Samstag, Oktober 19

Mohammed Salem / Reuters

Der im Gazastreifen getötete Chef der Hamas galt als Planer des Massakers vom 7. Oktober. Wer war der 61-Jährige, der über zwei Jahrzehnte lang in israelischen Gefängnissen sass? Welchen Denkmustern folgte der Terrorist, der sich als Märtyrer inszenieren wollte? Eine Spurensuche vor Ort.

In einem Archiv der israelischen Militärjustiz lagert ein sechsseitiges Dokument, von Hand auf Hebräisch geschrieben, das ein Verhör von Yahya Ibrahim Hassan Sinwar nachzeichnet. Die Akte ist auf den 8. Februar 1999 datiert und gibt Sinwar die Identifikationsnummer 955266978.

Er war zu diesem Zeitpunkt 36 Jahre alt und bereits elf Jahre im Gefängnis. Vor seiner Inhaftierung hatte Sinwar die Hamas-Geheimdienst-Einheit Majd angeführt, die Kollaborateure bestrafte und als Sittenpolizei fungierte; sie ahndete Verstösse gegen die islamistische Moralvorstellung wie Untreue, Homosexualität und Pornografie. Sinwar verbüsste in der Negevwüste viermal «lebenslänglich» für die Hinrichtung von palästinensischen Landsleuten, denen man Kontakte zu den Israeli nachsagte. Wie ein Feldweibel namens David Cohen festhielt, gestand Sinwar bei einem Verhör ein weiteres Verbrechen: Vom Gefängnis aus plante er die Entführung eines israelischen Soldaten.

Sinwar hatte dabei einen Komplizen, den Mithäftling und Hamas-Kommandanten Mohammed Sharatha. Die beiden waren im Jahr 1997 Zellengenossen geworden. Sharatha sass eine lange Haftstrafe ab; mit einer Hamas-Einheit namens Unit 101 war er beteiligt an der Entführung und Ermordung von zwei israelischen Soldaten. Sharatha zeigte keine besondere Reue. «Ich habe getan, was ich getan habe, und ich bereue es nicht», sagte er später.

Aber irgendetwas machte ihm zu schaffen. Wie Sinwar in einer Aussage schrieb, die in der Akte enthalten war, hatte er das Gefühl, «dass Sharatha die meiste Zeit traurig war». Schliesslich erzählt Sharatha, woran er litt: Die eigene Schwester, die in Gaza wohne, entehre die Familie durch eine Affäre. Ob Sinwar helfen könne, sie nach Mass zu bestrafen?

Sinwar versprach, seinem Bruder Mohammed eine Nachricht zu stecken. Mohammed war damals bereits ein führendes Mitglied des militärischen Arms der Hamas, und Gefängnisbesucher schmuggelten regelmässig Botschaften nach draussen. Das Verhörprotokoll vermerkt, dass die Tat bald darauf von einem von Sharathas Brüdern vollbracht wurde: Die Schwester wurde tot im Gazastreifen aufgefunden.

Das Gefängnis als Akademie

Von Anfang an betrachtete Sinwar das israelische Gefängnis als einen Ort, an dem sich Sprache, Psychologie und Geschichte des Feindes aneignen liessen. Wie viele andere Palästinenser lernte er fliessend Hebräisch sprechen, las israelische Zeitungen, hörte Radiosendungen und deckte sich mit Büchern über zionistische Theoretiker, Politiker und Geheimdienstchefs ein. Obwohl er zu einer langen Haftstrafe verurteilt worden war, bereitete er sich auf eine Freilassung und die Wiederaufnahme des bewaffneten Kampfes vor.

Diesen Kampf führte er genau besehen sogar vom Gefängnis aus. 1998 gelangten er und Sharatha zu der Ansicht, dass sich die Freilassung palästinensischer Gefangener auf politischem Wege kaum erreichen liesse, und so heckten sie einen Plan aus: Sie würden Leute dafür bezahlen, einen israelischen Soldaten zu entführen. Als Gegenleistung für die Freilassung der Geisel sollten vierhundert Inhaftierte entlassen werden.

Aber, wie Sinwar später bei einem Verhör sagte: «Schon früher wurden Soldaten entführt und getötet, und im Gegenzug hat man nichts erhalten.» Anders als zuvor planten Sinwar und Sharatha, den gefangenen Soldaten nach Ägypten zu schleusen, «damit die Israeli ihn nicht befreien können». Sinwar schmuggelte eine Nachricht an eine zentrale Figur im Gazastreifen: den Gründer und spirituellen Führer der Hamas, Scheich Ahmad Yassin. Er bat um dessen Segen und um 150 000 Dollar zur Finanzierung der Entführung. Yassin stimmte zu.

Der Plan wurde jedoch aufgedeckt, als die israelische Polizei einen Bruder von Sharatha aufgriff. Abd al-Aziz hatte versucht, für die Vorbereitung der Entführung nach Ägypten einzureisen. Das Entführungskomplott geriet in den Folgejahren mehr oder weniger in Vergessenheit; wer die Verhörprotokolle liest, bekommt jedoch eine Ahnung davon, was noch kommen sollte. Der vereitelte Plan kann leicht als Vorbote verstanden werden.

Zurück in Gaza

2006 nutzten Hamas-Kämpfer einen Tunnel für einen Überfall über die Grenze. Bei einem Aussenposten in der Nähe des Dorfes Kerem Shalom töteten sie zwei israelische Soldaten und entführten einen dritten, den neunzehnjährigen Unteroffizier Gilad Shalit aus Galiläa. Die Hamas hielt Shalit jahrelang in Gaza gefangen und forderte die Freilassung Hunderter Gefangener. In Israel gab es Mahnwachen und erbitterte Debatten darüber, ob das Leben eines einzigen Soldaten so viele Entlassungen wert sei. Shalit kam schliesslich 2011 frei, im Austausch gegen mehr als tausend Palästinenser, darunter Yahya Sinwar und Mohammed Sharatha.

Zurück in Gaza, stieg Sinwar innert Kürze zum Chef der dortigen Hamas auf, und er war es, der am 7. Oktober 2023 zusammen mit dem militärischen Anführer, Mohammed Deif, die sogenannte «Al-Aksa-Flut» entfesselte, den verheerendsten Angriff auf Israel seit einem halben Jahrhundert.

Man nimmt an, dass Yahya Sinwar die Zeit seit dem 7. Oktober in dem riesigen Tunnelnetzwerk verbracht hatte, das unter dem Gazastreifen verläuft. Sicherheitskreise in Israel und den Vereinigten Staaten sowie unabhängige palästinensische Quellen gingen davon aus, dass Sinwar bei den Verhandlungen über die Befreiung der Geiseln und einen Waffenstillstand eine entscheidende Rolle spielte.

Zunächst wurde angenommen, dass sich Sinwars unterirdisches Hauptquartier in Khan Yunis befindet, wo er geboren wurde. Als die Israeli näher rückten, floh er wahrscheinlich nach Süden in ein Versteck in Rafah. Sinwar mied elektronische Kommunikation, um seinen Aufenthaltsort zu verbergen; stattdessen gab er Notizen und mündliche Nachrichten an verlässliche Botenläufer weiter.

Als die israelische Armee die Hamas-Stellung in Khan Yunis eroberte, verbreitete sie Aufnahmen von Sinwars Quartier: Badezimmer mit Duschen; ein Safe, der mit in Zellophan verpackten Dollar- und Schekelbündeln überquoll. Die Streitkräfte veröffentlichten auch ein Video, das nach ihrem Verständnis Sinwar, seine Frau und ihre Kinder zeigt, die durch einen Tunnel huschen.

Ein kaltes «Shalom»

Yocheved Lifshitz, eine 85-jährige Friedensaktivistin aus dem Kibbuz Nir Oz, wurde am 7. Oktober als Geisel genommen. Nach ihrer Freilassung berichtete sie der israelischen Zeitung «Davar», dass sie und andere Geiseln wenige Tage nach ihrer Ankunft in den Tunneln auf Sinwar getroffen seien. «Ich fragte ihn, ob er sich nicht schäme, Menschen, die den Frieden all die Jahre unterstützt hätten, so etwas anzutun», sagte sie. Sinwar habe nicht geantwortet. Oded Lifshitz, der 84-jährige Ehemann von Yocheved, blieb in den Händen der Hamas. Es ist nicht bekannt, ob er noch am Leben ist.

Adina Moshe, eine weitere freigelassene Geisel, erinnerte sich ebenfalls an ihre Begegnungen mit Sinwar in den Tunneln: «Es war lächerlich, ihn so zu sehen. Er stand da. ‹Shalom! Wie geht es? Alles okay?›, sagte er. Wir schauten alle zu Boden. Er kam zweimal vorbei, im Abstand von etwa drei Wochen. Jedes Mal hiess es: ‹Shalom! Wie geht es dir?› Niemand antwortete, und er ging wieder.»

Sinwars Gesicht – mit grauem, kurz geschnittenem Haar und Bart, den abstehenden Ohren und dem durchdringenden Blick – ist praktisch jedem Israeli und Palästinenser bekannt. Besonders das eine Bild aus dem Jahr 2021 ist weit verbreitet: Nach elf Tagen Schusswechsel mit den Israeli liess sich Sinwar in einem Sessel fotografieren, die Beine übereinandergeschlagen; er zeigte ein seltenes, trotziges Lächeln. Um ihn lagen die Trümmer seines Hauses. Nach der Aufnahme tauchten auf Social Media viele weitere Bilder von Bewohnern Gazas auf, die in Stühlen vor zerstörten Gebäuden sassen.

Sinwars Roman aus dem Flüchtlingslager

Bis 1948 lebten Sinwars Eltern und Grosseltern in al-Majdal, einer Stadt nördlich von Gaza, heute Ashkelon. Während des Krieges gegen den neu gegründeten Staat Israel floh die Familie in den Gazastreifen. Sinwar wurde 1962 geboren und wuchs in einer grossen Familie im Flüchtlingslager Khan Yunis auf.

Eine Darstellung der Welt, in der Sinwar gross wurde, findet sich in seinem autobiografischen Roman. Sinwar verfasste ihn 2004; Mithäftlinge «arbeiteten wie Ameisen», um das Manuskript von «Al-Shawk wa’l Qurunful» («Der Dorn und die Nelke») aus dem Gefängnis zu schmuggeln und «ans Licht zu bringen», wie es im Vorwort des Buches heisst. Neben Sinwars fiktionalisierten Memoiren sind die Romane des sozialistischen Realismus so phantasievoll wie «Don Quijote». Es handelt sich um einen schwerfälligen, holzschnittartigen Bildungsroman – und dennoch ist er aufschlussreich.

Die Geschichte beginnt während des Sechstagekriegs, im Juni 1967. Ahmad, der junge Erzähler und Sinwars Alter Ego, sucht mit seiner Familie Zuflucht vor den Gefechten zwischen Ägypten und Israel, von denen sie sich die Befreiung Palästinas versprechen. Doch Ahmad begreift bald, dass die Israeli siegen werden. Haben Radiokommentatoren von Voice of the Arabs erst noch genüsslich von «Juden ins Meer werfen» gesprochen, schlägt ihr Ton bald um, und sie beginnen zu jammern.

Die Israeli erobern von Ägypten Gaza und den Sinai, von Syrien die Golanhöhen, von Jordanien das Westjordanland, einschliesslich Ostjerusalem. In Israel herrscht Euphorie. In Ahmads Welt breiten sich Trauer, Scham und ein Gefühl der Demütigung aus: «Unsere Träume von einer Rückkehr in die Heimat, aus der wir vertrieben wurden, lösten sich auf wie die Sandburgen, die wir als Kinder gebaut haben.» Ahmads Vater gilt nach den Kämpfen als verschollen; seine Mutter, eine Gestalt von stoischer Frömmigkeit, bleibt allein mit der Familie zurück.

Die israelische Armee hat im Gazastreifen das Sagen. Ahmad und seine Schulfreunde spielen Araber und Juden statt Cowboys und Indianer. Es gibt Ausgangssperren, Verhöre, Verhaftungen; Soldaten stürmen in Häuser, Leute werden schikaniert. Palästinenser werfen Steine und Molotowcocktails.

Weg zum Islamismus

Die Familienmitglieder Ahmads treten im Roman als Vertreter der verschiedenen Widerstandsgruppen auf: Einer ist Marxist, einer Nationalist, einer leidenschaftlicher Islamist. Der nationalistisch gesinnte Bruder argumentiert, dass ein Kompromiss mit den Israeli möglich sei: zwei Staaten für zwei Völker. Ein islamistischer Cousin lehnt Juden auf dem «waqf», dem von Gott gegebenen muslimischen Land, ab.

Ahmad fühlt sich immer stärker mit den islamistischen Jugendgruppen verbunden, die in Gaza Anhänger gewinnen. Eines Tages machen er und einige Kommilitonen einen Ausflug nach Israel. Sie kommen an den Ruinen von Moscheen und Dörfern vorbei, die einst palästinensisch waren, schliesslich erreichen sie in Jerusalem al-Aksa, eine der heiligsten Stätten des Islam. Auf dem Heimweg sinniert Ahmad über die Kanzel des Salah al-Din, der im 12. Jahrhundert die Kreuzritter besiegte. Sie stand einst in der Moschee und wurde 1969 durch einen christlichen Brandstifter zerstört. Ahmad denkt an die «jüdischen Hände», die Jerusalem regieren, und fragt: «Gibt es einen Salah al-Din der Gegenwart?»

Männer, die in israelischen Städten Arbeit finden, geben sich nach Ahmad ausnahmslos den Vergnügungen von Tel Aviv hin. Einige Palästinenser gehen Beziehungen mit jüdischen Frauen ein. Aber wenn diese Affären enden und die Männer in ihr altes Leben zurückkehren, gelten sie als Gefallene. Jeder Kontakt mit Israeli müsse, so Ahmad, entweder gewalttätig sein oder er sei moralisch verwerflich.

Einer von Ahmads Cousins kommt nach einer solchen Affäre nach Hause, und Ahmad stellt fest, dass Hassan «eher den Juden gleicht als seinem eigenen Volk». Der islamistische Cousin besteht darauf, dass Hassan getötet werden muss. Ahmad schlägt stattdessen vor, ihn in einen «Hinterhalt zu locken und ihm die Beine zu brechen, damit er bettlägerig wird und niemandem mehr schaden kann».

Der Scheich im Rollstuhl

Ahmad wird im Roman durch die Begegnung mit einem Scheich verändert, den er als spirituellen und politischen Mentor beschreibt. Tatsächlich lernt Sinwar als junger Mann Scheich Ahmad Yassin kennen. Dieser ist zu jener Zeit einer der einflussreichsten islamistischen Anführer im Gazastreifen.

Yassin war Mitglied der Muslimbruderschaft und verfügte über ein ungewöhnliches Charisma. Der Scheich sass wegen einer Verletzung bei einem Sportunfall im Rollstuhl, und er sprach mit hoher Stimme. Es gelang ihm aber, eine leidenschaftliche Anhängerschaft um sich zu scharen. In den 1970er und 1980er Jahren gründete Yassin Moscheen, Jugendgruppen, Schulen und Kliniken; 1984 wurde er wegen Waffenbesitzes verhaftet.

David Hacham, ein pensionierter Oberst der israelischen Armee, hält den Scheich für ein Genie: «Ich traf ihn Dutzende Male. Wenn man ihn sah, glaubte man einen winzigen, gelähmten Mann vor sich. Er bewegte sich kaum, aber sein Geist arbeitete unablässig.» Sinwar, der in den 1980er Jahren an der Islamischen Universität in Gaza Arabisch studierte, kam Yassin immer näher und wurde schliesslich sein Gefolgsmann.

Im Dezember 1987 begann in Gaza – und dann im gesamten Westjordanland – ein Aufstand, der als erste Intifada bekannt wurde. Am Tag nach den ersten Unruhen versammelte Yassin eine Gruppe von Mitstreitern in einem bescheidenen Haus im Flüchtlingslager al-Shati in Gaza-Stadt. Nach langen und fieberhaften Diskussionen gründeten sie die Hamas als islamistische Alternative zur PLO. Bis zum Sommer brachte die Hamas eine Charta heraus, die das Vorhaben bekanntmachte, Israel und den «Nazismus der Juden» auszurotten. Die Beschreibung der jüdischen Geschichte strotzte vor antisemitischen Verschwörungstheorien.

Der eiskalte Sinwar

Um für Disziplin zu sorgen, gründete Yassin den Inlandgeheimdienst Majd und machte Yahya Sinwar zu dessen Anführer. Sinwar soll seine Pflicht mit eisiger Effizienz und ohne eine Spur von Bedauern ausgeführt haben. Ein Shin-Bet-Mann, der Sinwar verhört hat, sagte gegenüber «Haaretz»: «Sinwar betrachtete seine Opfer als Menschen, die zu sterben hatten. Einen Friseur ermordete er auf brutale Weise. Warum? Weil es ein Gerücht gab, dass der Mann in seinem Salon obszönes Material vorrätig hatte, das er Kunden manchmal diskret hinter einem Vorhang zeigte.»

Die eigentliche Aufgabe, mit der Sinwar betraut war, bestand in der Bestrafung von jeglicher Illoyalität. Zaki Chehab, ein palästinensischer Journalist aus Libanon, schreibt, Yassins Anweisungen seien eindeutig gewesen: «Jeder Informant, der eine Zusammenarbeit mit den israelischen Behörden gesteht – töte ihn sofort.»

Oberst Hacham sagt, dass Sinwars Mission darin bestand, jeden in der Gemeinschaft einzuschüchtern, der daran dachte, mit den Israeli zu kooperieren. «Er tat dies auf die grausamste Art und Weise; er liess kochendes Öl auf Köpfe tropfen, um ein Geständnis zu erzwingen. Die Leute hatten schreckliche Angst vor ihm.» Michael Koubi, ein ehemaliger Beamter der israelischen Sicherheitsdienste, hatte Sinwar im Gefängnis verhört. Er sagte mir, dass Sinwar der kälteste Mensch sei, dem er je begegnet sei. «Er beschrieb mir sehr genau, wie er Menschen getötet hat. Er schnitt ihnen Köpfe ab. Einen mutmasslichen Kollaborateur begrub er lebendig.»

Der Weg ins Gefängnis

Enthauptungen, kochendes Öl – es ist schwer, solche Aussagen zu Sinwar zu prüfen, und die Hamas weigert sich selbstverständlich, solcherlei zu bestätigen. Die Organisation behauptet, die Israeli hätten einen übergrossen Bösewicht gebraucht und also Sinwar zu diesem gemacht. Als ich Basem Naim, ein Mitglied der Hamas-Führung, nach Sinwars Spitznamen bei den israelischen Behörden – der Schlächter von Khan Yunis – fragte, sagte er mir: «Das halte ich für Unsinn. Das höre ich zum ersten Mal.»

Aber wie ein Bericht von Amnesty International aus dem Jahr 2009 feststellte, wurden Männer und Frauen, die verdächtigt wurden, als Informanten zu arbeiten, routinemässig entführt, gefoltert, hingerichtet und «in der Leichenhalle eines der Krankenhäuser im Gazastreifen aufgefunden». Tatsächlich hat Israel Tausende palästinensische Kollaborateure angeworben, um etwa den Aufenthaltsort von Hamas-Führern zu erfahren. Yassin wurde im März 2004 bei einem israelischen Luftangriff getötet. Nur einen Monat später ereilte seinen Nachfolger, Abdelaziz al-Rantisi, dasselbe Schicksal.

Sinwar wurde 1988 verhaftet und kam ins Gefängnis, vor seinen Wärtern zeigte er allerdings keine Angst. Der Shin-Bet-Vernehmungsbeamte erinnerte sich daran, dass Sinwar ihm sagte: «Sie wissen, dass Sie eines Tages derjenige sein werden, der verhört wird. Ich werde hier stehen als Regierung, als Befrager.»

Gershon Baskin, ein Kolumnist und Friedensaktivist, der manchmal als ziviler Verbindungsmann zu Hamas-Führern fungierte, insbesondere bei Verhandlungen über Gefangenenaustausche, warnte mich: «All diese israelischen Experten und Shin-Bet-Leute werden Ihnen sagen, dass sie genau wissen, was Sinwar wusste und glaubte. Aber sie können es nicht wissen. Die Dynamik eines Treffens mit jemandem, der ihr Gefangener ist, ist offensichtlich problematisch.»

Und doch, so räumte er ein, wissen wir eine ganze Menge über Sinwar: «Während der Pandemie sprach er darüber, wie schrecklich es wäre, wenn er an Covid stürbe, ohne die Chance zu bekommen, ein Märtyrer zu sein und viele Feinde zu töten.»

Sinwars Zahnarzt

Yuval Bitton, ein pensionierter Zahnarzt Ende fünfzig, ist ein grosser, lässig wirkender Mann mit einem traurigen Gesichtsausdruck. Sein Englisch ist gut, aber nicht so gut wie sein Arabisch (seine Eltern wanderten aus Marokko ein). Er lebt in einem Bungalow im Kibbuz Shoval, nur eine kurze Fahrt von Gaza entfernt. Auf seinem Kühlschrank und den Möbeln kleben Schnappschüsse seiner drei Kinder. An einem brütend heissen Morgen schaltet er die Klimaanlage ein und stellt Kaffee und Gebäck bereit.

Bitton wuchs in Beerscheba im Süden Israels auf. Nach einer kurzen Karriere als Praxiszahnarzt nahm er 1996 das Angebot an, in den Kliniken zweier Gefängnisse zu arbeiten, die in der Negevwüste liegen. Er behandelte Mitglieder der Hamas, der Fatah und des Islamischen Jihad, die wegen terroristischer Taten einsassen. Sinwar war einer von ihnen.

Anfangs gab es nur wenige Gefangene, Hunderte waren zuvor im Rahmen der Osloer Friedensabkommen freigelassen worden. Diejenigen, die blieben, galten als abgebrüht – Leute, die «jüdisches Blut an den Händen» hatten, wie es bei den Behörden hiess. Doch die zweite Intifada, die im Jahr 2000 begann, brachte eine brutale Welle von Selbstmordanschlägen und israelischen Operationen in palästinensischen Ortschaften mit sich, und die Verhaftungen mehrten sich.

«Im Gefängnis blieben die Strukturen der Organisationen bestehen, aus denen die Leute kamen», sagt Bitton. «Hamas-Anhänger lebten als Gruppe zusammen, Fatah mit Fatah. Sie blieben einem halbmilitärischen Leben treu. Und sie waren hart im Nehmen.» Regelmässig hielten die Gefangenen interne Wahlen ab; 2004 wurde Sinwar der «Emir» der Hamas-Häftlinge.

Ein offenes Buch der Brutalität

Die als am gefährlichsten eingestuften Sträflinge, so erinnert sich Bitton, verbrachten mehr als zwanzig Stunden am Tag in ihren Zellen. Die Hamas-Leute waren besonders asketisch und versammelten sich um fünf Uhr morgens zur «Zählung» – dem Appell – und verrichteten dann ihre Morgengebete.

Während der kurzen Sportpausen joggte Sinwar und sprang Seil. Bitton fiel seine Härte und Distanziertheit auf, seine Weigerung, persönlich mit Gefängniswärtern zu sprechen, und seine gnadenlose Art, Disziplin innerhalb der Hamas durchzusetzen. Über die Jahre verbrachte Bitton zig Stunden im Gespräch mit Sinwar; dieser schien wenig Interesse daran zu haben, seine Vergangenheit oder seine Absichten für die Zukunft zu verbergen. Als Bitton ihn fragte, ob es das Leben vieler unschuldiger Menschen, Israeli und Palästinenser, wert sei, seine Ziele zu erreichen, habe Sinwar geantwortet: «Wir sind bereit, zwanzigtausend, dreissigtausend, hunderttausend zu opfern.»

Bittons Eindrücke wurden schon vielfach geschildert; sie unterscheiden sich nicht wesentlich von denen der Palästinenser, mit denen ich gesprochen habe. Mkhaimar Abusada, Politikwissenschafter an der Al-Azhar-Universität in Gaza, sagt: «Aus einem Flüchtlingslager zu kommen, ist in Gaza nichts Besonderes. Die meisten von uns kommen von dort. Zwei Dinge haben Sinwar zu dem gemacht, was er war.

Erstens: Wenn man einmal jemanden getötet hat, fällt es einem beim zweiten und dritten Mal leichter. Sinwar war mit dem Töten, mit Hinrichtungen vertraut.

Zweitens: Sein Leben in israelischen Gefängnissen hat seine Persönlichkeit nachhaltig geprägt. Dort wurde er zum Anführer.» Für palästinensische Gefangene gehe es im Gefängnis nicht darum, Zeit abzusitzen – «es geht darum, etwas über die israelische Gesellschaft zu lernen, fit zu werden, kleine Diskussionsgruppen abzuhalten».

Sinwar machte sich akribische Notizen zu seinem Lektürestoff; er füllte Tausende von Seiten in Tagebüchern. «Das Gefängnis formt dich», sagte er Jahre später in einem Interview. «Vor allem, wenn du Palästinenser bist, denn du lebst inmitten von Checkpoints, Mauern und Einschränkungen aller Art. Erst im Gefängnis triffst du endlich andere Palästinenser und hast Zeit zum Reden.»

Ehud Yaari, ein israelischer Journalist und politischer Experte, besuchte eine Reihe palästinensischer Sicherheitsgefangene, unter ihnen auch Sinwar. Bei ihrer ersten Begegnung begann Yaari auf Arabisch zu sprechen. «Nein, sprich Hebräisch», sagte Sinwar. «Du sprichst besser Hebräisch als die Wärter.» Sinwar hatte Yaari im israelischen Fernsehen gesehen und wollte vermutlich von ihm lernen.

«Er war ein geradliniger Mann, kein Nonsens, keine gewundenen Reden, sehr kalkuliert, eindeutig gerissen», sagt Yaari heute. Die Gefangenen hatten damals die Erlaubnis, in der Kantine Lebensmittel zu kaufen und in ihren Zellen zu kochen. Sinwar lud Yaari ein, mit ihm zu essen. «In bester arabischer Tradition hat er einen verköstigt», erinnert sich Yaari. Aber darin erschöpfe sich die Freundlichkeit.

Israel rettet Sinwar

Anfang der nuller Jahre wurde Sinwar zusammen mit anderen Anführern der Hamas und der Fatah in einen Hochsicherheitstrakt des Gefängnisses von Beerscheba verlegt. Der Zahnarzt Bitton fand schnell heraus, wie man Hamas-Männer von Fatah-Mitgliedern unterscheiden konnte: Ihre Zähne waren besser gepflegt. Die Hamas ist eine ultrareligiöse Organisation; ihre Mitglieder rauchen nicht und achten auf die Ernährung. Selbst im Gefängnis pflegten sie penible Gewohnheiten und gingen um 21 oder 22 Uhr schlafen; viele der Fatah-Männer blieben lange auf, rauchten, klatschten und sahen fern.

Bitton war nicht nur Zahnarzt, bei seinem Studium in Rumänien hatte er auch Allgemeinmedizin belegt, und nun assistierte er manchmal den Gefängnisärzten. An einem Nachmittag im Jahr 2004 war Sinwar bei ihm zur Konsultation, er klagte über starke Schmerzen im Nacken und darüber, dass er beim Gebet das Gleichgewicht verloren habe.

Anfänglich vermutete Bitton einen Schlaganfall, er gab den Verdacht seinen Ärzten weiter. Sinwar wurde in das Soroka Medical Center gebracht, wo er sich einer Notoperation unterziehen musste, um ein potenziell tödliches Geschwür im Gehirn entfernen zu lassen. Einige Tage später besuchte Bitton Sinwar im Krankenhaus. «Er sagte, dass er mir sein Leben verdanke», erinnert sich der Zahnarzt.

Die Fragilität Israels

Während eines Interviews mit Yoram Binur, Korrespondent des israelischen Fernsehens, anerkennt Sinwar 2006 die militärische Stärke des jüdischen Staates. Er stellt die Möglichkeit einer «Hudna» in Aussicht – eines Waffenstillstandes für eine Generation. Nach dem Interview sagte Sinwar zu Bitton, er sei zuversichtlich, dass Israel nicht für immer auf seine Stärke zählen könne; diese sei von Natur aus fragil. Die Risse zwischen der religiösen und der säkularen Bevölkerung des Landes würden sich vertiefen. «In zwanzig Jahren werdet ihr schwach werden», soll Sinwar gesagt haben, «und ich werde euch angreifen.»

Beim Löcherflicken konnte der Zahnarzt Bitton mit Insassen über alles reden, von den Haftbedingungen bis hin zu politischen Themen. Im Jahr 2007 nahm er das Angebot an, im Gefängnis Vollzeit als Geheimdienstinformant zu arbeiten. In dieser neuen Funktion verbrachte er seine Tage in Ketziot, einem grossen und berüchtigten Gefängnis in der Negevwüste.

Um 2009, so erinnert sich Bitton, war Sinwar stark in die Verhandlungen um Gilad Shalit involviert, den Soldaten, der drei Jahre zuvor entführt worden war und als Geisel im Gazastreifen festgehalten wurde. Die Israeli waren bereit, Hunderte von Hamas- und Fatah-Gefangenen freizulassen, zögerten jedoch, Leute auf freien Fuss zu setzen, die nach Beginn der zweiten Intifada wegen Mordes an Israeli verurteilt worden waren. Sinwar gehörte zu jenen mit guten Aussichten auf Entlassung. «Er hatte», so Bitton, «kein jüdisches Blut an den Händen» – nur palästinensisches.

Zurück in Gaza

Am 18. Oktober 2011 war Sinwar einer von Hunderten palästinensischen Entlassenen, die mit Bussen in den Gazastreifen und ins Westjordanland gebracht wurden. Der Hamas-Führung war klar, dass Israel für Gilad Shalit einen hohen Preis zahlte. Ein Anführer des militärischen Arms der Hamas sagte der Zeitung «al-Hayat», dass die Freigelassenen für den Tod von 569 Israeli verantwortlich seien.

Bitton hielt die Freilassung von Sinwar für eine schlechte Idee. Bevor die Busse losfuhren, forderten israelische Sicherheitsbeamte die Gefangenen auf, Erklärungen zu unterschreiben, in denen sie versprachen, sich nie wieder an terroristischen Handlungen zu beteiligen. Die rangniedrigeren Mitglieder der Hamas unterschrieben. Sinwar weigerte sich.

Als junger Mann pflegte Sinwar zu sagen, dass er keine Frau brauche; er sei mit der palästinensischen Sache verheiratet. Doch nur einen Monat nach seiner Freilassung heiratete er gemäss israelischen Zeitungsberichten eine achtzehn Jahre jüngere Frau namens Samar. Sie stammte aus einer relativ wohlhabenden und frommen Familie aus Gaza-Stadt. Sinwars Schwestern wählten die Braut aus, während er auf Pilgerreise in Saudiarabien war. Samar trägt einen traditionellen Nikab, sie und Sinwar haben drei Kinder.

Im Jahr 2007 löste die Hamas die Palästinensische Autonomiebehörde in Gaza ab – zunächst durch Parlamentswahlen, dann durch den Sieg im tödlichen Bürgerkrieg. Sinwars Ruf als Gefängnisanführer beförderte ihn nach seiner Rückkehr in die höchsten Ränge der Hamas. Er wurde zu einem wichtigen Entscheidungsträger und stand in regelmässigem Kontakt mit Ismail Haniya, dem damaligen Politchef der Hamas in Gaza. Hinzu kamen Verbindungen zu ausländischen Verbündeten, unter ihnen die Anführer des Hizbullah in Libanon. Im Jahr 2012 reiste Sinwar nach Teheran, um sich mit General Kassem Soleimani zu beraten, dem Chef der iranischen Kuds-Einheit.

Sinwars Scheinkompromisse

Die Hamas hat vier Machtzentren – Gaza, das Westjordanland, die Diaspora und die Gefängnisse – und ein zentrales Politbüro, das die Richtung vorgibt. Im Jahr 2017 wurde Haniya zum Vorsitzenden des Politbüros ernannt, Sinwar wurde zum Oberhaupt der Hamas in Gaza gewählt. In den ersten Jahren seiner Herrschaft vertrat Sinwar eine etwas nuanciertere Position der Hamas-Ideologie. Er beharrte zwar auf der Widerstandsrhetorik und auf der Behauptung, dass Israel ein Fremdkörper auf islamischem Boden sei. In gewissen Momenten deutete er aber Kompromissbereitschaft an.

Im Jahr 2018 führte die italienische Journalistin Francesca Borri ein Interview mit Sinwar. Er habe die Botschaft vermitteln wollen, «Ruhe gegen Ruhe» zu befürworten – eine Pause in den Feindseligkeiten mit Israel, schrieb sie. Niemand habe Interesse an einem neuen Krieg: «Wir sicher nicht. Wer möchte schon mit Steinschleudern einer Atommacht gegenüberstehen?» Stattdessen lobte Sinwar die «hochintelligenten» jungen Leute in Gaza. Trotz den drakonischen Einschränkungen bewiesen sie Erfindergeist.

«Mit alten Faxgeräten und alten Computern hat eine Gruppe von Zwanzigjährigen einen 3-D-Drucker zusammengebaut, um medizinische Geräte herzustellen, die nicht eingeführt werden dürfen», sagte Sinwar im Gespräch. Das sei Gaza. «Wir sind nicht nur Armut und Kinder ohne Schuhe. Wir können wie Singapur, wie Dubai sein. Und lasst uns die Zeit für uns arbeiten. Heilt unsere Wunden.» Er sagte auch, dass Juden einst «Menschen wie Freud, Einstein, Kafka waren. Experten für Mathematik und Philosophie. Jetzt sind sie Experten für Drohnen und Tötungen ohne Gerichtsurteil.»

Nach der zweiten Intifada nahm das politische Establishment Israels, insbesondere unter Netanyahu, immer weniger Rücksicht auf palästinensische Interessen, man sprach sogar von einer Annexion des Westjordanlandes. Die Trump-Administration half unter der Leitung von Jared Kushner bei der Ausarbeitung der Abraham-Abkommen. Sie sollten die Beziehungen zwischen Israel und den von Sunniten regierten Staaten, insbesondere Saudiarabien, normalisieren – wobei sich die Palästinenser ins Abseits gedrängt sahen.

Sinwars Rhetorik wurde finsterer. Im Jahr 2019 sprach er von «Fallen» in Hamas-Tunneln. Wenn die Israeli «dumme Fehler» machten, sagte er, «werden wir Tel Aviv zermalmen». Er proklamierte: «Wir haben ein Drehbuch, und die Proben sind abgeschlossen. Gaza und das Westjordanland werden explodieren. Unser Volk wird alle Siedlungen auf einmal angreifen.» Schliesslich sprach er davon, «zehntausend Märtyrer» nach Israel zu schicken und «Israel durch bewaffneten Jihad» auszulöschen.

Vorbereitung in aller Öffentlichkeit

Im Juni 2021 stiess ich auf einen langen Artikel von Yaniv Kubovich in «Haaretz». Darin hiess es, der israelische Sicherheitsapparat revidiere sein Verständnis von Sinwar. Kubovichs Quellen berichteten, dass Sinwar seinen «früheren Pragmatismus» und seine «relative Bescheidenheit» zugunsten aggressiverer militärischer Taktiken und eines messianischen Führungsstils aufgegeben habe. Die Wende schien auch zu kommen, weil Sinwar im Wahlkampf ein überraschend harter Wind entgegenwehte. Analysten folgerten, dass Sinwar zum Schluss gelangt sei, für das Stillhalten gegenüber Israel einen hohen Preis zu zahlen.

Im Dezember 2022, bei der jährlichen Gedenkfeier zur Gründung der Hamas, rief die Organisation den Slogan «Wir kommen mit einer tosenden Flut» aus. Mkhaimar Abusada von der Al-Azhar-Universität tat solche Reden als «Witz» ab. «Sie haben schon lange davon gesprochen, von der Zerstörung Israels und von ‹from the river to the sea›», sagte er. «Aber als Politikwissenschafter dachte ich, das diene nur dazu, die eigenen Leute mit Phantasiegebilden bei Laune zu halten.»

Anzeichen gab es jedoch auch andere. In der Zeit feuerte der Islamische Jihad, eine kleinere, aber nicht weniger gewalttätige Palästinensergruppe, Raketen auf Israel ab. Die Hamas entschied sich gegen ein Eintreten in den Kampf. Sie liess verlauten, sich für eine wichtigere Schlacht zu schonen.

Samer Sinijlawi, ein Fatah-Politiker in Ostjerusalem, sagte mir: «Sinwar tat alles Mögliche, um sich vorzubereiten, und er sprach darüber in aller Öffentlichkeit. Aber niemand hat ihm geglaubt.» Er fügte an: «Israel dachte am 6. Oktober, in Gaza schlafe eine Katze. Am nächsten Morgen wachte man auf und fand einen Dinosaurier.»

Die Philister sind da

Der Entschluss zum grossen Angriff wurde von den Hamas-Anführern in Gaza, im Westjordanland, in den Gefängnissen und in der Diaspora gemeinsam gefasst. Planung und Durchführung lagen jedoch grösstenteils in den Händen von Yahya Sinwar und Mohammed Deif. Haniya, der Vorsitzende des Politbüros, lebte in Katar und hatte wenig Einfluss auf die Einzelheiten.

Sinwars Pläne verrieten ein Gefühl für Israel und seine Geschichte. Der Tag des Angriffs war sowohl Schabbat als auch Simchat Tora, der letzte einer Reihe wichtiger Feiertage im Herbst. Zudem jährte sich der Jom-Kippur-Krieg zum fünfzigsten Mal, und Israel befand sich in einer Phase melancholischer Selbstreflexion.

Kein Ereignis in der fünfundsiebzigjährigen Geschichte Israels hat das Gefühl der Sicherheit und militärischen Überlegenheit so sehr untergraben wie Sinwars Plan. Nachdem die Hamas eine beispiellose Flut von Raketen auf Israel abgefeuert und mit Drohnen und Panzerfäusten die Kommunikations- und Überwachungssysteme lahmgelegt hatte, durchbrachen Sinwars Männer den Grenzzaun an sechzig Stellen. Tausende Hamas-Kämpfer schwärmten mit dem Befehl aus, so viele Soldaten und Zivilisten wie möglich zu töten und zu entführen. Ihnen folgten gewöhnliche Bewohner des Gazastreifens – manche bewaffnet, andere nicht; sie töteten, entführten, plünderten – und filmten ihre Taten ohne Unterlass.

Das Blutvergiessen und die Traumata des letzten Jahres übertreffen alles in der Geschichte des Konflikts zwischen Israeli und Palästinensern. Am 7. Oktober wurden etwa 1200 Israeli getötet und Tausende weitere verwundet; etwa 240 wurden als Geiseln genommen. Ganze Kibbuzim wurden zerstört.

Die Zahl von vierzigtausend Todesopfern auf palästinensischer Seite wird häufig genannt, aber es wird lange dauern, bis alle Toten und Verletzten vollständig erfasst sind. Wohnhäuser, Moscheen, Schulen, Krankenhäuser und Universitäten wurden in Schutt und Asche gelegt. Hunderttausende Menschen im Gazastreifen haben ihr Zuhause verloren. Die Auswirkungen auf die Region sind nicht abzusehen.

Bis an die Zähne bewaffnet

Nicht lange nach dem 7. Oktober fuhr ich in die israelische Region, die als Otef Aza, Gaza-Gürtel, bekannt ist. Im ganzen Land fanden Beerdigungen statt. Einer der Toten war Tamir Adar, der 38-jährige Neffe von Yuval Bitton – dem Zahnarzt, der half, Sinwars Leben zu retten. Adar war bei der Verteidigung des Kibbuz Nir Oz getötet worden; seine Mörder brachten seinen Leichnam nach Gaza, wo er sich noch immer befindet.

Am Nachmittag fuhr ich zum Kibbuz Beeri. Der 1946 gegründete Kibbuz war als besonders altmodische, linksgerichtete, wohlhabende Friedensgemeinde bekannt. Vor dem Angriff hatte er 1200 Einwohner, es gab eine Warteliste. Jetzt war es ein Ort mit verkohlten Ruinen, eine Dystopie.

Kurz nach meiner Ankunft begegnete ich Barak Hiram, einem Brigadegeneral der israelischen Armee. Er erzählte mir, dass er zu Hause in Tekoa, einer Siedlung im Westjordanland, gewesen sei, als er die Nachricht vom Einfall der Hamas gehört habe. Er machte sich auf den Weg nach Süden und führte schliesslich Truppen in Beeri an. Als die Kämpfe vorbei gewesen seien, seien er und seine Männer überall auf Leichen gestossen – in den Häusern, unter Bäumen.

Später wurde eine Untersuchung gegen Hiram und andere Kommandanten wegen ihrer Handlungen in Beeri angestrengt, unter anderem auch wegen des Befehls, mit einem Panzer auf ein Haus zu feuern, in dem Geiseln festgehalten wurden; sie wurden von allen Vorwürfen freigesprochen.

Die Hamas-Kämpfer seien bis an die Zähne bewaffnet gewesen, sagt Hiram: «Sie hatten Raketenwerfer, Panzerfäuste, eine Menge russischer Ausrüstung, AK-47, verschiedene Typen von Minen. Sie versuchten, Leichen von Zivilisten mit Handgranaten zu Sprengfallen zu machen. Sie wussten, dass jemand kommen und sie zu retten versuchen würde. Während wir im Kibbuz kämpften und versuchten, zu weiteren Zivilisten vorzustossen, wurden es immer mehr Schüsse. Es war ein Blutbad. Es war ein Massaker. Sie gingen von Haus zu Haus und ermordeten alle.»

Dann hielt der General inne, und er sagte ein einziges deutsches Wort, das mir im Gedächtnis geblieben ist: «Einsatzgruppen.»

Geiseln als Schutzschild

Seit langem war unklar, wo sich Sinwar versteckt hielt, aber Geheimdienstquellen liessen im Sommer verlauten, dass er sich durchaus wieder in den Tunneln unter Khan Yunis aufhalten könnte. Die Verhandlungen über die Geiseln und einen Waffenstillstand waren auch zeitaufwendig, weil es oft Tage dauerte, bis Sinwars Antworten die Verhandlungsführer in Doha oder Kairo erreichten.

Der israelische Journalist Ehud Yaari, der Sinwar im Gefängnis besucht hatte, erzählte mir von einer Nachricht, die ein Gefolgsmann Sinwars etwa vier Monate nach Kriegsbeginn an ihn gesandt habe. Die Hauptbotschaft sei gewesen, dass Israel in Gaza alles getan habe, was sich hinsichtlich Vernichtung der Hamas-Kampfstärke erreichen lasse. Yaari sagte: «Man gab mir zu verstehen, dass Sinwar keine Eile habe, ein Geiselabkommen zu schliessen oder sich des Schutzschilds der Entführten zu entledigen.»

Einem Gespräch mit Sinwar kam ich am nächsten, indem ich mit einem seiner Mitarbeiter sprach – Basem Naim vom Politbüro der Hamas. Naim hat in Deutschland Medizin studiert und als Chirurg im Al-Shifa-Krankenhaus in Gaza-Stadt praktiziert. In den ersten Tagen des Krieges gingen Aussagen von Naim durch die internationale Presse – er leugnete, dass Hamas-Kämpfer am 7. Oktober überhaupt Zivilisten getötet hätten. Naim machte andere Palästinenser für die Taten verantwortlich sowie israelischen Eigenbeschuss. Gemäss dem «Wall Street Journal» soll Sinwar in einer Botschaft gesagt haben, die Dinge seien «ausser Kontrolle geraten».

Nicht lange danach erklärte ein anderer hochrangiger Hamas-Funktionär im libanesischen Fernsehen, dass die Existenz Israels «unlogisch» sei und dass es beseitigt werden müsse. Ghazi Hamad sagte: «Wir müssen Israel eine Lektion erteilen. Die Al-Aksa-Flut ist nur das erste Mal, und es wird ein zweites, ein drittes, ein viertes Mal geben.»

Am 7. Oktober wandte sich Ismail Haniya, der Chef des Hamas-Politbüros, an die jüdische Bevölkerung Israels. «Verlasst unser Land. Geht uns aus den Augen», sagte er. «Ihr seid Fremde auf diesem reinen und gesegneten Stück Erde. Für euch gibt es keinen Ort und keine Sicherheit.»

Auf meine Frage, ob die Hamas eine solche Attacke wiederholen würde, sagte Naim: «Ich kann nicht Nein sagen.» Trotz den vielen Toten und der Zerstörung in Gaza bestand Naim darauf, dass die Hamas einen grossen Sieg errungen habe: «Wenn die schwächere Partei überlebt, kann sie den Sieg für sich beanspruchen.» Naim zeigte besondere Freude darüber, dass der Krieg «den internationalen Ruf Israels» untergrabe.

Friedensaktivisten auf der Kippe

Eines Morgens fuhr ich nach Ostjerusalem und traf Yehuda Shaul, einen israelischen Friedensaktivisten. Shaul bezeichnet sich selbst als «Zwei-Staaten-Extremist». Er bringt für das Massaker der Hamas definitiv kein Verständnis auf, den Angriff bezeichnete als «mörderisch». Shaul sprach auch davon, dass die Lage in Gaza über Jahre auf einem «niedrigen Siedepunkt» gehalten worden sei, während die israelische Regierung die Palästinensische Autonomiebehörde unterminierte habe. Nach dem 7. Oktober, sagte er, sei «das Lager der israelischen Juden, die aus moralischer Überzeugung die Kontrolle über die Palästinenser ablehnen, auf vielleicht vier Prozent geschrumpft».

Gemeinsam fuhren wir nach Ramallah und besuchten einen palästinensischen Aktivisten mittleren Alters, der nach fast acht Monaten in einem israelischen Gefängnis gerade entlassen worden war. Es hatte keine Anklage gegen Abdul (Name geändert) gegeben; wie viele andere im Westjordanland war er in «Verwaltungshaft» genommen worden.

Abdul kam ins Wohnzimmer, um sich zu uns und einigen seiner alten Freunde zu setzen. Manche von ihnen waren ebenfalls inhaftiert gewesen. Sie alle hatten das Vertrauen in die Palästinensische Autonomiebehörde verloren und sahen in der Hamas die einzige Gruppe, die noch über Handlungsfähigkeit verfüge. «Palästinenser zu sein, darf nicht bedeuten, ein Opfer zu sein», sagte Abdul. «Die Flüchtlinge haben ein Recht auf Rückkehr, nicht weil sie in einem Flüchtlingslager sind, sondern weil sie Menschen sind.»

Shaul, der Abdul schon lange kennt, sagte ihm, er habe im Gefängnis viel abgenommen – es waren mehr als fünfzehn Kilo. «Ich habe nichts mehr zu verlieren», sagte Abdul und tätschelte seinen kaum mehr vorhandenen Bauch.

Das Ende der Gewaltlosigkeit

Abdul erzählte mir, dass der Krieg und die Monate im Gefängnis ihn verändert hätten. «Ich habe immer an Gewaltlosigkeit geglaubt», sagte er. «Aber sie sagen trotzdem, ich sei ein Terrorist, ich sei wie Sinwar. Die Welt redet über internationales Recht und den Friedensprozess, aber wir bekommen nichts. Nichts. Wie kann ich also an internationales Recht und Verhandlungen glauben? Nach dem 7. Oktober haben wir einen Preis gezahlt, aber wir haben das Gefühl, unserem Ziel näher zu kommen.»

Es war schwer, sich das anzuhören. Später sprach ich mit einem der liberalsten Intellektuellen im Westjordanland, dem Menschenrechtsanwalt Raja Shehadeh. Er sagte, dass seine Reaktion auf die Nachricht, die Hamas habe den Zaun durchbrochen, zunächst Jubel gewesen sei. Er habe das Gefühl gehabt, es handle sich um einen «legitimen» Akt des Widerstands.

«Ich dachte, dass es Israel endlich klarmachen würde, dass Barrieren, Zäune und Konflikte – selbst die ausgeklügeltsten Kriege – Israel nicht schützen werden», sagte Shehadeh. Dann erfuhr er von der Grausamkeit der folgenden Stunden – den Morden, den Entführungen, der sexuellen Gewalt. «Das hätte nicht passieren dürfen», sagte er. «Das ist kriminell.»

Der wichtigste Palästinenser der Welt

Meinungsumfragen zeigen Unmut gegenüber der Hamas, insbesondere in Gaza, wo das Elend greifbar ist. Ibrahim Dalalsha, ein Politologe in Ramallah, wies darauf hin, dass Sinwar etwa zwanzig Jahre im Gefängnis verbracht habe – und dass die dortige Radikalisierung in beide Richtungen gehen könne: «Man kann den Weg von Nelson Mandela gehen und den Weg von Sinwar.»

Ein ehemaliger Berater der Palästinensischen Autonomiebehörde war noch kritischer. «Es gibt nur wenige Menschen, die andere eigenhändig töten», sagte Ghaith al-Omari. «Sinwar ist ein Krimineller und ein Psychopath; er war bereit, so etwas wie den 7. Oktober auszuführen. Und auch ungeachtet des Mordens und Entführens von Israeli: Sinwar wusste, was seine Tat für das eigene Volk bedeuten würde. Um das nicht zu sehen, müsste man blind sein.»

Doch das ist, nach dem zu urteilen, was ich in Ramallah gehört habe, inzwischen eine Minderheitsposition. Neomi Neumann, die von 2017 bis 2021 die Abteilung Forschung bei Shin Bet leitete, sagte mir, dass Sinwar einen grossen politischen Sieg errungen habe, indem er Israels Verwundbarkeit aufgezeigt und die internationale Unterstützung für das Land untergraben habe.

Der CIA-Direktor William Burns soll hinter geschlossenen Türen gesagt haben, dass Sinwar besorgt sei, von vielen Bewohnern des Gazastreifens für den Kriegsbeginn verantwortlich gemacht zu werden. Zudem sei er von anderen Hamas-Kommandanten unter Druck gesetzt worden, ein Waffenstillstandsabkommen zu akzeptieren.

Aber Sinwar sorgte sich nicht, getötet zu werden. Palästinensische und israelische Quellen sagen übereinstimmend, dass Sinwar sich mit ziemlicher Sicherheit für einen triumphalen Darsteller in einem grossen historischen Drama gehalten habe. Neumann drückte es so aus: «Aus seiner Sicht ist er der moderne Salah al-Din.»

Unser Besuch in Ramallah neigte sich dem Ende zu. Der palästinensische Aktivist Abdul meldete sich nochmals zu Wort. «Ich unterstütze vielleicht nicht die Hamas, aber ich unterstütze den Kampf», sagte er. «Wir können nicht immer weiter verlieren und verlieren.» Seine stille Wut kannte keine Grenzen.

Als wir aufstanden, fragte ich Abdul, was er von Sinwar halte. «Yahya Sinwar ist in jedem Haus in Palästina», sagte er. «Er ist der wichtigste Palästinenser der Welt.»

Diese Woche nun ist Sinwar in einem Gebäude bei Rafah im südlichen Gazastreifen von israelischen Soldaten getötet worden.

David Remnick ist amerikanischer Journalist und Autor. Die originale Fassung des vorliegenden Textes wurde am 3. August im amerikanischen Magazin «The New Yorker» veröffentlicht. Unter Mitarbeit von Ruth Margalit. – Für die vorliegende Version wurde der Text gekürzt und leicht aktualisiert. Aus dem Englischen von mml.

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