Mittwoch, Oktober 9


Modetrend

Die Turnschuhe mit Keilabsatz waren einst Verkaufsschlager und polarisierender Megatrend. Nun bahnt sich eine Renaissance an.

Die junge Frau reisst das Paket schon auf der Strasse auf. Zerrt am Plastik und am breiten Klebeband, als warte darin die Erlösung oder zumindest ein Lottogewinn. Doch durch das immer grösser werdende Loch blickt bald etwas, das bei manchen Menschen unweigerlich ein Schaudern auslösen wird: ein Paar Wedge-Sneakers von der französischen Designerin Isabel Marant in Beige. Secondhand, natürlich.

Das Video ist eines von vielen auf der Social-Media-Plattform Tiktok, die die Schuhe zum Trend hochstilisieren. «I’m in love» schreibt eine junge Frau, die ein «Unboxing» eines olivgrünen Paars gepostet hat. «BIGGEST COMEBACK OF 2024» hat eine andere fett über einer Montage aus Bildern des kontroversen Schuhmodells getippt.

Lange Beine und winzige Füsse

Erstmals 2011 lanciert, stehen die Wedge-Sneakers für ihre Zeit wie kaum ein anderes Paar Schuhe. Auf dem damals erst zweijährigen sozialen Netzwerk namens Instagram konnte man den Schuhen des französischen Labels nicht entkommen. Stars wie Beyoncé und Blogger wie Chiara Ferragni trugen sie («Influencer» sagte damals noch niemand, und Ferragni hatte sich noch nicht mit dubiosen Panettone-Aktionen ins Abseits manövriert).

Die Wedge-Sneakers wurden zum globalen Phänomen mit langen Wartelisten. Man trug sie zur Fashion Week und am Coachella, aber auch einfach zur Arbeit. Die britische «Vogue» lobte sie überschwänglich als «ein wahrer Retter. Sie verlängern die Beine und lassen die Füsse winzig aussehen, sind aber trotzdem beeindruckend bequem und wirken nie angestrengt.» Besser könnte man die Unterkörper-Schönheitsideale der Zeit nicht zusammenfassen.

Doch das hybride Dasein der Schuhe – halb High Heel, halb Turnschuh – eckte auch an. Die Wedge Sneakers waren der originale «Ugly Sneaker», sind viele sich heute einig. Auf einem Blogpost im März 2012, in dem nach der Meinung der Leser zu den Schuhen gefragt wird, lautet der einzige Kommentar schlicht «eww» – «igitt». 2014 distanzierte sich selbst Isabel Marant davon, wenn auch nur temporär.

«Sie sind zu etwas sehr Vulgärem geworden, und ich habe nicht das Gefühl, dass ich die Wedge-Sneaker-Designerin sein möchte», sagte sie zu «The Cut». Die klassische Übersättigung aufgrund unzähliger Kopien von Marken wie Jeffrey Campbell und Nike liess den Schuh bald fast ganz verschwinden. Kaufen konnte man den Schuh zwar immer, und Isabel Marant brachte 2021 sogar eine neue, höhere Version auf den Markt. Doch auch das schien dem Schuh nicht zu helfen.

«Das sind nicht Tiktok-Schuhe!»

«Ich fand sie hässlich und klobig», sagt auch Elif Gündüz via Zoom aus Wien. Die 26-jährige Fotografin und Kreativdirektorin war ein Teenager in der Türkei, als die Sneakers erstmals erschienen. Sie sah sie auf dem sozialen Netzwerk Tumblr und am damals vergötterten «Model Off Duty»-Look: In Paparazzifotos trug das Victoria’s-Secret-Gesicht Miranda Kerr ihren Sohn auf den Armen und die Wedge-Sneakers an den Füssen. Schauspielerin Kerry Washington eröffnete darin ein Baseballspiel der Los Angeles Dodgers; Anne Hathaway kaufte Blumen.

Doch erst als Gündüz sie vor einigen Jahren auf Social Media wiederentdeckte, betrachtete sie die Sneakers unvoreingenommen. «Sie haben eine Dreidimensionalität, die ins Auge sticht und die ihrer Zeit sehr voraus war», erklärt sie. «Die Farben machen sie speziell, und die Zunge ist total einzigartig – riesig, wie ein Kissen. Ein Monster!»

Gündüz kaufte ihr erstes Paar – das Modell Beckett von Isabel Marant – vor sechs Wochen für 25 Euro auf einer Wiener Secondhand-Plattform. Es ist mehrfarbig, mit blauen, roten, pink, beigen und weissen Elementen, der besagten Schuhzunge und den charakteristischen Klettverschlüssen. Die frühere Besitzerin habe sie kaum getragen, sagte diese bei der Übergabe, weil ihr Mann die Schuhe nicht mochte.

«Mit solchen Stücken ist ein weiblicher Blick verbunden», sagt denn auch Gündüz. Die Schuhe zu tragen, sei eine Art Rebellion. Und eine Herausforderung, denn sie veränderten die Silhouette und verlangten nach reichlich Überlegung.

Die Reaktionen, die Gündüz auf Social Media und im echten Leben erhält, sind vielfältig. «Freunde in meinem Alter erkennen sie sofort», sagt sie, «aber die jüngere Generation kennt sie als Tiktok-Schuhe. Ich sage dann immer: ‹Das sind nicht Tiktok-Schuhe!›»

Besessen von einem Sneaker

Aber ja, die Beliebtheit des Wedge-Sneakers auf der Plattform ist unbestritten. Jahre vor der Tyrannei der Algorithmen geboren, ist er erstaunlich gut dafür geeignet: Er ist unverwechselbar, schnell auffindbar (das Eintippen von «Isabel Marant» reicht) und provoziert eine Reaktion, ob man ihn nun von damals kennt oder ihn zum ersten Mal sieht.

Wenn Perrine Codaccioni, eine 23-jährige Masterstudentin aus Paris, ihre Tiktok-Videos betrachtet, sind es diejenigen mit ihren Wedge-Sneakers von Isabel Marant, die am meisten geschaut werden (bis zu 450 000 Mal). «J’adore», lauten manche Kommentare. «I’m scared», schreiben andere. «Der Trend ist explodiert», sagt Codaccioni in einem Zoom-Gespräch. Sie sitzt in New York City, wo sie derzeit studiert. «Ich habe noch nie erlebt, dass die Leute so schnell von einem Schuh besessen waren.»

Codaccioni spricht auch von sich selbst. Sie hat soeben ihr fünftes Paar gekauft. Ihre Sammlung ist ausschliesslich aus zweiter Hand und bunt: gelb, schwarz, rot, weiss. Für sie sind die Sneakers ein Paradebeispiel dafür, wie Trends funktionieren: «Wenn sie zurückkommen, mischen wir sie neu, passen sie dem aktuellen Geschmack an. 2012 hätte man die Schuhe nie mit Baggy Pants gesehen», sagt Codaccioni, sichtlich begeistert. Dazu seien sie so unwahrscheinlich bequem.

Kommen jetzt die 2010er Jahre zurück?

Trotz dem Tiktok-Hype und steigenden Wiederverkaufspreisen haben sowohl Perrine Codaccioni als auch Elif Gündüz die Schuhe noch nie in freier Wildbahn gesehen. Auch Marc Nievergelt und Roland Kessler, Besitzer des Zürcher Secondhandmode-Geschäfts Maroni Vintage, können nicht von einem Ansturm sprechen. Ein Paar camelfarbene Wedge-Sneakers von Chloé steht dort seit einigen Wochen auf einem Regal und wartet auf eine neue Besitzerin. Das könnte zwar auch der kleinen Schuhgrösse geschuldet sein, meinen die beiden Besitzer bei einem Besuch in ihrem Geschäft.

Denn ein Comeback der kontroversen Silhouette würde Nievergelt und Kessler nicht überraschen. Sie arbeiteten beide für das Zürcher Modegeschäft Fidelio, als die Sneakers von Isabel Marant erstmals lanciert wurden. «Die haben sich verkauft wie warme Weggli», erinnert sich Kessler. Und Nievergelt ergänzt: «Wir haben ständig Nachbestellungen gemacht.»

Trotzdem könnte das gegenwärtige Interesse am Wedge-Sneaker vor allem ein Vorbote für etwas Grösseres sein. Bei Maroni Vintage nehmen die Anfragen für Mode aus den zehner Jahren stetig zu: «Die Fashion-Leute wollen alle wieder schmale Hosen», sagt Marc Nievergelt. Auch auf den Laufstegen für Herbst/Winter 2024 waren vereinzelt Skinny Jeans (Miu Miu), Jeggings (Balenciaga) und Wedge-Sneakers (Ottolinger) zu sehen.

Elif Gündüz verspürt derweil eine ganz praktische und dennoch ambivalente Veranlagung hin zu engeren Hosen: Damit käme der Wedge-Sneaker einfach besser zur Geltung. Und ob man das mag oder nicht, es ist auch ein Stückchen Modegeschichte, das damit hervorblitzt. Gündüz schwört, ihr Exemplar nie verkaufen zu wollen: «Für mich ist es ein Meilenstein und eine Art Designobjekt», sagt sie.

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