Donnerstag, Oktober 10

Archives municipales de St. Denis

Die Kathedrale von St. Denis nördlich von Paris ist ein kunsthistorischer Meilenstein und die Grablege fast aller französischen Könige. Nun soll sie zum Symbol der Renaissance einer verrufenen Banlieue werden.

Wer vor der Basilika von St. Denis steht, merkt sofort: Da fehlt etwas. Das Erscheinungsbild wirkt merkwürdig asymmetrisch. Denn da, wo sich einst der Nordturm erhoben hat, sieht man seit über 150 Jahren nur noch Himmel. Doch das triste Bild soll sich bald ändern. Denn die Arbeiten für eine Wiedererrichtung des verschwundenen Turms laufen.

Die Basilika in der Nähe der Pariser Stadtgrenze ist nicht irgendeine Kirche. Sie ist kunsthistorisch von grosser Bedeutung und spielte auch in der französischen Geschichte eine wichtige Rolle. Sie gilt als eine der Gründungsbauten der Gotik, dieses in die Höhe strebenden Baustils, der zum Inbegriff des hochmittelalterlichen Kathedralenbaus in Europa geworden ist.

Geschändete Königsgräber

Hier errichteten Steinmetzmeister ab 1140 die ersten spitzbogigen Kreuzrippengewölbe. Und hier wurden mit ganz wenigen Ausnahmen alle französischen Könige vom Ende des 10. Jahrhunderts bis zur Revolution 1789 beerdigt. Die prächtigen Sarkophage belegen einen Grossteil der Kathedrale.

Heute sind sie leer. Denn auf dem Höhepunkt der Terrorherrschaft plünderten die Revolutionäre 1793 und 1794 die Gräber der verhassten Monarchen – unter dem Vorwand, das Blei der Särge für die Kriegsführung zu benötigen. Die Knochen warfen sie in ein Massengrab. Nachdem die Bourbonen-Könige 1815 wieder an die Macht gekommen waren, liessen sie die Gebeine in einem gemeinsamen Beinhaus in der Krypta der Kirche beisetzen. Dort ruhen auch die sterblichen Überreste von Ludwig XVI. und seiner Frau Marie-Antoinette, die nach ihrer Enthauptung nicht in St. Denis beerdigt wurden.

Verhängnisvolle Stürme

Dem aus dem 12. und 13. Jahrhundert stammenden, 90 Meter hohen Nordturm wurden nicht die revolutionären Wirren zum Verhängnis, sondern Stürme und Blitze einige Jahrzehnte später. Er bekam Risse und war stark einsturzgefährdet. Stein um Stein wurde er deshalb im Frühling 1846 abgetragen, mit dem Ziel, den Sockel zu stabilisieren und später mit dem Wiederaufbau zu beginnen.

Passiert ist das dann nie. Ein Umstand, der immer wieder beklagt wurde. 1992 läuteten alle 93 Kathedralen Frankreichs gleichzeitig, um das Projekt voranzutreiben. Doch es sollten weitere 30 Jahre verstreichen.

Die Kathedrale von Saint-Denis stand stets im Schatten der nur neun Kilometer entfernten Notre-Dame. Sie zieht viel weniger Besucher an und hat es bisher auch nicht auf die Liste des Unesco-Weltkulturerbes geschafft. Doch ausgerechnet der Brand der berühmtesten Kirche des Landes vor fünf Jahren und deren bald beendeter Wiederaufbau brachten für die Basilika von St. Denis den Durchbruch.

20 Millionen Euro übriggeblieben

Die Region Île-de-France wollte 20 Millionen Euro für die Rettung der Notre-Dame zur Verfügung stellen. Doch weil die Bevölkerung innert kürzester Zeit über eine Milliarde Euro für den gleichen Zweck spendete, wurde das Geld nicht mehr benötigt – und die Region entschied, stattdessen den Wiederaufbau des Nordturms von St. Denis mitzufinanzieren. Die 20 Millionen Euro decken mehr als die Hälfte des Budgets von 37 Millionen Euro.

Diese Woche führte der sozialistische Bürgermeister von St. Denis, Mathieu Hanotin, stolz eine Gruppe von Journalisten auf die Plattform, die derzeit noch den Abschluss des Nordturms bildet. Die Stabilisierungsarbeiten, die nötig waren, damit der Stumpf das Gewicht der neuen Spitze tragen kann, sind abgeschlossen. Im Herbst soll dann der eigentliche Wiederaufbau beginnen.

Ein «republikanisches Projekt»

Wenn er beim Reden über die Kathedrale mehrmals auf die Wurzeln seiner Stadt verweist, klingt Hanotin wie ein Konservativer. Und es entbehrt nicht einer gewissen Ironie, dass ausgerechnet ein Kirchturm für das «neue» St. Denis stehen soll, eine Stadt mit einem sehr hohen Anteil von Muslimen. Darauf angesprochen, beeilt sich der linke Bürgermeister zu betonen, dass es sich um ein republikanisches Projekt handle, kein religiöses.

Der Turm ist eine Priorität von Bürgermeister Hanotin, das zeigt sich auch daran, dass er selbst den Verein präsidiert, der die Rekonstruktion organisiert. Die Wiederherstellung des alten Erscheinungsbildes der Kathedrale soll nach seinem Willen ein Symbol für die Renaissance von St. Denis sein. Hanotin möchte aus der verrufenen Banlieue mit der hohen Kriminalitätsrate einen attraktiven Ort zum Leben und Arbeiten machen – auch dank den Investitionen im Zusammenhang mit den Olympischen Spielen.

Das republikanisch-gemeinschaftliche Element zeigt sich laut Hanotin im Crowdfunding, das bis zu 5 Millionen Euro bringen soll. Bürgerinnen und Bürger können für 15 bis 3000 Euro einen der über 15 000 Steine sponsern, die für den Wiederaufbau nötig sind. Auf einem interaktiven Plan sehen sie genau, wo der Stein dereinst hinkommen wird. Und sie sollen später ein Video vom Einsetzen «ihres» Steins bekommen.

Zwar lagern noch zahlreiche Steine vom ursprünglichen Bau im Garten der Kathedrale. Aber sie sind nach über 150 Jahren nicht mehr in einem Zustand, in dem man sie verwenden könnte. Alle 15 000 Steine sind also neu. 130 Handwerker werden auf der Baustelle tätig sein, viele von ihnen müssen die alten Steinmetz- und Schmiedefertigkeiten erst noch erlernen.

Nur das Kreuz fehlt

«Man kann kein Monument originalgetreu rekonstruieren, wenn man nicht die Techniken beherrscht, die beim Bau ursprünglich zur Anwendung kamen», sagt der hauptverantwortliche Architekt Jacques Martin. Künstlerische Freiheiten durfte er sich keine nehmen, der Turm soll genau so aussehen wie Mitte des 19. Jahrhunderts (und damit weitgehend wie im Mittelalter). Nur das Kreuz, das einst zuoberst auf dem Turm stand, fehlt auf den neusten Bauplänen.

Martin konnte sich auf eine Dokumentation stützen, die besser sei als bei den meisten noch stehenden gotischen Kirchtürmen. Denn vor der Demontage haben seine Vorgänger jedes Detail der Konstruktion und der Fassade aufgezeichnet. Es existieren sogar noch Fotos, die Fotografie war wenige Jahre vor dem Ende des Nordturms erfunden worden.

Das Publikum kann den Handwerkern beim Arbeiten zuschauen und in Ateliers auch selbst Steine behauen. Der neue Nordturm soll in fünf Jahren fertig sein. Und irgendwann könnte er auch wieder seine Glocken bekommen. Doch das ist noch Zukunftsmusik – genauso wie eine Stadt St. Denis ohne soziale Konflikte und Drogendealer.

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