Mittwoch, Februar 5

Alice Munros Tochter erhebt schwere Vorwürfe. Nachdem sie von ihrem Stiefvater missbraucht worden war, soll sich die Mutter verhalten haben wie nach der Entdeckung von Untreue.

Es ist eine erschütternde Geschichte, die die Tochter der kanadischen Literaturnobelpreisträgerin Alice Munro am 7. Juli im «Toronto Star» öffentlich gemacht hat. In einem langen und schonungslosen Text beschreibt Andrea Robin Skinner, wie sie im Sommer 1976 als Neunjährige von ihrem Stiefvater, dem damaligen Mann Munros, zum ersten Mal sexuell missbraucht wurde. Die Übergriffe wiederholten sich, und obwohl auch Skinners leiblicher Vater davon wusste, beschloss die Familie, erst einmal zu schweigen.

Jahrzehntelang drehte sich die Spirale des Schweigens weiter. In überaus schlechtem Licht erscheint dabei Alice Munro. Im Mai ist die Schriftstellerin 92-jährig Alter gestorben. Das Bild, das Skinner von ihrer Mutter zeichnet, ist verstörend. Ihr eigenes Leben stellt sich als Odyssee zwischen Rücksichtnahme und schweren Krisen dar. «Ich wollte, dass diese Geschichte, meine Geschichte, Teil der Geschichten wird, die die Leute über meine Mutter erzählen», sagt Andrea Robin Skinner.

Die Reaktion: Wegschauen

Ihr Stiefvater sei in besagtem Sommer 1976 in ihr Bett gestiegen und habe sich an ihr vergangen, schreibt Skinner. Darauf folgte über Jahre eine Reihe weiterer körperlicher und verbaler Übergriffe. Gerold Fremlin, so der Name des Mannes, habe sich regelmässig vor ihr entblösst. Im «Toronto Star» notiert Skinner die peinigenden Details. Ihre damalige Reaktion: wegschauen. Das war angeblich auch in der Familie das Mittel der Wahl. Munros Tochter pendelte zwischen den Wohnsitzen ihrer Mutter und ihres Vaters in der kanadischen Provinz hin und her. Letzterer war der Meinung, dass es schädlich wäre, Alice Munro über die Vorgänge zu informieren.

Die Heranwachsende zerbricht fast an den Erlebnissen. Sie entwickelt Essstörungen und hat Migräneanfälle, aber sie will die berühmte Mutter schonen. Bis Munro der Tochter 1992 von einer Geschichte erzählt, die sie gerade gelesen hat. Es geht darin um eine junge Frau, die von ihrem Stiefvater missbraucht wird und danach Selbstmord begeht. Munro fragt: «Warum hat sie es nicht ihrer Mutter erzählt?» Daraufhin, sechzehn Jahre nach dem Beginn des Missbrauchs durch den Stiefvater, schreibt Andrea Robin Skinner einen Brief an Alice Munro, in dem sie erzählt, was vorgefallen ist. Und sie fügt hinzu: «Ich hatte die ganze Zeit Angst, dass du mich dafür verantwortlich machen wirst.»

Munro sieht sich als Opfer

Die Reaktion der Mutter fällt aus wie befürchtet. Sie sieht sich selbst als Opfer und stellt die Sache so dar, als hätte ihre Tochter sie mit ihrem Mann betrogen. Sie macht sie zur Täterin. Als Skinner endlich den Mut hat, die Vergewaltigungen anzusprechen, wehrt Alice Munro das mit der Bemerkung ab, dass es jetzt zu spät sei, sie wolle nichts davon wissen. Ihren Mann Gerold Fremlin hat sie nicht verlassen. Er werde die Stieftochter umbringen, wenn sie zur Polizei gehe, hat Fremlin Alice Munro erklärt, als sie vom Missbrauch erfuhr. Später hat Andrea Robin Skinner den Kontakt zu ihrer Mutter abgebrochen.

Als Alice Munro sich 2004 in einem Interview mit der «New York Times» rühmt, ein gutes Verhältnis zu ihren Töchtern zu haben, setzt Skinner den finalen und befreienden Schritt. Sie zeigt den Vergewaltiger an. Hauptbeweismittel sind die drohenden Briefe, die er an die Familie geschrieben hat und in denen er die Stieftochter als «Beziehungszerstörerin» bezeichnet.

Um einer Gerichtsverhandlung zu entgehen, gesteht der gelernte Geograf Gerold Fremlin im März 2005 seine Schuld ein. Er wird zu zwei Jahren Haft auf Bewährung verurteilt und stirbt 2013. Über der Biografie der Literaturnobelpreisträgerin Alice Munro liegt ein Schatten. Ihre Kurzgeschichten handeln davon, was Menschen einander antun. Was sie selbst möglicherweise anderen angetan hat, scheint eine längere Geschichte zu sein.

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