Dienstag, November 4

Der Westen hat Schlagseite bekommen. Als politische Macht, als historische Grösse. Und als Idee. Weil er selbst nicht mehr weiss, wofür er steht.

Er liegt im Sterben. Oder ist vielleicht schon tot. Spätestens seit der US-Vizepräsident J. D. Vance Anfang Jahr an der Münchner Sicherheitskonferenz deutlich machte, dass er Europa als Quantité négligeable betrachtet, gilt es als ausgemacht, dass der Westen am Ende ist. Unter Intellektuellen und Politikern wird darüber debattiert, ob er noch gerettet oder wiederbelebt werden könnte. Aber die Debatte verläuft zögernd. Man spricht über den Westen wie über einen Patienten, den man eigentlich schon aufgegeben hat und schonen möchte. Aus Pietät.

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Es ist nicht das erste Mal, dass er für gescheitert erklärt wird. «Ist der Westen noch zu retten?», titelte «Die Zeit» vor mehr als zwei Jahren – und gab damit implizit auch schon die Antwort auf die Frage: wohl kaum. Das war vor allem als politische Bestandesaufnahme gemeint. Und da zeigte sich tatsächlich ein trostloses Bild. Vom Balkan über den Irak und Afghanistan bis zur Ukraine: Misserfolge, Zögern und Uneinigkeit.

Aber nicht nur als politische Macht hat der Westen Schlagseite bekommen. Auch als historische Grösse. Und als Idee. Seit den Kreuzzügen eine nicht abreissende Folge von Krieg und Unterdrückung. Sklaverei, Imperialismus, Kolonialismus: Ausgerechnet Europa, das sich rühmt, der Welt gezeigt zu haben, was Freiheit und Gleichheit bedeuten, hatte unter dem Deckmantel einer verlogenen Moral nichts anderes im Sinn, als sich die Welt untertan zu machen. So lautet die Anklage, die die Fürsprecher des «globalen Südens» und die Vertreter der Postcolonial Studies gegen den Westen führen.

Humanismus, Aufklärung, Vernunft, Menschenrechte? Die postkolonialen Kritiker entlarven die grossen Begriffe als Ideen von weissen Männern, die dazu missbraucht worden seien, die Macht des weissen Manns bis in die letzten Winkel der Welt zu tragen. Die Denker der Aufklärung hätten ihre Vorstellungen von Gut und Böse zum Mass aller Dinge erklärt. Möglicherweise in guter Absicht. Doch letztlich hätten sie damit Eroberern, Kaufleuten und Sklavenhändlern den Weg geebnet, um die Erde auszubeuten und Menschen, die sie für unterlegen gehalten hätten, für sich arbeiten zu lassen. Das Fazit der postkolonialen Historiker ist klar: Es gibt keinen Grund, auf diesen Westen stolz zu sein.

Historische Konstanten

Rassismus, Sklaverei und Kolonialismus sind ein übles Kapitel der europäischen Geschichte. Das lässt sich nicht aus der Welt reden. Dass sie erst mit Verspätung aufgearbeitet werden, ist ebenfalls richtig. Nur, das Bild des Westens auf sie zu reduzieren, ist genauso unzulässig, wie sie auszublenden. Und zu behaupten, das Böse sei mit dem weissen Mann in die Geschichte gekommen, ist so unbedarft wie haltlos.

Krieg, Eroberungen und Unterdrückung sind eine historische Konstante. In allen Kulturen. Die Osmanen waren zweimal drauf und dran, Europa zu einem Teil ihres Reichs zu machen. Wer den westlichen Kolonialismus anprangert, muss auch Chinas tausendjährige Herrschaft über Vietnam zur Kenntnis nehmen. Die arabische Eroberung Spaniens. Und die heutige Gewaltherrschaft Chinas über Tibeter und Uiguren. Sklaverei gab es auch in chinesischen Kaiserdynastien, und über Jahrhunderte hinweg haben afrikanische Stammesfürsten Menschen versklavt und an arabische Händler geliefert, die sie dann in die Neue Welt verkauften.

Selbstverständlich, der Westen hat davon profitiert. Aber er war es auch, der dem Geschäft mit Sklaven ein Ende gesetzt hat. Die Briten haben den Menschenhandel 1807 verboten. Im Lauf des 19. Jahrhunderts zogen die europäischen Staaten nach. Im Gegensatz zu den islamischen Ländern, in denen die Sklaverei zum Teil noch bis weit ins 20. Jahrhundert Realität war. In Saudiarabien wurde sie 1962 offiziell abgeschafft, in Oman 1970. Und in Libyen gab es noch bis vor wenigen Jahren Sklavenmärkte.

Das mindert die historische Schuld des Westens nicht. Im Gegenteil. Wer Werte wie Freiheit und Gleichheit propagiert und sich mit Gewalt zum Herrn der Welt machen will, diskreditiert nicht nur sich selbst, sondern auch die Ideen, für die er einzustehen behauptet. Und nicht alle Untaten liegen Jahrhunderte zurück.

Schuldig in allen Punkten

Die Bilder der amerikanischen Soldaten, die im Irak Kriegsgefangene folterten, sind noch in frischer Erinnerung. Dass die USA den Irak aus vorgeschobenen, falschen Gründen angriffen, ebenfalls. Der Glaubwürdigkeit des Westens hat das massiv geschadet. Für weite Teile der nichtwestlichen Welt lieferten die Ereignisse im Irak einen Beweis mehr dafür, dass Demokratie und Rechtsstaatlichkeit nur ein dünner Firnis seien, unter dessen Schutz der Westen erbarmungslos das Recht des Stärkeren durchsetze.

Wenn über den Westen debattiert wird, sind die Fronten klar. Für die einen steht er für das ambitionierte Projekt der Moderne, das Freiheit, Menschenrechte und Marktwirtschaft für alle verspricht. Die anderen halten die universalistischen Prinzipien der Aufklärung, auf die sich der Westen beruft, für Heuchelei, hinter der sich ein patriarchales, rassistisches Unternehmen verborgen habe. Das mündet in eine Grundsatzdiskussion, in der es meist nur zwei Positionen gibt. Emphatische Verteidigung westlicher Werte oder radikale Verurteilung: schuldig in allen Punkten.

Kein Ausweg also. Das Verwunderliche an der Debatte sind allerdings nicht die Vorwürfe, mit denen ehemalige Kolonien und Nachfahren von Sklaven historische Gerechtigkeit verlangen – auch wenn fraglich ist, ob es so etwas überhaupt geben kann. Das Erstaunlichste ist vielmehr, dass Stimmen aus dem Westen so zuverlässig wie eindringlich in den Chor der Ankläger einstimmen und sich selbst für schuldig erklären.

Der niederländische Ministerpräsident, der belgische und der englische König haben sich öffentlich für die Rolle ihrer Länder im Sklavenhandel entschuldigt. Westliche Forscherinnen und Forscher stehen an vorderster Front, wenn es darum geht, koloniale Verbrechen aufzudecken. Europäische Staaten geben Kunstwerke zurück, die während der Kolonialzeit geraubt wurden.

Die grosse Fiktion

Das sind oft unverbindliche Gesten. Aber sie zeigen, was den Westen vor allem auszeichnet: die Kultur der freien, offenen Debatte. Vorwürfe können geäussert werden, ohne dass jemand Angst haben müsste vor Zensur. Kritik wird diskutiert, Schuld benannt, wo sie sich zeigt. Unrecht wird nicht unter den Tisch gewischt. Wo möglich, werden Verantwortliche zur Rechenschaft gezogen.

Man kann die Geschichte des Westens als Geschichte von Verfehlungen schreiben. Aber man darf nicht darüber hinwegsehen, dass sie auch die Geschichte einer beispiellosen Kultur der Selbstkritik ist. Der Westen hat schreckliche Untaten begangen: von den Kreuzzügen über die Kolonialverbrechen bis zur Shoah. Doch keine Kultur hat ihre eigene Geschichte gründlicher aufgearbeitet. Aufklärung heisst, das eigene Denken und Tun kritisch zu reflektieren. Sich bewusst zu sein, dass nur das Geltung beanspruchen kann, was der Überprüfung standhält. Und dass dabei nicht Privilegien gelten, sondern Argumente.

Darin liegt die Stärke des Westens. Nur scheint dem Westen selbst diese Stärke nicht mehr bewusst zu sein. Weil er sich dauernd kleinredet. Mit System. Was wir als Westen bezeichnen würden, habe es nie gegeben, schreibt die britische Historikerin Josephine Quinn in ihrem neuen Buch «Der Westen. Eine Erfindung der globalen Welt». Sie ist nicht die Einzige, die das sagt. Ihr Buch reiht sich ein in eine Serie von historischen Darstellungen, die sich zum Ziel setzen, den Begriff des Westens zu dekonstruieren.

Der Westen, schreibt Quinn, sei kein Fakt, sondern eine Fiktion. Die westliche Welt, die sich als Nachfolgerin der griechischen und römischen Antike versteht? Das lasse sich so nicht halten. Die Werte, die wir als westliche Werte bezeichneten, hätten Griechen und Römer kaum geteilt. Das ist richtig. Demokratie war in Athen eine Angelegenheit von Männern, für die es selbstverständlich war, halbwüchsige Knaben zu verführen. Die Römer hielten Sklaven und schauten sich zum Zeitvertreib an, wie Menschen in der Arena von Löwen zerfleischt wurden.

Einen «privilegierten Zusammenhang» zwischen den alten Griechen und Römern und dem modernen «Westen» gebe es nicht, schliesst Quinn. Das Ganze sei ein ideologisches Konzept, zusammengezimmert aus notdürftig zurechtgebogenen Versatzstücken der Geschichte.

Die grösste Bewährungsprobe

Auch das ist richtig. Nur ist es nicht neu. Und nicht überraschend. «Der Westen» ist eine Idee, von der man nicht genau sagen kann, wann sie entstanden ist. Sie hat sich gebildet, seit der Renaissance, aus einem Amalgam von Vorstellungen. Aus dem Wunsch heraus, das Denken und Handeln an Leitlinien zu orientieren, die die eigene Zeit übersteigen. Von Menschen, die sich bewusst waren, dass es Zukunft und Vergangenheit nicht einfach gibt, sondern dass wir sie erschliessen und gestalten müssen. Und dass wir das nur können, wenn wir wissen, wer wir sein wollen.

Der Krieg in der Ukraine, die weltpolitischen Verwerfungen von Nahost bis nach China, die Herausforderung der europäischen Gesellschaften durch Migration, islamistischen Terror und totalitäre Tendenzen, dazu die Verstimmungen zwischen den USA und Europa: Der Westen ist nicht tot. Und liegt auch nicht im Sterben. Aber er steckt in der grössten Bewährungsprobe, die er je zu bestehen hatte. Zugleich ist er nach wie vor attraktiv: Millionen von Migranten zieht es nicht nach China, Afrika oder Russland, sondern nach Europa und in die USA.

Mag sein, dass die grösste Gefahr für den Westen gar nicht von aussen kommt, sondern vom Westen selbst ausgeht. Von seiner Fähigkeit zur Selbstkritik, die seine grösste Stärke ist, aber zur Schwäche werden kann, wenn sie ausgenützt wird. Von einer Linken, die, angestachelt von der postkolonialen Kritik, das westliche Erbe pauschal unter Verdacht stellt. Von einer Rechten, die universalistische Prinzipien ablehnt und die Demokratie schlechtredet. Und von einer Gesellschaft, die den Wert der Freiheit nicht mehr schätzt, weil sie sie für selbstverständlich hält.

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