Vom Basler Münster zum Zürcher Grossmünster: eine unbesinnliche Geschichte aus der Adventszeit.
Irgendwann ging es nicht mehr, und im Basler Münster geschah etwas, was Kirchen unbedingt vermeiden wollen. Die Kirchentüren schlossen sich, in der Adventszeit, ausgerechnet. Die unfrohe Botschaft dieser drastischen Massnahme wurde per Medienmitteilung verkündet: Die Münsterpfarrerin schrieb von einer «Notbremse», die man ziehen müsse, von «machtlosen» Mitarbeitern, von «sinkendem Anstand», ja gar davon, dass die «Sicherheit nicht mehr gewährleistet» werden könne.
Dabei wäre die Szenerie in Basel friedlich, festlich. Die Kirche, ein Wahrzeichen der Stadt, schön gelegen mit Blick auf den Rhein, wird im Advent sanft ummantelt von einem beliebten Weihnachtsmarkt. Er ist in jedem Touristenführer gelistet, der etwas auf sich hält.
Die Schattenseite: «Overtourism». Die Gäste: zunehmend aggressiv. Tausende Menschen werden in Cars und Schiffen auf den Münsterplatz gebracht. Und die Touristen wollen dann sehen, was ihnen versprochen wurde. Ein Gottesdienst, ein Konzert, das gerade läuft? Interessiert viele nicht. Es soll zu «wüsten Auseinandersetzungen» gekommen sein und sogar zu einem tätlichen Angriff. Die Notbremse war gleichzeitig ein Notruf: Ohne Hilfe bleibt das Münster wegen des nicht mehr zu bewältigenden Andrangs an den Wochenenden zu.
Drogenhandel und Vandalismus
Die Meldungen aus den Kirchen im Land klangen in den vergangenen Wochen nicht gerade besinnlich: Im Kloster Einsiedeln wurde die Madonna von einem Asylsuchenden geschändet. Und in Lokalblättern wird Drogenhandel, Vandalismus, Exhibitionismus vermeldet.
Gläubige werden angegangen, beleidigt. Der Kirchenraum wird als Toilette missbraucht. In Basel muss deswegen die St.-Joseph-Kirche von Securitas bewacht werden. Auch die Lust an der Zerstörung hat zugenommen. Überall im Land. In Frick (AG), in Aegerten (BE), in Oberrieden (ZH), in Wittenbach (SG). Die Jesuitenkirche in Luzern schliesst während der Fasnacht ihre Türen.
Und es wird gestohlen: Die katholische Kirche teilt mit, dass es immer wieder zu bandenmässigem Diebstahl gekommen sei, so dass Kunstwerke, vor allem in ländlichen, wenig besuchten Kirchen, mittlerweile befestigt werden. Sonst würde man sie auf den Schwarzmärkten in Osteuropa wiederfinden. Vielen Kirchenpflegen reicht es schon lange. Sie brauchen Hilfe – und im Notfall: einen Sicherheitsdienst.
Es ist paradox: An Sonntagen, wenn Gottesdienst ist, sind die Kirchen leer. Zwischen Montag und Samstag sind sie voll. Die Gläubigen wenden sich von der Institution ab, kehren aber zu Zehntausenden als Besucher zurück. Was dabei zunehmend verlorengeht, ist der Respekt vor einem Gotteshaus.
Im Basler Münster zeigt sich das exemplarisch. Wenn die Mitarbeiter sagen, dass der Glühwein draussen bleiben müsse, wird empört reagiert. Die Münsterpfarrerin sagte, dass etwas nicht mehr stimme, was den Umgang miteinander betreffe.
Inzwischen sucht die Kirche mit dem Kanton Basel-Stadt und dessen Tourismusabteilung nach Lösungen. Mehr Sicherheitspersonal, geregelter Eintritt, vielleicht sogar Ticketverkäufe: Alles ist denkbar. Entschieden wird im nächsten Jahr.
Sex und Selfies
Christoph Sigrist hat als langjähriger Pfarrer im Zürcher Grossmünster «alles gesehen». Er sagt: «Wer nicht mehr kirchlich sozialisiert wurde, kann so einen Raum nicht lesen – und fängt an, herumzuschreien, zu essen, auszurufen.» Auf der Website des Grossmünsters gibt es jetzt eine Art Kirchenknigge: «Das exzessive Selfie-Fotografieren in Gruppen und private Fotoshootings sind zu unterlassen.» Oder: «Essen und Trinken im Kirchenraum ist untersagt.» An der Street Parade hat Sigrist gesehen, wie Raver in der Kirche Sex gehabt hätten.
Sigrist glaubt, die Kirche sei zu einem Ort diffuser Spiritualität geworden – entsprechend diffus verhielten sich die Leute. Er hat das empirisch untersucht: «Der Pilgerstrom und der Touristenstrom fliessen ineinander, der Tourist und der Pilger sind je länger desto mehr eine Person.» Sie lassen sich anregen, hereinziehen. Aber zu welchem Zweck?
Stephan Jütte, Kommunikationsleiter der Evangelisch-reformierten Kirche, spricht von einem Ringen zwischen einem öffentlichem und einem gottesdienstlichen Raum. Das verschwimme besonders an zentraler Lage: «Im städtischen Raum treffen grossbürgerliche Kirchlichkeit, Tourismus und Prekariat, Bettelei und Drogenszene aufeinander: Dann gibt es Konflikte.» Die Kirche sei häufig der einzige Raum, der allen offen stehe, viele gebe es ja nicht mehr. Und er werde nur noch dank Freiwilligen aufrechterhalten – aber wie überall gibt es auch in der Kirche ein «Ressourcenproblem».
Es ist für die Kirchen ein weiterer Konflikt. Sie wollen da sein für alle Menschen, Anklage zu erheben, fällt den Institutionen schwer. Und abschotten kommt nicht infrage, man will sich nicht der Realität entziehen. Jütte stellt aber eine Frage: «Welches Interesse hat die Öffentlichkeit, dass die Kirchen offen bleiben? Als Institution oder auch als bedeutende Kirchenbauten?»
Beichtvater und Touristenführer
Für die Kirchen ist das eigentlich eine schizophrene Situation: Man kämpft um Leute – und hat gleichzeitig zu viele. Die Leute kommen nicht, um zu beten, sondern um sich zu fotografieren. Christoph Sigrist sagt, wenn er an einem der Samstage, an denen alle ins Grossmünster strömten, den Talar trage, sei er Seelsorger, Touristenführer, Geschichtslehrer, Beichtvater – und der, der sagt, wo das WC ist. Zwar sei allen klar: Das ist der Priester. Aber alles andere verschwimmt.
Bei den Respektlosigkeiten dürfte es sich also kaum um Religionsfeindlichkeit handeln. Bei Touristen geht es um Individualismus. Ich. Jetzt. Sofort. Bei Vandalen ist es wohl Frust, Imponiergehabe, Rachegefühl. Die Kirchen sind Orte, wo sich gesellschaftliche Veränderungen am stärksten zeigen.
Irgendwann wird es so nicht mehr weitergehen können. Aber noch nicht jetzt. Weil der Kanton Basel-Stadt der reformierten Kirche zu Hilfe kommt, wird am vierten Adventswochenende das Münster wieder offen sein.