien gehe die Verteidigungspolitik traditionell Hand in Hand mit der Aussenpolitik. Und der Diplomatie werde aus politischen wie ökonomischen Gründen stets der Vorrang eingeräumt.
Die USA werden laut Gady in den kommenden Jahrzehnten weiterhin die global dominierende Macht bleiben. Allerdings geht er davon aus, dass ihr Abschreckungspotenzial nachlassen wird. Auch werde die amerikanische Aussenpolitik unvorhersehbarer, unabhängig davon, wer die kommenden Präsidentschaftswahlen gewinnt. Das dürfte laut Gady dazu führen, dass die internationale Ordnungsfunktion von Einrichtungen wie den Vereinten Nationen oder der Nato brüchiger wird und die Kriegsgefahr zunimmt.
Gady erwähnt die «Thukydides-Falle», benannt nach dem antiken griechischen Historiker, der im 5. Jahrhundert v. Chr. darauf hingewiesen hat, dass das Kriegsrisiko immer dann besonders hoch sei, wenn eine aufstrebende Grossmacht danach trachte, einen etablierten Rivalen zu verdrängen. Die Parallele zur heutigen Rivalität zwischen den USA und China liegt nahe.
Unberechenbare Autokraten
Ein weiterer Grund trägt für Gady dazu bei, dass das Kriegsrisiko zunimmt: Das Handeln einer wachsenden Zahl von Autokraten und Diktatoren sei mit rationalen Massstäben nicht mehr erfassbar, sagt er. Es sei in erster Linie von deren Hochmut und von individuellen Zielen getrieben, die manchmal sogar im direkten Widerspruch zu den jeweiligen Staatsinteressen stünden.
Wen Gady hier vor Augen hat, ist leicht zu erkennen. Selbst wenige Stunden vor dem russischen Angriff auf die Ukraine war die überragende Mehrzahl westlicher Politiker, Militärs und Beobachter davon ausgegangen, dass Putin diesen auch für Russland schädlichen Schritt nicht tun werde, sondern allenfalls auf eine Drohkulisse setze, um weitere Verhandlungen zu erreichen.
Das wahrscheinlichste künftige Kriegsszenario ist für Gady die militärische Auseinandersetzung des Westens mit Russland und China. Das würde auf einen dritten Weltkrieg hinauslaufen. Europa fiele die Aufgabe zu, den Grossteil der Auseinandersetzung mit Russland zu bewältigen, während die USA sich im Pazifikraum engagierten. Innerhalb Europas sieht Gady vor allem Deutschland in der Verantwortung, die Etablierung einer neuen strategischen Kultur voranzutreiben, welche die Streitkräfte nicht nur militärisch befähigt, sondern sie auch zu einem integralen Bestandteil der Sicherheitspolitik macht.
Kein Krieg ohne Bodentruppen
Neue Technologien wie die Anwendung künstlicher Intelligenz in Waffensystemen, Drohnen oder die Vernetzung der Domänen Land, Luft und See durch moderne Satellitentechnik sind für den Krieg der Zukunft ebenso unerlässlich wie sowohl defensive als auch offensive Fähigkeiten im Cyberraum. Gleichwohl warnt Gady vor blinder Technikgläubigkeit. Die Realität der Kriege der jüngeren Vergangenheit lasse darauf schliessen, dass auch künftige militärische Auseinandersetzungen eher konventionell ausgefochten würden.
Kriege, heisst das, blieben primär Landkriege, bei denen Soldaten aus Fleisch und Blut an vorderster Front stünden. Das zeigt sowohl der Krieg in der Ukraine wie das Vorgehen Israels in Gaza. Auch beim israelischen Kampf gegen den radikalislamischen Hizbullah in Libanon gehen die Anzeichen dahin, dass ein Sieg ohne Einsatz von Bodentruppen nicht möglich erscheint.
Gady hat ein nüchternes Buch geschrieben. Er verknüpft das abstrakte Wissen des Militäranalysten klug mit den Erfahrungen des Augenzeugen an den Frontlinien in Afghanistan, im Irak sowie jüngst in der Ukraine. Die Grausamkeit des Krieges kennt er aus eigener Anschauung. Und er weiss, dass künftige Kriege stets noch blutiger und opferreicher werden als die vorangegangenen. Zwar verspricht jede neue Waffentechnik, präzise, räumlich begrenzte Schläge zu ermöglichen, zielt aber letztlich doch darauf ab, eine möglichst grosse Zahl von Menschen zu töten.
Die Furcht der Europäer vor einem neuen Krieg ist für Gady mehr als berechtigt. Umso wichtiger ist es für ihn, alles zu tun, um den Frieden zu bewahren und künftige Gemetzel zu vermeiden. Das wirksamste Instrument dafür, davon ist Gady überzeugt, ist eine glaubhafte militärische Abschreckung.
Franz-Stefan Gady: Die Rückkehr des Krieges. Warum wir wieder lernen müssen, mit Krieg umzugehen. Quadriga-Verlag, Köln 2024. 368 S., Fr. 35.90.