Donnerstag, Juli 4

Emmanuel Macron hat das Land ins Chaos gestürzt. Er glaubte seine Haut zu retten, nun ebnet er seiner Widersacherin den Weg zur Macht. Der Schriftsteller Pascal Bruckner blickt auf sein Land.

Am Tag nach der überraschenden Auflösung des Parlaments hat sich Emmanuel Macron ausgerechnet an der Gedenkfeier für das Massaker von Oradour-sur-Glane gegenüber einem Grossunternehmer damit gebrüstet, er habe dieses Manöver seit langem vorbereitet. Den Franzosen habe er «eine entsicherte Granate zwischen die Beine geworfen. Jetzt werden wir sehen, wie sie damit umgehen.» Zwei Tage später veröffentlichte die Satirezeitschrift «Le Canard enchaîné» eine Zeichnung. Darin teilt ein Berater dem Präsidenten mit, dass er den Sicherungsstift weggeworfen, aber die Granate in der Hand behalten hat und dass sie ihm ins Gesicht fliegen wird.

Die brutale Entscheidung des Präsidenten hat ein fragiles Land ins totale Chaos gestürzt. Darin verstricken sich alle politischen Gruppierungen in endlose Ehestreitigkeiten, die die hysterisch-eheliche Natur der parlamentarischen Demokratie offenbaren. Zwar ist noch nicht alles verloren, Kompromisse können vielleicht eine absolute Mehrheit für die extreme Rechte verhindern. Aber Frankreich gibt Anfang Juli das Bild eines Trümmerfeldes.

Auf der rechten Seite ist Éric Ciotti, Chef der konservativen Républicains, aus seinem Lager übergelaufen und hat eine glühende Partnerschaft mit dem Rassemblement national, dem grossen Gewinner der Europawahlen, angekündigt. Er wurde aus seiner Partei ausgeschlossen, hält aber an seinem Posten fest und sieht sich durch einen Gerichtsentscheid gestärkt.

Ein Debakel kann umgekehrt hastige Wiedervereinigungen beschleunigen, wie sie etwa von den Sozialisten und France insoumise trotz heftigen Animositäten zwischen Raphaël Glucksmann und Jean-Luc Mélenchon ausgeheckt wurde. Innerhalb von 24 Stunden wird eine neue Volksfront gebastelt, eine Parodie auf die von Léon Blum im Jahr 1936 erdachte Volksfront. Man lässt das alte Epos vom Kampf gegen die «braune Pest» wieder aufleben und schreit «No pasarán» wie im Spanischen Bürgerkrieg.

Die winzige rechtsextreme Partei Reconquête, die von Éric Zemmour angeführt wird, schliesst Marion Maréchal, die Nichte von Marine Le Pen, aus, weil sie sich dem Rassemblement national angeschlossen hat, um eine Koalition der Rechten zu bilden. Über diesen Unfug hat man ausgiebig gelacht, da er in seiner Bedeutungslosigkeit die tiefgreifende Umwälzung der Mentalitäten veranschaulicht.

Scheidungen, Zerwürfnisse und übereilte Versöhnungen waren die Folge des grossen Basars, der durch die Ankündigung des Präsidenten entstanden ist. Emmanuel Macron stach ins Wespennest, um Herr über die Ereignisse zu bleiben. Vor allem aber hat er Verwirrung zur Unruhe hinzugefügt.

Nero im Taschenformat

In allen Familien kommt es zu Streitigkeiten, Geschwister verfeinden sich, Freundschaften brechen auseinander. Ein bürgerkriegsähnlicher Zustand breitet sich in der Psyche jedes Einzelnen aus. Der Kern der Macht ist verschwunden: Als Macron das Parlament auflösen wollte, hat er sich selbst aufgelöst. Der Egozentriker hat sich verflüchtigt wie der Geist in den Märchen: mit der Geste eines verwöhnten Kindes, das von seinem Spielzeug enttäuscht ist und es unbedingt kaputtmachen will, als ob es nur ihm gehören würde.

Ein Nero im Taschenformat, berauscht von seiner Rhetorik, zog er es vor, alles zu zerschlagen, anstatt im September die Abstimmung über den Haushalt abzuwarten. Sie wäre gewiss Gegenstand eines Misstrauensantrags gewesen und hätte es ermöglicht, die Kampagne für die Parlamentswahlen vorzubereiten. Macron erinnert unwiderstehlich an den Barden Troubadix im «Asterix»-Comic, der vom ganzen Dorf auf einen Baum verbannt wird, sobald er den Mund aufmachen oder singen will.

Es läuft schlecht im Land? Sorgen wir dafür, dass es schlimmer wird. Der Präsident, der immer die Liebe zur Macht mit der Macht der Liebe verwechselt hat, konnte es nicht ertragen, dass die Franzosen ihm an den Wahlurnen ihre Zuneigung entzogen. In seinem Narzissmus verletzt, entschied er sich für einen Übergriff, selbst auf die Gefahr hin, seine politische Bewegung zu töten.

Die gegenwärtige Krise muss mit Freuds Begriffen des Zusammenbruchs und der Panik analysiert werden. Der zentrale Dreh- und Angelpunkt ist verschwunden, die Gesellschaft hat keinen Kompass mehr, die psychiatrischen Praxen sind überfüllt. Unsere Landsleute stehen am Rande eines Nervenzusammenbruchs und sind bereit, sich gegenseitig zu beschimpfen, während das Land mit über 3 Billionen Euro verschuldet ist und die EU mit einem Defizitverfahren droht. Der Kontrast zwischen der Selbstzufriedenheit des Präsidenten bei seinen Neujahrsgrüssen und der Anhäufung von Katastrophenmeldungen in den letzten sechs Monaten ist atemberaubend.

Die Messer sind gewetzt

Am wütendsten sind die Macronisten selber, die von der Laune des Prinzen im Flug niedergemäht wurden. Allen voran Premierminister Gabriel Attal, der wenige Monate nach seiner Ernennung seines Postens beraubt wurde. Wirtschaftsminister Bruno Le Maire bezeichnete Macrons Berater, die verdächtigt wurden, ihm die Auflösung vorgeschlagen zu haben, als «Asseln, die in den Rillen des Parketts des Élysée-Palastes herumwimmeln». Der Begriff machte die Runde.

Die Messer sind gewetzt, die ehemaligen Höflinge bereiten sich auf den symbolischen Mord am Mini-Monarchen und an seinen Lakaien vor. Das präsidiale Lager ist von einem allgemeinen «Rette sich, wer kann» betroffen und droht zu verschwinden, während Jordan Bardella mit dem Gesicht eines idealen Schwiegersohns am Abend des 8. Juli vielleicht Premierminister wird.

Das Rassemblement national hat mit den Themen Unsicherheit und Einwanderung Wahlkampf gemacht. Die Partei ist von Ressentiments geplagt und von ihrer eigenen Vergangenheit geprägt. Sie scheint nur ein Projekt zu haben: die Rache der kleinen Leute an den globalisierten multikulturellen Pariser Eliten. Politisch antieuropäisch auf Putin und damit indirekt auf seine Verbündeten Iran, Hizbullah und Hamas ausgerichtet, fehlt es ihr an der Erfahrung und dem Know-how von Giorgia Meloni in Rom.

Jordan Bardella ist zwar ein politisches Naturtalent und ein geschickter Redner, aber er scheint vor allem von den Belastungen, die auf ihn zukommen, in Panik versetzt zu werden. Und Marine Le Pen, die bereits ihre Zähne zeigt und eine Säuberung verspricht, hat in den jüngsten öffentlichen Debatten mit Macron genauso inkompetent gewirkt, wie sie es 2017 oder 2022 war. Am erschreckendsten ist die krasse wirtschaftliche Ignoranz dieser Bewegung in Verbindung mit der Demagogie ihres Programms. Darin ähnelt sie jenem von François Mitterrand im Jahr 1981. Das scheint den direkten Weg in den Bankrott zu ebnen.

Frankreich wird wieder aufstehen

Auf der anderen Seite ist die neue Volksfront nicht viel besser. Die Umsetzung ihres Programms würde die Schulden ohne zusätzliche Einnahmen laut einer Schätzung um 233 Milliarden pro Jahr erhöhen. Ausserdem ist der Zusammenschluss durch das Bündnis mit France insoumise diskreditiert. Diese antisemitische und proislamistische Gruppierung, angeführt vom schrillen, aber talentierten Jean-Luc Mélenchon, der lachend dazu aufruft, «die Polizisten zu töten», verkörpert immer mehr den Linksfaschismus.

Aber die Franzosen, die überzeugt sind, unglücklich zu sein – «Ich glaube, ich bin in der Hölle, also bin ich es», sagte Rimbaud –, haben die Extreme vorgezogen. Als ob die Lösung für ihre Angst in bereits versuchten und anderswo widerlegten Rezepten bestünde. Vielleicht werden, so scheint man zu hoffen, die Fehler der anderen, etwa der Brexit in England, zu magischen Lösungen in unseren Händen.

Es bleibt der Kreis der Vernunft, der von der Sozialdemokratie über die Trümmer der präsidialen Mehrheit bis hin zur republikanischen Rechten reicht. Allerdings wird seine Relevanz immer kleiner. Frankreich wird den Untergang der Macronie und die Schurken und Dummköpfe, die sie ersetzen werden, überleben, denn es hat schon andere gesehen. Es ist die Eigenart einer lebendigen Nation, zu stolpern, ja sogar ins Gras zu beissen und wieder aufzustehen. Die Zukunft wird zeigen, ob der kranke Mann Europas noch zu einem Aufbäumen fähig ist.

Pascal Bruckner ist Philosoph und Schriftsteller. Er lebt in Paris. – Übersetzt aus dem Französischen.

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