Sonntag, Oktober 6

Am 4. September feiert die Musikwelt den zweihundertsten Geburtstag eines Komponisten, der noch immer Rätsel aufgibt. Bruckners Musik gehört heute zum Repertoire aller grossen Orchester, aber seine Persönlichkeit erscheint widersprüchlich.

Man sieht ihn doppelt. Gleich zweimal begegnet uns Anton Bruckner auf einer Fotografie von 1892, aufgenommen vier Jahre vor seinem Tod. Einmal schaut er leibhaftig direkt in die Kamera, allerdings mit einem so undefinierbaren Blick, dass man vieles darin lesen kann: Skepsis gegenüber dem noch umständlichen Prozedere des Abgelichtet-Werdens, aber ebenso kühl betrachtende Neugier, Selbstbewusstsein, ein demonstratives In-sich-Ruhen, das jedoch auch Unsicherheit überspielen könnte. Anders der «zweite» Bruckner, er ist auf einem Bild im Bild zu sehen, das oberhalb des Porträtierten an der Wand hängt. Darauf ist der Komponist einige Jahre jünger, er wirkt stolz, wie einer, der es zu etwas gebracht hat im Leben. Aber auch er lässt sich nicht in die Seele blicken – er schaut am Betrachter vorbei.

Die Fotografie entstand in Bruckners Wohnung für eine Serie mit dem Titel «Wiens Kunstgrössen zu Hause». Zu dem Zeitpunkt war Bruckner tatsächlich eine solche Kunstgrösse; endlich, nach Jahrzehnten heftigster Auseinandersetzungen um sein Werk, schien die Musikwelt ihn doch noch als Erben der grossen Wiener Komponistentradition anzuerkennen. Doch der Mensch Bruckner? Er gab schon seinen Zeitgenossen Rätsel auf. Und noch heute erhofft man sich von dieser wie von den nicht allzu zahlreichen weiteren Fotografien des Komponisten Aufschluss in einer zentralen Frage: Was verrät diese offensichtlich schwer zu fassende Persönlichkeit über ihre teilweise ebenso rätselhafte Musik – und umgekehrt?

Zur höheren Ehre Gottes

Die Frage nach der Beziehung zwischen Leben und Werk eines Künstlers ist ein Klassiker der Biografik aus dem 19. Jahrhundert. Sie wird bis heute gestellt und immer wieder problematisiert, gibt aber den Hörern bei zahllosen Komponisten, angefangen bei Beethoven, Wagner und Mahler bis hin zu Alban Berg und Wolfgang Rihm, einen Schlüssel in die Hand, mit dem man sich buchstäblich den Zugang zu deren komplexer Musik erschliessen kann. So kommt bis heute kein Text über Beethovens «Eroica»-Sinfonie ohne den Hinweis auf dessen persönliches Hadern mit Napoleon aus. Und in Wagners «Tristan» wird für immer der autobiografische Hintergrund seiner Zürcher Affäre mit Mathilde Wesendonck mitklingen. Bei Anton Bruckner jedoch stossen solche biografischen Deutungen auffällig rasch an Grenzen.

Er ist, wie vor ihm Bach und Mozart, eine grosse Sphinx der Musikgeschichte. Bei ihnen tragen weder Selbstzeugnisse noch überlieferte Vorkommnisse aus dem Leben entscheidend zum Verständnis des musikalischen Schaffens bei. Die Biografie bietet hier eine Rahmenerzählung und allenfalls ein bisschen schmückendes Beiwerk, im Falle Mozarts etwa die diversen Anekdoten rund um das Requiem. Doch am Ende wird man bei allen dreien auf das weitgehend abstrakte Spiel der Töne zurückgeworfen – ihr Leben spiegelt sich darin kaum.

Gut, wenn wenigstens ein vertonter Text einige Anhaltspunkte zur inhaltlichen Bedeutung gibt. Bei Bruckner führt allerdings auch dies nicht viel weiter: Von ein paar Gelegenheitskompositionen abgesehen, hat er ausschliesslich kirchliche und liturgische Texte vertont, allen voran die Worte der Messe und des Te Deum. Seine Hauptwerke, die insgesamt elf Sinfonien (inklusive einer «Studiensinfonie» und der sogenannten «Annullierten»), kommen im Unterschied zu Beethoven und Mahler ohne Texte aus.

Wo durch fehlende Überlieferungen oder die persönliche Zurückhaltung eines Künstlers so wenig Konkretes vorliegt, schafft sich die Mit- und Nachwelt rasch eigene Erzählungen. Bei Bruckner nahm man sein bedeutendes geistliches Schaffen zusammen mit einigen beredten Überlieferungen, etwa der angeblich geplanten Widmung der nicht mehr fertiggestellten 9. Sinfonie an den «lieben Gott», und würzte das alles kräftig mit der frühen Sozialisierung und lebenslangen Verwurzelung Bruckners in der religiösen Sphäre der Abtei von St. Florian: Fertig war das Bild eines erzkatholischen, bis in die Fingerspitzen frommen Tonsetzers, der immer und überall zur höheren Ehre Gottes komponierte.

Das Bild fand deshalb so weite Verbreitung und wird noch heute oft beschworen, weil es einerseits, wie die meisten Klischees, einen wahren Kern besitzt – und weil es andererseits vielfältige Anknüpfungspunkte bietet, für Freund und Feind. Anton Bruckner war, nach allem, was wir wissen, tatsächlich ein tiefgläubiger Mensch. Etliche seiner Werke versah er mit der Formel «O.A.M.D.G» («Omnia ad maiorem Dei gloriam»), und wie zum Beleg findet sich auch auf der Fotografie von 1892 nicht nur ein Harmonium zur privaten Andacht, sondern ebenso ein grosses Kreuz, direkt neben dem Flügel, der zum Komponieren diente.

Die Religiosität Bruckners musste jedoch auch schon zu Lebzeiten dafür herhalten, das Sperrige und vermeintlich Unverständliche seines Schaffens polemisch aufzuspiessen. Von Johannes Brahms stammt – leider! – der treffsicher zugespitzte Satz: «Bruckner ist ein armer verrückter Mensch, den die Pfaffen von St. Florian auf dem Gewissen haben.» Es ist nur der bekannteste von vielen bösartigen Sätzen, die Bruckner über sich lesen musste.

Lauter Widersprüche

Wenn die Musikwelt an diesem Mittwoch den 200. Geburtstag Anton Bruckners feiert, ist sie zwar über das Stadium solcher Polemiken hinaus – die Saal- und Kritikerschlachten um seine Musik sind geschlagen, sein Werk gehört längst zum Kanon jedes bedeutenden Konzertorchesters. Aber einig geworden ist man sich über seine Person auch nach zweihundert Jahren nicht. Denn nicht nur beim Religiösen, auch noch in vielen anderen Belangen wird man nicht recht schlau aus ihm. Weil die Materiallage phasenweise dünn ist oder gegensätzliche Interpretationen zulässt, erscheint sein Charakterbild durch und durch geprägt von Widersprüchen.

Je nach Perspektive der Autoren ist er mal ein unbeholfener Kauz, der sich seltsam kleidet und im Leben kaum zurechtfindet; ein andermal kommt er zwar als einfacher Mann vom Lande daher, weiss sich aber in der Weltstadt Wien gegen alle Widerstände durchzusetzen – wie in einem klassischen Bildungsroman. Der eine sieht in ihm den unterwürfigen Karrieristen, der vor Autoritäten katzbuckelt; der andere den visionären Künstler, der bei aller Bescheidenheit doch immer um den Wert seines Schaffens weiss. Mal lebt er asketisch nur seiner Musik, mal erscheint er als verschrobener Sonderling, der regelmässig jungen Frauen schöne Augen und überstürzte Heiratsanträge macht.

Zumindest die Sache mit den schönen Augen ist unzweifelhaft belegt, besonders aus dem Umfeld seiner einzigen Erholungsreise, die ihn 1880 durch die Schweiz führte. Dennoch passt hier wenig zusammen, zumal es von Bruckner auch kaum aussagekräftige Selbstdeutungen gibt – und erst recht keine intellektuell hochtrabenden Abhandlungen, wie man sie von Wagner oder Schönberg kennt.

Den grössten Widerspruch zu allen Darstellungen, die in ihm bloss einen weltfremden Biedermann sehen wollen, bildet indes seine Musik. Er selbst mag sich beim Komponieren als blosses Sprachrohr einer höheren Offenbarung gesehen haben; doch diese Eingebungen zeugen von Abenteuern im Geiste und einem kreativen Wagemut, der die Unterstellung geistiger Enge mit jedem Ton Lügen straft.

Kein in sich versponnener Nerd hätte solch raumgreifende Konzeptionen ersinnen können wie die der Fünften oder der Sinfonien Nr. 8 und 9. Hier wächst sich die schon von Beethoven ausgeweitete Form der Sinfonie endgültig zu Monumentalbauten aus, die man von jeher mit Kirchenräumen und Kathedralen assoziiert hat – klanggewordene Architektur. Bezeichnend erscheint, dass Bruckner einige seiner Sinfonien selbst als «keck» bezeichnet hat; er nahm also seinen Bruch mit den Konventionen sehr wohl reflektierend wahr.

Auch seine bekannte Verehrung für Richard Wagner, die irritierend devote Züge aufweist, entspringt einer bewussten künstlerischen Entscheidung: für die damalige Avantgarde, die Wagner mit der «Zukunftsmusik» seiner Musikdramen verkörperte, und gegen eine akademisch-traditionalistische Kunstauffassung, die man damals vor allem in Brahms personifiziert sah.

Bruckners Positionierung an der Seite der Fortschrittspartei ist überraschend für einen Komponisten, der sein Handwerk zunächst im strengen kirchenmusikalischen Stil gelernt und unter anderem in drei grossen Messen entwickelt hat. Seine Vorliebe für kontrapunktische Verdichtungen behielt er bei, sie manifestiert sich beispielhaft in der typischen Überlagerung und Schichtung von Themen als Schlussklimax vieler Sinfonien. Deren klangliche Einkleidung, ihr Hang zur Monumentalität und nicht zuletzt Bruckners stellenweise aussergewöhnlich kühne Behandlung der Harmonik sind dagegen ohne das Vorbild Wagners schwer vorstellbar.

Richtungsstreit unter Dirigenten

Im Unterschied zu den Wagner-Epigonen seiner Epoche ist Bruckner allerdings stilistisch immer als eigenständiger Komponist erkennbar, selbst noch in der ursprünglich mit Huldigungszitaten überfrachteten Dritten, der «Wagner-Sinfonie». Die Frage, wie viel Wagner durch Bruckners Musik geistert und wie stark dessen Einfluss bei der Interpretation zu gewichten sei, ist noch heute relevant – darum gibt es geradezu einen Richtungsstreit unter Dirigenten.

Erst jüngst konnte man die unterschiedlichen Zugänge exemplarisch am Lucerne Festival erleben: Der Kanadier Yannick Nézet-Séguin und das Festivalorchester brachten hier die 7. Sinfonie zur Aufführung – in einer rauschhaften, klangtrunkenen Lesart, in der sich sehr organisch eins aus dem anderen entwickelte. Die für Bruckner typischen Zäsuren und Neuansätze wurden gemildert, alles atmete, alles floss. Der prächtige Sound des Orchesters folgte klar dem sogenannten Mischklang-Ideal Wagners, in dem die Einzelstimmen der Instrumente im Gesamtklang aufgehen. Dieses Ideal ist noch für die gesamte Spätromantik prägend, namentlich für Richard Strauss und den frühen Bruckner-Verehrer Mahler.

Ganz anders Kirill Petrenko und die Berliner Philharmoniker in der 5. Sinfonie: Petrenko agiert am Pult viel rationaler, mustergültig transparent bringt er die hier besonders zahlreichen Kontrapunkt-Kunststücke zur Geltung. Ebenso klar wird Bruckners radikal zukunftsweisendes Komponieren mit thematischen Versatzstücken, die oft blockhaft, ohne mildernde Übergänge, in immer neuen Kontexten und orchestralen Einfärbungen präsentiert werden. Wer will, kann hier bereits Techniken des Filmschnitts und das modulare Denken am Bauhaus der 1920er Jahre vorweggenommen hören.

Die Zeitgenossen assoziierten dieses eigentümlich fragmentierte Komponieren gern mit Registerwechseln beim Orgelspiel – dies passte zu Bruckners Passion für die Orgel und zu der griffigen Vorstellung, er habe immer und überall Kirchenmusik komponiert. Doch wie viele andere wird auch diese Darstellung in ihrer Einseitigkeit längst infrage gestellt. Wer diesen Komponisten auf ein einzelnes Bild festlegen will, dem entgleitet er.

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