Am 23. April bebte im Marmarameer die Erde. Das hat die Spannungen in der Erdkruste neu verteilt. Wissenschafterinnen wagen erste Aussagen dazu, was das für die 16-Millionen-Stadt Istanbul bedeutet.

Als die Erde am 23. April im Westen der Türkei bebte, rannten viele Menschen auf die Strasse. Manche sprangen sogar vor Angst aus ihren Häusern. Es gab mehr als 350 Verletzte, aber keine Todesopfer. Viele Einwohner übernachteten in der folgenden Nacht im Freien, weil sie Nachbeben befürchteten – oder sogar ein noch schwereres Hauptbeben.

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Das Epizentrum des Erdbebens mit einer Stärke von 6,2 lag nämlich mitten im Marmarameer, unweit von Istanbul. Das ist eine ominöse Stelle. Fachleute hegen schon seit Jahren die Befürchtung, dass der Millionenmetropole am Bosporus eine grosse Bebenkatastrophe mit Zehntausenden von Todesopfern bevorstehe.

Das Ereignis vom 23. April könnte ein Vorbote gewesen sein. Wissenschafterinnen sagen, dass es womöglich die Wahrscheinlichkeit eines schweren Bebens erhöht habe.

Die Nordanatolische Verwerfung ist bei der Stadt blockiert

Istanbul befindet sich nur 20 Kilometer nördlich der Nordanatolischen Verwerfung. Dieser 1500 Kilometer lange Bruch in der Erdkruste im Norden des Landes zieht sich quer durch die Türkei. An diesem Bruch schieben sich zwei Erdplatten aneinander vorbei und verursachen dabei immer wieder Erdbeben.

Für Istanbul bedeutsam ist ein Stück der Verwerfung im Marmarameer. Das östliche Teilstück ist blockiert, dort hat es seit Jahrhunderten keine Erdbeben gegeben. Das westliche Teilstück hingegen «kriecht», wie die Seismologen sagen. Das heisst, es bewegt sich kontinuierlich, wenn auch sehr langsam. Das Erdbeben Ende April mit der Stärke von 6,2 ereignete sich genau am Übergang zwischen dem kriechenden Teil und dem blockierten Teil der Verwerfung.

Patricia Martínez-Garzón arbeitet am Helmholtz-Zentrum für Geoforschung (GFZ) in Potsdam. Das jüngste Erdbeben bringe den blockierten Teil der Nordanatolischen Verwerfung bei Istanbul näher ans Aufbrechen, sagte sie Ende April an einer Tagung der European Geophysical Union in Wien. «Die durch das Beben freigesetzten Spannungen belasten die Verwerfung zusätzlich – um wie viel, ist aber schwer zu sagen.» Das nächste grosse Erdbeben vor Istanbul könnte etwas früher kommen, aber niemand wisse, wann genau das passieren werde.

Erdbeben sind plötzliche Ereignisse, dazwischen verstreicht oft viel Zeit. Um zu verstehen, wie die Gefahr immer neu anwächst, muss man sich mit den langfristigen Veränderungen in der Erdkruste beschäftigen.

Die Spannung baut sich über Jahrhunderte hinweg auf

An der Nordanatolischen Verwerfung schieben sich die Anatolische Platte im Süden und die Eurasische Platte im Norden aneinander vorbei – im Durchschnitt mit einer Rate von 18 Millimetern pro Jahr. Diese Rate kommt durch Erdbeben, langsames Rutschen und Verformungen in der Erdkruste zustande. Ist die Verwerfung verhakt, staut sich der Druck. Jahrelang, jahrzehntelang, jahrhundertelang. Bis er durch ein Erdbeben wieder frei wird.

Das letzte sehr grosse Beben im Marmarameer nahe Istanbul ereignete sich im Jahr 1766. Es besass eine Stärke von ungefähr 7,1. Viele Gebäude stürzten ein, es gab ungefähr 4000 Todesopfer. Allerdings lebten damals nur ungefähr eine halbe Million Menschen in der Stadt. Heute sind es mehr als 16 Millionen.

Seit 1766 habe sich bei Istanbul eine Spannung angesammelt, die einer Verschiebung um 4,7 Metern entspreche, schreiben die Bebenforscher Judith Hubbard und Kyle Bradley von der Cornell University in Ithaca im Gliedstaat New York auf ihrer Website. Es sei zwar möglich, dass sich ein Teil dieser Spannung in kleineren Ereignissen oder in einer Kriechbewegung entladen habe. Aber die Indizien deuteten darauf hin, dass ein grosser Teil der Spannung noch in der Erdkruste vorhanden sei.

Meistens bricht die Erde in Richtung Istanbul auf

Wie deutlich wird das kommende grosse Erdbeben in Istanbul zu spüren sein? Darüber entscheidet nicht nur seine Stärke. Wichtig ist auch ein räumlicher Faktor: Bricht die Verwerfung in Richtung der Stadt auf, fallen die Erschütterungen dort besonders heftig aus.

Martínez-Garzón hat Erdbeben der Vergangenheit in dieser Hinsicht analysiert. Demnach sei bei 72 Prozent von 31 untersuchten Beben die Verwerfung Richtung Nordosten aufgebrochen, auf die Stadt zu. Auch beim jüngsten Erdbeben Ende April sei dies so gewesen.

Die Nordanatolische Verwerfung wird bei Istanbul zwar mit vielen Sensoren an Land überwacht – mit Seismometern und GPS-Instrumenten zum Beispiel. Es wäre aber gut, noch mehr Instrumente in der Nähe der Verwerfung zu haben, sagte Martínez-Garzón. Unterwassersensoren etwa.

«Dunkle Kabel» für zusätzliche Messungen

Ein hohes Potenzial, die Überwachung zu verbessern, haben auch neue Technologien. Zum Beispiel eignen sich faseroptische Kabel von Telekommunikationsfirmen für seismologische Messungen. Für die Forschung interessant sind nicht benutzte Kabel, die als «dark fibers» bezeichnet werden, als «dunkle Kabel» also.

Laura Pinzón-Rincón, ebenfalls vom GFZ in Potsdam, berichtete an der Tagung in Wien von ersten Testergebnissen mit solchen «dark fibers». An Land sind 17 Kilometer Kabel für die Forscher verfügbar, im Meer 34 Kilometer. Aus der Laufzeit von reflektierten Lichtsignalen im Kabel lässt sich die Intensität von Bodenbewegungen berechnen. Solche Messungen können verraten, in welchen Stadtvierteln der Boden ein Erdbeben verstärken würde. Dort entstünden besonders grosse Schäden.

Die Kabelmessungen haben eine hohe räumliche Auflösung: An Land gibt es pro Meter einen Messpunkt, unterseeisch alle acht Meter. Schön wäre es, könnte man noch mehr solcher Kabel für die Überwachung nutzen, sagte Pinzón-Rincón.

Die Nachbeben nach dem Erdstoss vom 23. April sind inzwischen weitgehend abgeklungen. Aber es ist nur eine Frage der Zeit, bis sich nahe Istanbul das nächste Erdbeben ereignet, möglicherweise ein ganz grosses.

Jetzt heisst es warten, messen – und sich vorbereiten. Seit Jahren laufen darum Projekte, Stadtviertel besser gegen Erdstösse zu schützen, indem Gebäude entweder abgerissen oder verstärkt werden. Doch dieser Prozess ist noch lange nicht abgeschlossen. Es handelt sich um einen Wettlauf mit der Zeit.

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