Einst wollteBoulez alle Opernhäuser sprengen, später entwarf er selbst eines für Luzern: Heute wäre Boulez hundert geworden. Seine Weggefährten Michael Haefliger und Mark Sattler vom Lucerne Festival erinnern sich an den grossen Komponisten, Dirigenten und kulturpolitischen Unruhestifter.

Herr Haefliger, Herr Sattler, kaum einer hat die Musik nach 1945 so stark beeinflusst wie Pierre Boulez, er wird als stilprägender Dirigent und als wegweisende Gestalt des Kulturlebens gewürdigt. Bekannt geworden ist Boulez allerdings mit einer völlig anderen Attitüde, nämlich durch ein legendäres Interview mit dem «Spiegel». Darin fordert er 1967: «Sprengt die Opernhäuser in die Luft.» Wie passt das zusammen?

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Michael Haefliger: Ich würde das Zitat als pointierten Ausdruck seiner Unzufriedenheit mit dem damaligen Musikbetrieb verstehen, nicht als Agitation. Als ich Anfang der 1980er Jahre in New York studierte, hatte Boulez bereits die grossen amerikanischen Orchester geleitet, das Cleveland Orchestra und als Nachfolger von Leonard Bernstein die New Yorker Philharmoniker. Er wurde in den USA vor allem als grosser Dirigent gefeiert, er war ein Vorbild. Auch für mich: Wenn du nur halb so gut sein könntest, dachte ich damals, dann wärest du zufrieden.

Böse Zungen würden sagen: Er hatte seinen Frieden mit dem Establishment geschlossen.

Haefliger: Das glaube ich nicht. Als Komponist war er für den Musikgeschmack in den USA immer noch zu fortschrittlich, er wurde deutlich weniger rezipiert als seinerzeit in Frankreich oder Deutschland. Und auch als Dozent an der Juilliard School war er umstritten. Er sagte nämlich immer offen, was er für gute Musik hielt und was nicht.

Das tut er auch im Gespräch mit dem «Spiegel». Darin nennt er seinen Zeitgenossen Hans Werner Henze einen «lackierten Friseur», dessen Musik einem «oberflächlichen Modernismus» huldige – die beiden wurden keine Freunde mehr. Heute wirkt solch dezidiertes Freund-Feind-Denken befremdlich.

Mark Sattler: Die Lust an der Provokation und die Härte der Urteile in dem «Spiegel»-Gespräch – das ist sicher frappierend. So etwas findet sich auch in anderen Äusserungen aus dieser explosiven Phase vor 1968, was Boulez den Spitznamen «Robespierre der Musik» eintrug. Diese Radikalität, auch in der Sprache, scheint heute kaum mehr vorstellbar. Sie vermittelt aber einen Eindruck von der Strenge und Konsequenz seines Denkens.

Haefliger: Boulez wurde später vielleicht milder, blieb in seinen Urteilen aber immer furchtlos. Als wir am Lucerne Festival 2003 das Requiem von Bernd Alois Zimmermann aufgeführt haben, kam er auch in das Konzert. Ich habe da gesehen, dass er emotional von dem Werk nicht so berührt war wie ich. «Gefällt Ihnen das Stück?», habe ich ihn gefragt. Boulez antwortete so etwas wie «Nein, das ist nicht meine Welt». Er sagte das allerdings ohne diesen Furor der späten 1960er Jahre.

Trotzdem verrät die Ablehnung Zimmermanns, der wie Henze heute zu den Grossen der Nachkriegsmoderne gezählt wird, dass Boulez nach wie vor eng umrissene Vorstellungen hatte, wie Musik sein müsse. Man kann das auch dogmatisch nennen.

Haefliger: Das hat man ihm ja oft vorgeworfen. Aber wir haben ihn hier in Luzern nie als Dogmatiker erlebt. Dinge, die man anders sah, konnte man immer mit ihm besprechen, er war geistig unglaublich beweglich, auch adaptionsfähig. Er hatte bloss als Komponist eine gewisse Abneigung gegenüber zu viel Emotionalität, wie übrigens auch als Dirigent. Er steht damit in einer französischen Tradition.

Sattler: Primat für Boulez war das immanente Komponieren, das Strukturieren des musikalischen Materials, deswegen hat er Zimmermanns Zitier- und Collage-Technik abgelehnt. Aber es gab bei den Programmen der Festival Academy immer eine Offenheit. Er hatte natürlich sein Kernrepertoire, das er gepflegt hat, und Kollegen, die ihm näher standen als andere. Er hat etwa Heinz Holliger mit dessen Scardanelli-Zyklus geholt oder Péter Eötvös. Aber wir haben unter seiner Leitung auch viele Dinge gemacht, die nicht seinem Ideal von einem puren, rational bestimmten Komponieren entsprachen. Zum Beispiel Performances mit der Schweizer Musikerin Charlotte Hug, die mit Improvisationskonzepten arbeitet. 2002 brachten ihn Olga Neuwirth und ich mit dem New Yorker DJ Spooky zusammen, und er erlaubte für dessen Auftritt beim Festival sogar einen Remix seines Werks «Pli selon pli».

Angesichts des heutigen «Anything goes» in der Kultur fragt man sich: Woher nahm er seine klaren Prinzipien?

Haefliger: Für mich hat die Klarheit den ganzen Menschen Boulez ausgezeichnet, nicht nur sein Denken als Komponist. Boulez war neben seinem vielfältigen Wirken als Musiker ja zeitweilig auch einer der einflussreichsten Kulturpolitiker in Frankreich. Einer, der von Gleich zu Gleich mit Präsidenten wie Pompidou, Mitterrand und auch noch mit Sarkozy verkehrte. Wenn er denen mit dieser Klarheit und Entschlossenheit erklärt hat, warum Paris die neue Philharmonie brauchte und die Cité de la Musique, das Ensemble Intercontemporain oder das Ircam, dann bekam er früher oder später seinen Willen. Das präsidiale System in Frankreich hat manches beschleunigt, er hat das durchschaut und auf diese Weise unglaublich viel bewegt. Die Gratwanderung zwischen der Kulturpolitik und der Existenz als Künstler – wie er das hinbekommen hat, ist schon bewundernswert.

Sattler: Und er hat dabei auch gegenüber der Politik nicht zurückgesteckt. Als er in der aufgeheizten Diskussion um Jean Genets Theaterstück «Die Wände» und dessen Kritik am Algerienkrieg mit dem damaligen Kulturminister André Malraux aneinandergeraten war, hat er Frankreich 1967 verlassen und ist nach Baden-Baden übersiedelt. Dort hatte er seit 1958 einen Wohnsitz, und dort ist er 2016 auch gestorben, als Ehrenbürger der Stadt. Aber zunächst war es eine Art selbstgewähltes Exil, auch aus Frustration, weil plötzlich viele seiner Projekte in Frankreich nicht mehr umgesetzt werden sollten. Erst Georges Pompidou hat ihn dann zurückgeholt.

Würden Sie sagen, dass er ein Machtmensch war?

Haefliger: Man konnte diesen Eindruck gewinnen, weil er mit der Macht umzugehen wusste.

Sattler: Er hatte Einfluss und hat diesen – immer für die Sache, nie für sich selbst – machtbewusst eingesetzt. Persönlich haben wir ihn in Luzern als umgänglich und bescheiden erlebt.

Haefliger: In erster Linie war er ein Macher. Das habe ich erlebt, als ich Ende 2000 zu ihm nach Paris in sein kleines Studio am Ircam gegangen bin und ihm von meinen Ideen für eine Festival Academy erzählt habe. Kurz darauf sassen wir in Baden-Baden zusammen, haben erste Pläne gemacht, und es ging Schlag auf Schlag. Es gab bei ihm keinen Zwischenzustand, kein hinhaltendes «Ich überlege mal». Sondern gleich die Ansage: «Ja, mach ich.» Und die nächste Begegnung war schon das erste Arbeitstreffen. Das war bei der Academy so und auch später beim Projekt einer Salle Modulable für Luzern.

Wie kam es zu der Wendung, dass er schliesslich sogar selbst ein neuartiges Opernhaus bauen wollte?

Haefliger: Ich hatte immer den Wunsch, dass Musiktheater Teil des Festivalprogramms sein sollte. Einmal habe ich mit Boulez darüber in Baden-Baden gesprochen, da ist er aufgesprungen, hat irgendwo ein Dokument hervorgeholt und gesagt: «Das hier müssen Sie machen.» Er hatte schon für die neue Bastille-Oper in Paris eine variable Bühne gefordert, also ohne den klassischen Guckkasten. Das war der Ursprung der Salle Modulable.

Sattler: Und es war der konstruktive Kontrapunkt zu der anarchischen Forderung von 1967. Dort verurteilt er das Kulinarische, das Touristische, das Museumshafte am Opernbetrieb. Aber zur selben Zeit entwickelt er ein Konzept, das Musiker, Sänger, Darsteller, Tänzer in einer neuen Art von Musiktheater zusammenführte. Das sollte nicht einfach ein Opernhaus sein, in das man geht, um einen netten Abend zu erleben. Vielmehr ein «Zentrum der Erneuerung», wie er es nannte. Er wollte die Ausdrucksformen des Theaters erneuern, aber er verband das auch mit einem gesellschaftspolitischen Anspruch: Die Gesellschaft sollte durch Kultur weitergebracht werden.

Vieles daran wirkt wie eine moderne Version von Wagners «Gesamtkunstwerk»-Idee. Ist das ein Nachhall der Erfahrungen, die Boulez bei seinen Auftritten in Bayreuth gesammelt hat?

Sattler: Sicher, Boulez hat ja schon 1966 erstmals dort den «Parsifal» dirigiert und dann noch ein zweites Mal, ab 2004, in der skandalträchtigen Inszenierung von Christoph Schlingensief. Vor allem aber leitete er den sogenannten «Jahrhundert-Ring» von 1976 in der Regie von Patrice Chéreau.

Hat er sich damit endgültig vom Habitus des Opern- und Systemsprengers abgekehrt?

Haefliger: Man kann das so sehen. Aber stattdessen hat er die Wagner-Interpretation sozusagen von innen heraus revolutioniert – als Dirigent. Mit seiner Entschlackung und Entmystifizierung des Klanges hat er Massstäbe gesetzt. Ich glaube, er hält in Bayreuth bis heute den Rekord für den schnellsten dritten Akt beim «Parsifal». Wenig dahinter dürfte übrigens Pablo Heras-Casado folgen, der während seiner Zeit an der Festival Academy stark durch Boulez und sein strukturelles Denken geprägt wurde.

Sattler: In dem Dokumentarfilm «Inheriting the Future of Music» über die Akademie gibt es herrliche Stellen, wo Boulez und der junge Heras-Casado zusammen an Details arbeiten. Mit einer unglaublichen Intensität! Boulez korrigiert ihn ständig, das geht wirklich ans Eingemachte. Und weil oft zu lesen war, der Triumph von Heras-Casado in Bayreuth 2023 sei überraschend gekommen – hier sieht man, auf welchem Fundament er aufbauen konnte.

Der Preis für die Präzision und Transparenz in Boulez’ Interpretationen ist allerdings eine gewisse emotionale Distanziertheit. Betrachtete er beim Dirigieren auch die Werke anderer mit der kühlen Rationalität des Komponisten?

Sattler: Er hat ohne Stab gearbeitet, nichts hat also die Hand beschwert, alles war im Fluss. Ich finde diese schwerelose Transparenz faszinierend, viele Komponisten-Dirigenten haben dies, man hörte das ähnlich bei Péter Eötvös. Wenn ein Mensch ein so tiefes Verständnis für Komposition besitzt und die eigenen Werke sogar immer wieder neu gestaltet hat wie Boulez, wird der Blick auf die Partituren anders, souveräner, vielleicht auch kühler.

Haefliger: Das alles hat jedenfalls zu dem entschlackten Stil beigetragen, mit dem Boulez die Interpretation von Musik verändert hat. Und eben nicht nur die von zeitgenössischer Musik, sondern auch bei Mahler oder Bruckner, die er vom romantischen Überschwang befreit hat. Das kann man ablehnen – oder auf eigene Weise weiterdenken, wie es viele heutige Dirigentinnen und Dirigenten tun. Aber Boulez bleibt die prägende grosse Figur, mit der man sich auseinandersetzen muss.

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