Montag, September 30

Das heutige System sei unfair und setze falsche Anreize für Versicherer, finden die Grünen. Doch ginge es mit einer staatlichen Lösung günstiger?

Nach 130 Jahren war Schluss. Am 30. Juni 2018 beerdigte Daniel Rüegg die Krankenkasse Turbenthal. Nicht etwa wegen mangelnden Erfolges, im Gegenteil. Die Versicherung war beliebt. Als günstigste Krankenkasse der Schweiz war sie bekannt, Rüegg war der einzige Mitarbeiter und sein eigener Chef.

Er konnte längst nicht alle Interessierten aufnehmen. Darum beschränkte er das Angebot auf Versicherte aus Turbenthal sowie die umliegenden Gemeinden Wila und Wildberg im Zürcher Oberland. 400 waren es insgesamt.

Was Rüegg zum Verhängnis wurde: Er arbeitete ausschliesslich mit Karteikärtchen und der Schreibmaschine, aus Kostengründen. Der «Blick» rechnete vor: Im Jahr 2018 zahlten Schweizer für die Grundversicherung mit 300 Franken Franchise 465 Franken pro Monat – bei der Krankenkasse Turbenthal waren es nur 260.

Doch der Bund verlangte zumindest eine teilweise Digitalisierung, um etwa die Daten der Versicherten in elektronischer Form ans BAG in Bern schicken zu können. Zum «Blick» sagte Rüegg: «Hätte ich mir einen Computer und die nötige Software gekauft, könnte ich meinen Versicherten nicht mehr die günstige Prämie von heute bieten.» Deshalb schloss er seine Krankenkasse schweren Herzens.

Eine monatliche Prämie von nur 260 Franken – das ist heute praktisch undenkbar. In den letzten Jahren sind die Prämien stark gestiegen. Das setzt die Versicherungen unter Druck. Sie müssten effizienter werden und «um ihre Kundschaft kämpfen», sagte jüngst in der NZZ Marcel Thom, Leiter Krankenversicherungen beim Beratungsunternehmen Deloitte.

Kann es das überhaupt geben: eine günstige Krankenkasse? Diese Frage stellt man sich auch in der Stadt Zürich. Die Grünen haben nun einen brisanten Vorstoss im Stadtparlament eingereicht: Zürich soll die Einführung einer städtischen Krankenkasse prüfen. Der Wettbewerb zwischen den Krankenkassen gehe auf Kosten der Versicherten und setze die falschen Anreize, kritisiert die Partei. Deshalb brauche es neben den privaten Kassen neu ein staatliches Angebot.

«Nur an möglichst hoher Rendite interessiert»

Matthias Probst, der das Postulat zusammen mit Yves Henz eingereicht hat, hält regionale oder kommunale Krankenkassen für den richtigen Ansatz – und er begrüsst Angebote, wie es sie in Turbenthal gab. Private Anbieter hingegen sollte es aus seiner Sicht keine mehr geben. «Sie sind nur an einer möglichst hohen Rendite interessiert, nicht an der Gesundheit der Versicherten.»

Dies führe dazu, dass ältere und kranke Menschen sowie Personen mit tiefem Einkommen benachteiligt würden. «Sie sind für die Kassen nicht interessant.» Hohe Prämien könnten zu existenzieller Not führen.

Probst stört sich ausserdem daran, dass Krankenkassen viel Geld in Werbung und Marketing investieren, ohne dass die Versicherten davon profitieren. Mit einer städtischen Krankenkasse, glaubt er, wäre das anders. Probst sieht sie als fehlendes Puzzleteil in der Gesundheitsversorgung, die die Stadt schon heute anbietet, insbesondere mit dem Stadtspital.

Die Versicherung solle – nach einer Anschubphase – kostendeckend funktionieren. Eine städtische Krankenkasse könne mit schlanken Strukturen kosteneffizient arbeiten, eine solide Grundversorgung bieten und den Fokus auf die Gesundheit der Zürcherinnen und Zürcher legen. Für Probst bedeutet das auch, dass die Stadt im Sinne der Prävention standardmässig Gesundheitschecks oder Sportabos für die breite Bevölkerung anbieten sollte.

Und die Grünen denken noch weiter: Langfristig soll die städtische Versicherung Teil einer «gesamtschweizerischen staatlichen Einheitskrankenkasse» werden (die es heute nicht gibt) und deshalb Kooperationen mit anderen staatlichen Versicherern suchen.

Doch wie sinnvoll ist es, wenn der Staat zum Krankenversicherer wird? Die NZZ hat dazu zwei renommierte Gesundheitsökonomen befragt: den Berner Heinz Locher sowie Willy Oggier aus Zürich. Beide betonen, dass das heutige Gesundheitssystem nicht unfair sei. Personen mit tiefem Einkommen erhielten Prämienverbilligungen. Zudem hätten die Kassen eine Aufnahmepflicht. Und wer mit den Leistungen nicht zufrieden sei, könne wechseln.

Heinz Locher findet, die Krankenversicherung sei keine staatliche Aufgabe. Solche Ansätze habe es in der Schweiz immer wieder gegeben, sagt er. «Sie sind alle gescheitert.»

Als Hauptproblem nennt er die hohen Fixkosten, die auch bei einer städtischen Lösung anfallen würden. Sie hätte die gleichen Auslagen für Logistik, Informatik, Fachleute und Rechnungskontrolle – nur nicht für den CEO. Deshalb rentiere der Betrieb einer Krankenkasse erst ab etwa 100 000 Versicherten. «Aber so viel kämen nicht einmal in der Stadt Zürich zusammen.» Zudem müsste sich auch eine städtische Krankenkasse einem Verband anschliessen und Verträge mit Spitälern und Ärzten eingehen.

Für Locher ist deshalb klar: Eine städtische Krankenkasse könnte keine günstigeren Prämien anbieten als eine private.

Günstigere Prämien kaum möglich

Der Gesundheitsökonom Willy Oggier sagt, die Idee der Grünen sei gut gemeint, aber nicht realistisch – aus mehreren Gründen. Erstens sieht er einen Rollenkonflikt. Die Stadt Zürich betreibe schon ein Stadtspital sowie Alters- und Pflegeheime. «Wenn sie jetzt auch noch zum Krankenversicherer wird, kann dies zu Wettbewerbsverzerrungen gegenüber privaten Anbietern führen.»

Zweitens müssten sich Krankenkassen ans Bundesrecht halten und eine Grundversicherung für die Bevölkerung anbieten. «Der Leistungskatalog ist vorgegeben.» Es sei nicht möglich, Zusatzangebote nach eigenem Gutdünken zu machen, wie sich dies Probst vorstellt.

Und drittens glaubt Oggier, dass eine städtische Versicherung vor allem für Personen interessant wäre, die unattraktiv für Versicherungen seien. Diese verursachten hohe Kosten, was wiederum die Prämien erhöhen würde. Am Ende müsse der Steuerzahler für diese aufkommen. «Günstiger wird das System so sicher nicht. Eine städtische Lösung hätte eher den gegenteiligen Effekt: Es wird teurer.»

Bei den Bürgerlichen im Stadtparlament kommt der Vorstoss der Grünen auch schlecht an. Die FDP lehnt ihn ab. Gemeinderätin Deborah Wettstein sagt: «Die Stadt kann im Gesundheitssystem kein Sonderzüglein fahren, sondern muss sich an übergeordnete Gesetze halten.»

Deshalb sei es kaum möglich, eine günstigere Versicherung anzubieten. Eine staatliche Aufgabe sei dies ohnehin nicht, sagt Wettstein. Schon heute könnten die Zürcherinnen und Zürcher aus über vierzig Anbietern auswählen. Da brauche es nicht noch einen Anbieter mehr.

Bei den Linken dürfte es anders klingen. Sie setzen auch im Gesundheitswesen auf staatliche Lenkungen. Das zeigte sich erst kürzlich, als die rot-grüne Mehrheit im Stadtparlament dem Wunsch des Stadtspitals nach etwas mehr unternehmerischer Freiheit eine Absage erteilte. Der Stadtrat hatte das Stadtspital aus der Verwaltung ausgliedern wollen. Die Linke lehnte dies ab – weil sie weniger Mitspracherecht befürchtete.

Der Vorstoss wird nun im Stadtparlament beraten. Findet er eine Mehrheit, muss sich der Stadtrat damit befassen.

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