Mittwoch, Oktober 9

Nun muss definitiv das Bundesgericht entscheiden, ob nach dem milliardenschweren Rechenfehler die AHV-Abstimmungen von 2022 wiederholt werden müssen. Die Grünen warnen vor einer «Politik der vollendeten Tatsachen».

Richter lassen sich ungern unter Zeitdruck setzen, Bundesrichter erst recht nicht. Nun aber muss sich das höchste Gericht mit einem delikaten Fall befassen, der nicht nur die Fundamente der direkten Demokratie berührt, sondern bei dem auch der Faktor Zeit eine entscheidende Rolle spielt. Der Entscheid des Bundesgerichts dürfte auch davon abhängen, wie lange es sich dafür Zeit lässt.

Der Reihe nach. Die Grünen haben am Dienstag mitgeteilt, dass sie ihre Beschwerde gegen die Volksabstimmung über die Reform «AHV 21» definitiv an das Bundesgericht weiterziehen. Die Vorlage umfasste primär die Angleichung des Rentenalters der Frauen an jenes der Männer. Sie ist 2022 knapp angenommen worden (50,5 Prozent Ja).

Nun aber verlangen die Grünen, die Abstimmung müsse annulliert werden. Auslöser der Beschwerde ist die aufsehenerregende Korrektur der AHV-Zahlen, über die der Bund vor zwei Wochen informiert hat. Das Bundesamt für Sozialversicherungen (BSV) musste beichten, dass seine Projektionen die mittelfristige Entwicklung der Ausgaben des Sozialwerks überschätzt hatten. Die AHV dürfte zwar ab 2026 wachsende Defizite schreiben, diese fallen aber kleiner aus als erwartet, der AHV-Fonds geht weniger rasch zur Neige.

«Massiv beeinflusst»

Ursache der Panne sind laut BSV zwei «fehlerhafte Formeln». Diese waren – und das macht die Sache delikat – bereits bei der Berechnung der AHV-Zahlen zum Einsatz gekommen, mit denen der Bund im Vorfeld des Urnengangs von 2022 argumentierte. Im damaligen Abstimmungsbüchlein war dieser Satz zu lesen: «In den nächsten zehn Jahren hat die AHV einen Finanzierungsbedarf von rund 18,5 Milliarden Franken». Diese Zahl dürfte nach allem, was bisher bekannt ist, zu hoch sein.

Aus Sicht der Grünen ist der Fall damit klar: Der Bund hat die Stimmberechtigten falsch informiert, und diese hatten keine Chance, den Fehler zu erkennen. Die pessimistischen Zahlen hätten die Debatte «massiv beeinflusst», wie die Grünen in der Beschwerde betonen. Sie verlangen die Aufhebung des Urnengangs, zumal dieser sehr knapp ausging, womit die Wahrscheinlichkeit, dass der Fehler den Ausgang entscheidend beeinflusst hat, umso grösser ist.

Doch da gibt es noch ein Problem. Am gleichen Tag hat das Volk auch über eine Erhöhung der Mehrwertsteuer für die AHV abgestimmt, die rechtlich mit der anderen Vorlage verknüpft war. Will heissen: Die Zusatzfinanzierung und die Erhöhung des Rentenalters der Frauen waren voneinander abhängig, es konnten nur beide Vorlagen zusammen in Kraft treten oder keine von beiden. Das stürzt die linken Kritikerinnen in ein Dilemma. Auch die SP-Frauen haben eine Beschwerde angekündigt, diese soll sich aber nur gegen die Abstimmung über das Rentenalter 65 richten, nicht gegen die Steuererhöhung. Denn die höheren Einnahmen für das Sozialwerk möchte man nicht aufs Spiel setzen.

AHV würde zwei Milliarden im Jahr verlieren

Die Grünen gehen einen anderen Weg. Zwar würden auch sie es am liebsten sehen, wenn das Bundesgericht einzig den Volksentscheid über das höhere Rentenalter widerrufen würde. Aber für den Fall, dass sie damit nicht durchkommen, verlangen sie in einem Eventualantrag die Aufhebung beider Abstimmungen. Dies wiederum würde sich bei der AHV umgehend bemerkbar machen: Wenn die beiden Urnengänge nachträglich aufgehoben werden, verliert das Sozialwerk in den nächsten Jahren je rund 2 Milliarden Franken, was – Rechenfehler hin oder her – die Finanzlage sofort markant verschärfen würde.

Doch vor allem ein Argument spricht dagegen, dass es so weit kommt. Hier kommt der Faktor Zeit ins Spiel: Das Bundesgericht hat in früheren Streitfällen betont, dass die nachträgliche Aufhebung einer Abstimmung jeweils dann besonders problematisch ist, wenn der Entscheid in der Zwischenzeit handfeste Konsequenzen hatte. Wenn revidierte Gesetze bereits in Kraft getreten sind, wenn Privatpersonen oder Firmen sich an neue Umstände angepasst haben, wenn aufgrund der neuen Regeln unumkehrbare Entscheide gefallen sind: In solchen Fällen sprechen laut Gericht die Rechtssicherheit sowie die Grundsätze von Treu und Glauben gegen die Annullation einer Abstimmung, auch wenn diese womöglich durch falsche Informationen beeinträchtigt worden ist.

Aus diesem Grund hat das Gericht 2011 den Volksentscheid über die Unternehmenssteuerreform II nicht kassiert. Hingegen hat es 2019 die Abstimmung über die Volksinitiative gegen die Heiratsstrafe auch deshalb aufgehoben, weil dieser Urnengang keinerlei praktische Folgen gehabt hatte. Für die Grünen verheisst das wenig Gutes. Die höheren Sätze der Mehrwertsteuer sind bereits in Kraft getreten, dasselbe gilt für einige kleinere Elemente der AHV-Reform. Deren Herzstück wiederum – die Erhöhung des Rentenalters der Frauen – wird ab Anfang 2025 schrittweise umgesetzt. Bis dahin sind es weniger als fünf Monate.

Prognosen sind unsicher

Auch wenn sich das Bundesgericht angesichts der Tragweite sputen dürfte: dass es vor Ende Jahr entscheiden wird, erscheint unrealistisch. Im Fall der Heiratsstrafe sind vom Eingang der Beschwerden bis zum Urteil etwa zehn Monate vergangen. Wenn der Entscheid in Sachen AHV ebenso viel Zeit in Anspruch nimmt, dürfte ein Widerruf unwahrscheinlich sein.

Den Grünen ist dieses Risiko sehr wohl bewusst. In ihrer Beschwerdeschrift monieren sie, eine solche «Politik der vollendeten Tatsachen» werde das Vertrauen in die Demokratie gefährden. Mehr noch: Bundesämter, die Fehler gemacht haben, könnten versucht sein, diese erst offenzulegen, wenn es zu spät ist, wenn eine Abstimmung nicht mehr aufgehoben werden kann.

Noch ein zweiter Punkt spricht gegen die Grünen: Bei den umstrittenen Zahlen handelte es sich um Prognosen. Das musste allen Stimmberechtigten klar sein. Und wie hielt das Bundesgericht im Fall Heiratsstrafe fest: «Der Umstand allein, dass sich Prognosen im Nachhinein als unzutreffend oder falsch erweisen, stellt für sich genommen keine Irreführung der Stimmberechtigten und keine Verletzung der Abstimmungsfreiheit dar.»

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