Freitag, Januar 17

Die bisherige Weltordnung zerfällt, ein neuer Konflikt zwischen Ost und West hat begonnen. Es reiche nicht aus, nur auf militärische Abschreckung zu setzen, sagt der Historiker Andreas Rödder. Notwendig sei auch eine Erneuerung der bürgerlichen Gesellschaft.

Herr Rödder, die regelbasierte internationale Ordnung ist Geschichte. Da sind sich alle einig. Aber ist es nicht die amerikanische Hegemonie, die zu Ende gegangen ist – mit dem Abzug der Amerikaner aus Afghanistan und dem russischen Angriff auf die Ukraine?

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Nein, eine wirkliche amerikanische Hegemonie gab es nur für ein gutes Jahrzehnt. Es war der sogenannte unipolare Moment von 1989 bis zum 11. September 2001 beziehungsweise zum Irakkrieg von 2003. Mit dem «Krieg gegen den Terror» begann der Umschwung: «freedom agenda», Demokratieexport und «regime change» haben die Idee der liberalen Ordnung überspannt, indem sie die liberale Ordnung nicht nur zwischen den Staaten aufrechterhalten, sondern auch innerhalb anderer Länder verbreiten wollten.

Dann kam 2008 die Weltfinanzkrise . . .

. . . und sie machte das westliche Gesellschaftsmodell nicht zuletzt in China unglaubwürdig. Seitdem materialisieren sich der russische und der chinesische Revisionismus. Die USA blieben zwar die dominante Weltmacht. Aber der unipolare Moment ihrer Vorherrschaft war vorbei.

Der Philosoph Hermann Lübbe sprach von einer «Atempause der Weltgeschichte», Francis Fukuyama sogar von deren Ende. Das waren schon damals erkennbar Fehldiagnosen. Es gab einen neuen Nationalismus und in Jugoslawien blutige Kriege (1991–1999).

Ja, das war eine Fehldiagnose. Genauso wie die Vorstellung, Gewalt künftig einhegen zu können, sowohl zwischen Staaten als auch innerhalb von Staaten durch die «internationale Schutzverantwortung». Das erwies sich als Illusion. Aber wir sollten im Rückblick nicht überheblich sein. Der Fall der Mauer, der Handschlag zwischen Arafat und Rabin 1993, das Ende der Apartheid in Südafrika 1994: Das waren gute Gründe, optimistisch zu sein. So wie der Optimismus von damals überzogen wirkt, könnte unser Pessimismus heute angesichts der Kriege in der Ukraine und in Gaza übertrieben sein.

Ist die ideologische und machtpolitische Expansion des Westens – Stichwort Nato-Osterweiterung – die Ursache für den imperialen Revanchismus von Russland?

Nein, der eigentliche Grund für das Ende der «Ordnung von 1990» ist die unbewältigte Niederlage der Sowjetunion im Kalten Krieg. Sowohl in Russland als auch in China haben imperiale Vorstellungen überdauert, die mit der liberalen Ordnung nicht vereinbar sind. Denn diese beruht auf der Integrität souveräner Staaten. Das bedeutete damals: Die Osteuropäer suchten Schutz vor Russland beim Westen, in der Nato also. Der Westen stand vor einem Dilemma: entweder das russische Grossmachtinteresse zu respektieren oder den Wunsch der souveränen Staaten in Osteuropa nach Sicherheit.

Dazwischen gab es nichts?

Nun ja, der Westen hätte klarer zur Kenntnis nehmen können, dass die Osterweiterung für Russland ein Problem ist – aber das schien den Amerikanern nicht wirklich nötig. Das Land wurde, wie Präsident Obama zur Empörung von Putin sagte, als eine Regionalmacht betrachtet. Man war nicht gezwungen, auf Moskau Rücksicht zu nehmen, und tat es letztlich auch nicht. 2008 traf die Nato dann eine fatale Entscheidung: Der Ukraine wurde der Nato-Beitritt in Aussicht gestellt, das war für Putin das Überschreiten einer roten Linie. Aber dennoch gab man Kiew keine Sicherheitsgarantien. Damit rutschte das Land in eine gefährliche Grauzone.

Wie hätte eine funktionierende Lösung aussehen können?

Eine vorausschauende Entscheidung wäre gewesen, der Ukraine konkrete Sicherheitsgarantien zu geben ohne die Zusage des Nato-Beitritts. So hätte man versuchen können, den Zielkonflikt zwischen den russischen Ansprüchen und jenen der Osteuropäer zu moderieren und passendere Lösungen zu finden. Ob und wie die in der Praxis funktioniert hätten, ist allerdings eine andere Frage, die sich nicht seriös beantworten lässt. Aber was wir aus der historischen Perspektive tun können, ist, Räume des Möglichen aufzuzeigen.

Deutschland wird zu Recht für seine strategisch falsche Russlandpolitik gerügt. Es machte sich von russischer Energie abhängig. Die Polen und Balten weisen immer wieder darauf hin. Aber auch sie machten Fehler, indem sie den amerikanischen Angriff auf den Irak 2003 unterstützten, dessen Nachbeben wir bis heute spüren.

Die Osteuropäer stützten sich damals wie heute für ihre Sicherheit auf die USA – die bedingungslose Unterstützung des Irakkriegs ist deshalb nachvollziehbar. Gleichwohl war es der grösste strategische Fehler der USA seit dem Ende des Kalten Krieges. Deutschlands Ablehnung dieses Krieges hat sich in der Sache als richtig herausgestellt. Aber gleichzeitig schlug es damals einen Sonderweg an der Seite Frankreichs und Russlands ein, der es von den USA entfremdete. Diese «Aussenpolitik der freien Hand» wurde unter Merkel noch verstärkt. Das weckte bei den Partnern Misstrauen, wenn es um Deutschlands Bündnistreue ging – und das bezahlen die Deutschen heute teuer.

Nämlich wie?

Die Aussenpolitik der freien Hand bedeutete, dass Berlin seine ökonomischen Interessen im Alleingang mit Russland verfolgte – Stichwort Nord Stream –, und zwar gegen den Willen der Bündnispartner. Gleichzeitig reduzierte es seine Verteidigungsanstrengungen. Das hat den Deutschen den Vorwurf eingebracht, dass sie unsolidarisch seien, weil sie ihre Wirtschaftsinteressen egoistisch in den Vordergrund stellten. Das ist keine strategisch tragfähige Haltung für eine Mittelmacht in Europa.

Die Welt verändert sich immer schneller durch Digitalisierung und künstliche Intelligenz. Dennoch fehlen zukunftsgerichtete politische Ideen. Alle schauen zurück: Trump will Amerika wieder gross machen, Putin und Xi vergangene Imperien auferstehen lassen. Ist das kein Widerspruch?

Nicht unbedingt. Die Beschleunigung der Veränderung macht vielen Menschen Angst, und sie suchen Sicherheit in einer scheinbar besseren Vergangenheit. Das ist gefährlich. Als Historiker weiss man, dass das verlorene Paradies nie eines war. Auf der anderen Seite schlug der Fortschrittsoptimismus des 19. Jahrhunderts nach dem Ersten Weltkrieg in die totalitären Ideologien des 20. Jahrhunderts um. Die Hoffnung auf einfache Antworten und eindeutige, endgültige Lösungen, egal, ob nostalgische oder utopische, ist eine Versuchung, die sich historisch aber nie ausgezahlt hat.

Gibt es da einen Ausweg?

Ja, ich glaube schon: die Rückbesinnung auf das Modell der bürgerlichen Gesellschaft. Sie war der wirkliche historische Game-Changer, ohne einen neuen Menschen oder eine andere Welt erschaffen zu wollen, und vor allem ohne Kollektivismus. Die bürgerliche Gesellschaft geht vielmehr vom Individuum aus: Die Position des Einzelnen soll nicht von Stand und Herkunft abhängen, sondern von der Qualifikation und dem freien Willen der Person. Ich bin überzeugt davon, dass dieses Modell noch immer vital und zukunftsfähig ist. Aber es tritt zurzeit zurück hinter der Furcht vor scheinbar entfesselten, nicht mehr beherrschbaren Entwicklungen, sei es die militärische Aufrüstung oder technologische Innovationen wie KI.

Zukunftsangst ist ja kein neues Phänomen . . .

Ja, auch schon im Ersten Weltkrieg erlebten die Soldaten auf traumatische Weise die Zerstörungsgewalt der modernen Technologie in Gestalt von Maschinengewehren, Panzern und Giftgas. Heute ist die Wiederbelebung des bürgerlichen Gesellschaftsmodells den neuen kollektivistischen Konzepten vorzuziehen. Die gibt es auf der linken Seite als Gemeinschaft der Vulnerablen, die Gesellschaft nach Opfergruppen sortiert, und auf der rechten Seite als neue völkische Gemeinschaften. Und daneben steht der Traum vom untergegangenen Reich, wie er in Russland und in China als Herrschaftsideologie gepflegt wird.

Was Sie die Revitalisierung von Bürgerlichkeit nennen – ist das ein Rezept für die westliche Welt, oder sehen Sie das als globales Projekt?

Nein, ich sehe gar keine globalen Projekte mehr. Der Westen tut gut daran, künftig auf Entwicklungskonzepte für den Rest der Welt zu verzichten. Wir sollten auf einer liberalen Ordnung zwischen den Staaten bestehen, das heisst an Selbstbestimmung und Souveränität festhalten. Aber wir müssen darauf verzichten, die liberale Ordnung, also Demokratie und offene Gesellschaft oder gar Ideen wie Diversität und Gleichstellung, in anderen Staaten einzufordern. Das wird in vielen Ländern, und gerade in China, als Bevormundung abgelehnt. Die Aufgabe unserer Zeit ist die Selbstbehauptung des Westens. Wir tun gut daran, uns darauf zu konzentrieren und das eigene Haus in Ordnung zu bringen.

Sie beobachten einen neuen Ost-West-Konflikt: der Westen gegen die Neo-Imperien China und Russland. Der Politikwissenschafter Herfried Münkler sieht dagegen eine neue, multipolare Welt entstehen. Neben den USA und China mit Russland, Indien und der EU als Mächten.

Natürlich gibt es mehr als den einen Konflikt zwischen Ost und West. Aber der dominante Gegensatz besteht heute zwischen den revisionistischen Mächten des globalen Ostens, also China, Russland, Nordkorea und Iran, einerseits und den Mächten des globalen Westens anderseits, zu denen neben den USA und Europa auch Länder wie Japan, Australien, Neuseeland oder Taiwan gehören. Der globale Osten versucht, die von den USA dominierte liberale Ordnung zugunsten von hegemonialen Einflussgebieten zu überwinden. Dazwischen gibt es Mittelmächte wie die Türkei, die sich je nach Interessenlage einmal auf die eine, dann wieder auf die andere Seite schlagen.

Viele Menschen haben heute Angst vor einem neuen Weltkrieg. Ist das übertrieben?

Nein, die Gefahr ist ganz real. Die Kriege in der Ukraine und im Nahen Osten haben einen gemeinsamen Kern. Es ist der Kampf um hegemoniale Einflusssphären, in dem Russland das Lebensrecht der Ukraine ablehnt, Iran das Existenzrecht Israels und China das Existenzrecht Taiwans. Die Lehre daraus für den Westen ist die gleiche wie im Kalten Krieg. Er muss Stärke nach aussen und Stärke von innen beweisen. Letzteres ist allerdings noch schwieriger zu erreichen als die glaubwürdige Abschreckung. Entscheidend ist die Revitalisierung der westlichen Demokratien. Die in vielen Ländern herrschende politische und gesellschaftliche Polarisierung hingegen schwächt die Widerstandskraft des Westens.

Der Westen muss aufrüsten, doch ist das politisch durchsetzbar, wenn das Geld dafür beim Sozialstaat eingespart wird?

Die Antwort des Ordoliberalismus ist klar. Wir brauchen einen starken Staat für die primären Staatsaufgaben und setzen im Übrigen die Regeln für den Markt. Im Kalten Krieg hat man den Wohlfahrtsstaat ausgebaut und die Bevölkerung für den Staat und seine Verteidigung gewonnen. Heute aber mangelt es in Ländern wie Deutschland oder Frankreich keineswegs an sozialer Sicherheit. Die Sozialsysteme sind vielmehr überdehnt und müssen effizienter gestaltet werden, um zukunftsfähig zu werden, allein schon wegen der demografischen Entwicklung. Zugegeben, es ist eine schwierige Herausforderung, die Verteidigungsfähigkeit zu stärken und bei den Sozialsystemen einzusparen. Aber es gibt dazu keine Alternative, wenn die westlichen Gesellschaften überleben wollen. Und darum geht es.

Andreas Rödder: Der verlorene Frieden. Vom Fall der Mauer zum neuen Ost-West-Konflikt. C. H. Beck 2024.

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