Dienstag, Oktober 22

Am Dienstag eröffnet Wladimir Putin im russischen Kasan das Gipfeltreffen der Brics-Staaten. Wie aus dem Claim eines Bankers eine politische Kraft wurde, die nun die Weltordnung bedroht.

Am Anfang stand eine Anlageempfehlung. Und ein Mann, der eine atemberaubend steile Bankkarriere gemacht hatte: Jim O’Neill, 1957 als Sohn eines Postboten in bescheidenen Verhältnissen in Manchester geboren, studierte Volkswirtschaft und wurde nach einigen Berufsjahren, unter anderem beim Schweizerischen Bankverein, Chefökonom der amerikanischen Investmentbank Goldman Sachs.

Im Jahr 2001, nach den Terroranschlägen von 9/11, war für Jim O’Neill klar, dass die USA und Europa zum Abstieg verdammt seien, die westliche Dominanz bald abgelöst oder zumindest ergänzt werden müsste. Als entscheidende Akteure einer sich neu entfaltenden Weltwirtschaft machte er die aufstrebenden und bevölkerungsreichen Schwellenländer China, Indien, Brasilien und Russland aus. Sie würden weiter von der Globalisierung profitieren, befand O’Neill, ja sie könnten gar zu deren Wachstumslokomotive werden. In einem knapp zehnseitigen Aufsatz sagte er ihnen eine goldene Zukunft als Wirtschaftsgrossmächte voraus. Seinen Kunden empfahl er, ihr Geld auf diese Märkte zu setzen.

Die These, dass diese Länder, vor allem China, wirtschaftlich stark wachsen dürften, war keineswegs neu. Revolutionär war hingegen der Claim für das Quartett, der sich an den Finanzmärkten kommunizieren liess.

In der Werbung sind die einfachsten Lösungen die genialsten. O’Neill nahm die Anfangsbuchstaben der vier Staaten und bildete das Akronym Bric – was klingt wie das englische Wort für Ziegelstein. Mit den Brics (das «s» markierte den Plural) konnte man die Zukunft bauen, so seine Losung: «Building Better Global Economic Brics». Und der Grundstein für milliardenschwere Anlageprodukte war gelegt.

O’Neill hatte den richtigen Riecher und wurde zum «Rockstar» der Branche («Businessweek»). Von 2001 bis 2013 stieg die Wirtschaftsleistung dieser Staatengruppe von 3 Billionen auf 15 Billionen Dollar. Und übertraf damit alle Erwartungen. Investoren verdienten viel Geld.

Aber auch die aufstrebenden Staaten erkannten die Chance, das neue Label zu nutzen, um ihren Einfluss auf der Welt zu vergrössern. So entstand aus dem Kunstgebilde des Bankers O’Neill nebenbei eine reale politische Kraft. Und wie wir heute wissen: aus einer Marketingidee eine Herausforderung für den Westen.

Totgesagte leben länger

Doch dass es dazu kommen sollte, wurde erst allmählich deutlich. Zunächst trafen sich Vertreter der Brics-Staaten nur zu informellen Gesprächsrunden, meist am Rande grosser Gipfel. 2009 lud Russland zur ersten formellen Zusammenkunft nach Jekaterinburg. Das war kein zeitlicher Zufall. Im Jahr zuvor hatte die Finanzkrise die Weltwirtschaft ins Wanken gebracht. Sie sei Beweis dafür, dass die wichtigsten Schwellenländer besser zusammenarbeiten müssten, um zu verhindern, dass der Westen weiter ihre Entwicklung kontrolliere, wie es am Brics-Gipfel hiess. Es war auch die Zeit, nachdem Wladimir Putin seine Abkehr vom westlichen Wertesystem verkündet hatte, etwa in seiner Rede an der Münchner Sicherheitskonferenz 2007: «Ich denke, dass für die heutige Welt das monopolare Modell nicht nur ungeeignet, sondern überhaupt unmöglich ist.»

China wollte ebenfalls seine Abhängigkeit von den westlichen Märkten und Devisen verringern. Brasilien und Indien sahen die Chance, auf der Weltbühne mehr Einfluss zu erhalten. Und da alle Mitglieder in Afrika einen Schlüsselkontinent sahen, luden sie 2010 Südafrika ein, der Gruppe beizutreten. Seither steht das «s» in Brics nicht mehr für den Plural, sondern für das Land am Kap der Guten Hoffnung.

Von einer straff geführten Organisation kann indes bis heute keine Rede sein. Die Brics-Staaten sind weiterhin eher ein Gesprächsforum ohne institutionelles Gerüst, sie haben weder ein Präsidium noch ein ständiges Sekretariat. Der Vorsitz liegt bei dem Staat, der den jährlich stattfindenden Gipfel austrägt. Beschlüsse werden einstimmig gefasst.

Der Westen reagierte kühl auf den politischen Zusammenschluss von 2009. Bald schon war von der Entzauberung der Staatengruppe die Rede, nachdem deren jährliche Wachstumsraten hinter den Erwartungen zurückgeblieben waren. Zudem schien vielen Experten die Heterogenität der Gruppe in politischer und wirtschaftlicher Hinsicht zu gross, als dass aus ihr ein ernstzunehmender globaler Akteur werden könnte. Ruchir Sharma, Analyst bei Morgan Stanley, schrieb von den «broken Brics», den zerbrochenen Ziegelsteinen der Weltwirtschaft. Andere beurteilten die Brics als scheintot: «The Brics are dead» («Financial Times» im Jahr 2016). Noch kürzlich meinte der deutsche Politologe Joachim Krause, die Brics-Gruppe sei «weitgehend unbedeutend».

Doch spätestens seit dem vergangenen Jahr mehren sich andere Deutungen: Die Brics-Gruppe gilt als Gegenmodell zur westlichen G-7, oder noch dramatischer: als Liga der Autokraten.

Am Brics-Gipfel 2023 in Johannesburg sorgte die Ankündigung, dass sechs neue Mitglieder aufgenommen würden, für Aufregung im Westen. China, die mit Abstand stärkste Kraft der Gruppe, hatte schon lange auf eine Erweiterung gedrängt – und sich durchgesetzt. Präsident Xi Jinping sagte: «Wir müssen mehr Länder in die Brics-Familie aufnehmen. So können wir unsere Stärke und unsere Fähigkeiten bündeln, damit die Ordnung der Welt gerechter und ausgewogener wird.» Seit Anfang Jahr sind nun Ägypten, Äthiopien, Iran sowie die Vereinigten Arabischen Emirate dabei. Saudiarabien ist zwar aufgenommen, aber noch nicht formell beigetreten. Und Argentinien dürfte mittun, will aber nicht. Der neue Präsident Javier Milei, der Kettensägen-Liberale, sagte: «Mit den Kommunisten rede ich auf keinen Fall.» Er meinte damit China und Brasilien.

Gegen die Dollar-Dominanz

Inzwischen stehen diese «Brics Plus» für rund die Hälfte der Weltbevölkerung und je nach Rechenart etwas mehr oder weniger als einen Drittel der globalen Wirtschaftsleistung. Mit dem Mitgliederzuwachs gewinnt die Brics-Gruppe nicht nur mehr globale Präsenz, sondern auch an wirtschaftlicher Bedeutung, etwa bezüglich Rohstoffe wie Erdöl oder seltener Erden, sowie an geostrategischer Bedeutung. Und die Attraktivität scheint ungebrochen: Mehr als 20 Staaten haben ein formelles Beitrittsgesuch gestellt, weitere 20 ihr Interesse bekundet, dem Verbund beizutreten. Unter ihnen Länder wie Algerien, Indonesien, Malaysia oder Thailand.

Besonders pikant: Anfang September stellte mit der Türkei erstmals ein Nato-Mitglied einen Antrag auf Aufnahme.

Durch die Erweiterung werden zwar die ohnehin divergierenden Interessen der Mitgliedstaaten noch weiter auseinandergehen. Doch klar ist auch, dass sie in fundamentalen Fragen übereinstimmen. Da wäre allen voran das Ziel, den sogenannten globalen Süden zu stärken und die weltwirtschaftliche Dominanz des Westens zu brechen – hin zu einer multipolaren Ordnung. Dabei spielt die grössere Unabhängigkeit von westlichen Institutionen wie der Weltbank, dem Internationalen Währungsfonds und der Welthandelsorganisation eine zentrale Rolle.

Als konkretes gemeinsames Projekt gelang 2014 die Gründung der New Development Bank mit Sitz in Schanghai, die von der ehemaligen brasilianischen Präsidentin Dilma Roussef geleitet wird und vor allem Infrastrukturprojekte fördert. Die Brics-Staaten suchen zudem nach einem Weg, um die Dollar-Dominanz im globalen Zahlungsverkehr zu verringern. Wie brisant das Ungleichgewicht ist, weiss man auch im Westen. Schon John Connally, der amerikanische Finanzminister der Nixon-Administration, sagte: «Der Dollar ist unsere Währung, aber euer Problem.»

Die Schaffung einer alternativen Währung ist seit längerem ein Thema. Vergangenes Jahr wurden bereits mögliche Namen publik: «Bric» oder «R5» (alle Landeswährungen der «alten» fünf Mitgliedstaaten beginnen mit demselben Buchstaben: Real, Rubel, Rupie, Renminbi, Rand). Doch weder sind die Währungen der Brics-Staaten durch besondere Stabilität aufgefallen noch ist bis anhin ein Land bereit, die Souveränität über die Zentralbank abzugeben oder eine bestehende Währung eines ihrer Mitglieder zu übernehmen. Wie komplex und langwierig die Etablierung einer neuen Gemeinschaftswährung ist, zeigte das Beispiel des Euro, der 1999 in einer vergleichsweise viel homogeneren Staatengruppe eingeführt wurde.

Und was meint Jim O’Neill zur Entwicklung der Brics-Gruppe?

Er witzelte einmal: «Der ganze Klub verdankt mir seine Existenz, wenn ich das in aller Bescheidenheit sagen darf.» Inzwischen beobachtet er die Entwicklung mit einer gewissen Sorge. Der Brite, der mit seinen Prognosen meist recht behielt und Goldman Sachs schwerreich und bankenkritisch verliess, wurde von Königin Elizabeth II. mit einem Adelstitel für seine Verdienste geehrt und sitzt seither als Baron O’Neill of Gatley im britischen Oberhaus. Zur Expansion der Brics sagte er Ende des letzten Jahres: «Ich habe sie nie dazu ermutigt, einen politischen Klub zu gründen.» Für deren Währungspläne hat er nur ein Wort übrig: «ridiculous».

Doch lachhaft hätte er es wohl auch gefunden, wenn jemand 2001 prophezeit hätte, dass seine Brics-Marketingidee dereinst die Weltordnung infrage stellen könnte.

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