Mittwoch, Januar 15

Am 3. Dezember hat der südkoreanische Präsident Yoon Suk Yeol in einer Nacht-und-Nebel-Aktion das Kriegsrecht ausgerufen. Obwohl er mit seinen Plänen schnell scheiterte, war es ein fataler Schritt. Die vermeintliche Musterdemokratie ist nicht so gefestigt, wie sie scheint.

Es ist kalt derzeit in Korea, und es schneit immer wieder. Die Kälte spüren die Menschen mehr als sonst in diesen Tagen. Denn das Nachbeben jener Ereignisse, die sich im Dezember 2024 zutrugen, dauert an. Das Land ist in Aufruhr seit der Verkündigung des kurzlebigen Kriegsrechts am 3. Dezember durch Präsident Yoon Suk Yeol.

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Das Parlament hob, bevor Soldaten das Gebäude erstürmen konnten, das Kriegsrecht wieder auf, und ein Amtsenthebungsverfahren ist auch eingeleitet. Yoon ist suspendiert, das Verfassungsgericht befasst sich mit dem Fall und wird feststellen, ob er Verfassungsbruch begangen hat. Darüber, dass der Präsident sich des Hochverrats schuldig gemacht hat und darum aus dem Amt entfernt werden muss, herrscht weitgehend Konsens. Die beteiligten Generäle sind inzwischen verhaftet.

Es heisst, mindestens zwanzig Sterne seien vom Himmel gefallen. Der Rechtsstaat schien zu funktionieren. Man hätte beruhigt sein können. Aber niemand hatte erwartet, dass ausgerechnet der Präsident die Grundsätze der Demokratie, nämlich die Rechtsstaatlichkeit, torpedieren würde. Yoon weigert sich, der Vorladung der Ermittlungsbehörde zu folgen, und widersetzt sich dem Vollzug des Haftbefehls.

In der Residenz verschanzt

Nicht nur Journalisten beklagen Schlafmangel, die ganze Nation leidet daran. Die Nervosität nimmt zu. Mit Unverständnis, Wut und Ohnmachtsgefühlen blicken die Leute auf die weissgetünchte Residenz des Präsidenten, die auf einem hügeligen Gelände mitten in Seoul liegt. Dort hat sich der Präsident verschanzt, beschützt von ihm treu ergebenem Sicherheitspersonal, und zeigt sich seit einem Monat nicht. Er schickt seine Anwälte vor und sendet Briefe mit Durchhalteparolen an seine Anhänger.

Diese sind bekannt als «Taegukgi Budae», was so viel wie Nationalfahnen-Truppe bedeutet. Man erkennt sie an den koreanischen wie amerikanischen Nationalflaggen, die sie schwenken. Die Truppe besteht aus meist älteren Menschen, mehrheitlich Frauen über 65, mobilisiert von einigen reformierten christlichen Kirchen, die politisch am rechten Rand stehen. Sie werden mit Bussen aus ganz Korea hingefahren und wieder abgeholt. Es heisst auch, sie würden bezahlt. Der erste Versuch, den Haftbefehl zu vollziehen und den Präsidenten zu verhaften, ist gescheitert. Die Polizei bereitet den nächsten Versuch vor. Das Tauziehen dauert an, und alle blicken gebannt auf den Hügel, um den sich ein Belagerungsring gebildet hat.

Die Südkoreaner fühlen sich ohnmächtig und ratlos. Denn die schwere Staatskrise ist selbstgemacht. Das Volk hat, wenn auch knapp, mit Mehrheit den Präsidenten gewählt. Im Moment weiss niemand, wie alles enden und ob die Demokratie gestärkt oder beschädigt daraus hervorgehen wird. Es ist eine Art Eigentor, das plötzlich und mit schweren Folgen das Land trifft. Dabei haben die Koreaner in den letzten Jahren mit viel Stolz auf die eigene Nation geblickt. Man meinte, das Land sei eine Demokratie und auch eine Kulturnation. Die gegenwärtige Lage zeigt, wie leicht die Demokratie durch eine missliche Wahl in Schieflage geraten kann. Man weiss aber genau, dass die Lösung auf rechtsstaatlichem Weg erfolgen muss.

Perplex sind die Südkoreaner darüber, dass ausgerechnet ein Jurist, ein ehemaliger Generalstaatsanwalt, das Kriegsrecht ausruft und damit die Verfassung missachtet. Man wusste, dass Yoon erst beim neunten Mal die juristische Staatsprüfung bestanden hatte. Heute könnte er kein Jurist werden, da man die Prüfung nur zweimal wiederholen kann. Erschwerend kommt hinzu, dass er als Sonderstaatsanwalt gegen die ehemalige Präsidentin Park Geun Hye, die des Amtes enthoben wurde, Anklage erhoben und auch ermittelt hatte. Dass er sich besonders militaristisch gibt und längst abgeschaffte Militärparaden wieder einführte, wurde viel belächelt, da er sich erfolgreich vor dem Militärdienst gedrückt hatte.

45 Jahre verschont

Es ist bis heute nicht klar, warum Yoon diesen fatalen Schritt unternommen hat. Er wolle das Land vor den «von Nordkorea unterwanderten antinationalistischen Kräften» retten, behauptete er. Mit diesem Ausdruck hat er stets nicht nur die Opposition bezeichnet, sondern all jene, die gegen seine Politik sind.

Dennoch wurde das Kriegsrecht ganz unerwartet verhängt. 45 Jahre lang war das Land davon verschont geblieben. Man glaubte, das Militär sei inzwischen gezähmt und demokratisiert worden und unpolitisch geworden. Viele hielten die Meldung zunächst für Fake News und nahmen sie nicht ernst. Denn niemand hatte einen nationalen Notstand bemerkt, der einen solchen Schritt legitimiert hätte.

Wie überraschend alles kam, zeigt der Umstand, dass die Unterhaltungsprogramme in den meisten Fernsehkanälen eine ganze Weile weiterliefen. Die ersten Eilmeldungen tauchten auf dem Rollband des Bildschirms auf, wie es bei Naturkatastrophen üblich ist. Dann folgten die Bilder von Soldaten und von Bürgern, die, um das Parlament zu schützen, mitten in der Nacht herbeigeeilt kamen.

Anzeichen einer aufkommenden Krise gab es durchaus. Schon früh hatte der Autor und Publizist Yu Shi Min, der zu den wichtigsten Intellektuellen Koreas gehört, warnend darauf hingewiesen. Noch vor dem Amtsantritt hatte Yu besorgt geäussert, der Präsident könnte als Diktator enden. Seine intellektuellen Fähigkeiten seien beschränkt, aber er sei von der eigenen Grandiosität überzeugt, eine Kombination, die sehr gefährlich sei. Er besitze keine Vision für das Land und sei auch nicht in der Lage, zuzuhören und zu lernen.

In den Interviews und Diskussionen während des Wahlkampfes trat das Problem offen zutage. Der Präsident redet nur in Plattitüden, und das auch meist ohne Punkt und Komma. Seine Gedanken wirken ungeordnet, und sein Reden ist schweifend und ziellos. Man weiss am Ende nicht, was er gesagt hat. Bald hört man, er sei impulsiv und neige zu Wutausbrüchen. Dass er gern und viel trinkt, war schon lange bekannt.

Für viel Erstaunen sorgte er, als er als Kandidat bei Fernsehdebatten auf der Handfläche ein chinesisches Zeichen trug und dieses bewusst in die Kamera hielt. Es bedeutet «König» und ist eine Art Amulett, das eine magische Wirkung besitzen soll. Danach gefragt, wich er einer klaren Antwort aus.

Zweifelhafte Entourage

Tatsächlich umgaben er und seine Frau sich mit schamanistischen Wahrsagern und zweifelhaften Gurus. Es ist ein offenes Geheimnis, dass er sich mittels Youtube-Sendungen informiert, die rechtsextreme und aggressive Inhalte propagieren. Gemäss Yu lebt Yoon in einer Phantasiewelt, es sei ein grosses Unglück, dass er Präsident geworden sei. Je länger Yoon an der Macht war, desto deutlicher zeigte sich seine Unfähigkeit, das Land zu regieren. Er umgab sich systematisch mit Leuten, die ihm ähnlich sind. Seine Zustimmungsrate sank im letzten November unter zwanzig Prozent, und die Skandale, in die seine Frau involviert war, erregten das ganze Land.

Jedes Land hat, so scheint es, ein eigenes Krisenmuster. Die Geschichte spielt hierbei eine wichtige Rolle, weil sie bestimmte Konfliktfelder bereitstellt sowie das Denken und Handeln auf vorgespurte Bahnen lenkt. Korea schleppt die Militärdiktatur als historische Last mit sich.

Drei Jahrzehnte Militärherrschaft waren lang und prägend. Es gab Nutzniesser und Sympathisanten. Der Widerstand der Bevölkerung hat die Generäle zwar niedergerungen, aber der Demokratisierungsprozess vermochte nicht alle Strukturen restlos zu beseitigen.

Viele Faktoren verhindern die Aufarbeitung. Eine der Ursachen liegt darin, dass eine der beiden grössten Parteien, nämlich die konservative, die Nachfolgerin jener Partei ist, die von militärischen Machthabern gegründet, finanziell versorgt und mit politischer Macht ausgestattet wurde. Bis heute hat diese Partei weder das eigene unrühmliche Erbe reflektiert noch sich eindeutig von der zweifelhaften Vergangenheit distanziert. Dass sie auch nie aktiv an der Demokratiebewegung mitgewirkt hat, kommt erschwerend hinzu.

Verwunderlich ist daher kaum, dass sowohl die entlassene Präsidentin Park als auch der suspendierte Yoon Mitglieder der konservativen Partei sind. Passend dazu hat die Mehrheit der Partei gegen die Amtsenthebung von Yoon gestimmt und stellt sich hinter ihn, der das Kriegsrecht als legitimes politisches Mittel verteidigt. Die Schuld trage die Oppositionspartei, behauptet man, die durch die Behinderung der Regierungsarbeit den Präsidenten dazu getrieben habe.

Yoon konnte der Kandidat der konservativen Partei werden, weil diese, anders als die liberale Partei, einen sehr beschränkten Personalpool hat. Ein Quereinsteiger ohne politische Erfahrung findet hier eine Chance. Die Koreaner meinen, man habe eine Katze im Sack gekauft.

Hoo Nam Seelmann lebt als Publizistin mit Schwerpunkt Korea und Ostasien in Riehen.

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