Donnerstag, Oktober 10

Ibraheem Abu Mustafa / Reuters

Nach einem Jahr Tod, Hunger und Leid sind die Palästinenser erschöpft. Ihre Chance auf ein Leben in Selbstbestimmung und Freiheit wird immer kleiner – eine Geschichte vom Ende der Zuversicht.

Unbeschwert war das Leben im Gazastreifen nie – doch seit dem 7. Oktober ist es zur Hölle geworden. Die Hamas-Terroristen wussten, dass Israel mit aller Härte reagieren würde, als sie in den jüdischen Staat einfielen und wahllos mordeten. Doch das gehörte zu ihrem Kalkül. Für den Hamas-Chef Yahya Sinwar sind all die toten Zivilisten «notwendige Opfer»; ihr Tod wird «Leben in die Adern dieser Nation fliessen lassen», wie er in internen Mitteilungen verkündete.

Ein Jahr später liegt diese «Nation» am Boden. Israel schlug mit präzedenzloser Härte zurück. Laut den Hamas-Behörden wurden im vergangenen Jahr 41 000 Menschen im Gazastreifen getötet. Diese Zahl lässt sich zwar nicht unabhängig überprüfen. Doch auch Israel gesteht ein, dass seine Bomben nicht nur Terroristen, sondern auch Tausende Zivilisten in den Tod rissen.

Dieser Krieg, in dem die Hamas Zivilisten und zivile Gebäude als Schutzschilde missbraucht, hat weite Teile des Küstenstreifens zerstört. Fast alle der zwei Millionen Bewohner mussten mindestens einmal vor den Kämpfen fliehen, die Lebensbedingungen sind katastrophal, seit Monaten steht das Gebiet am Rande einer Hungerkrise. Und nicht zuletzt ist das, was sich viele Palästinenser wünschen – Freiheit, Selbstbestimmung, ein eigener Staat –, in unerreichbare Ferne gerückt.

Mehr als 75 Jahre nach der Gründung Israels, als im Rahmen der «Nakba» (arabisch für Katastrophe) Hunderttausende Palästinenser vertrieben wurden, ist erneut eine Katastrophe über dieses leidgeplagte Volk der Hoffnungslosen hereingebrochen. Drei Menschen aus dem Gazastreifen haben der NZZ vom schlimmsten Jahr ihres Lebens berichtet.

Wassim Yunes, 16 Jahre

Das Haus meiner Familie in der Stadt Gaza wurde schon in den ersten Wochen des Krieges bombardiert. Als der Krieg begann, packte meine Mutter alle wichtigen Sachen zusammen, so wie in früheren Kriegen auch. Doch dieser Krieg ist anders. Im vergangenen Jahr wurden wir viele Male vertrieben. Ich habe sieben Familienmitglieder und Freunde verloren.

Wir durchleben unerträgliches Leid. Meine Familie lebt in einem zerrissenen Zelt, das uns weder vor Hitze noch vor Kälte schützt. Am schwierigsten ist es, Wasser und Lebensmittel zu bekommen. Wir haben all unser Geld aufgebraucht. Deshalb verkaufe ich jetzt Sonnenblumenkerne am Strassenrand, um meiner Familie ein bisschen zu helfen. Damit kann ich mich auch vom Krieg und vom Leben im Zelt ablenken. Hilfsgüter haben wir schon seit drei Monaten nicht mehr erhalten.

Eigentlich sollte ich zur Schule gehen, so wie andere Jugendliche auf dieser Welt auch. Doch wir sind unserer grundlegendsten Rechte beraubt worden, nämlich der Bildung und eines Lebens in Sicherheit. Der Angriff der Hamas auf Israel hat uns nur Zerstörung gebracht. Sie hätten das nicht tun sollen. Wir hatten ein schönes Leben, es fehlte uns an nichts. Wir können nur hoffen, dass dieser Krieg bald endet und wir nach Hause zurückkehren können.

Die Palästinenser in der Nebenrolle

Doch Hoffnungen auf ein baldiges Ende des Krieges haben sich weitgehend zerschlagen. Vielmehr hat er sich ausgeweitet: Israel kämpft nun auch in Libanon und steht vor einem grossen Krieg mit Iran. Nun ist das Schicksal der Palästinenser in den Hintergrund gerückt. Verhandlungen über einen Waffenstillstand mit der Hamas finden nicht mehr statt.

Schon vor der jüngsten Eskalation standen die Chancen auf eine Einigung schlecht. Sowohl der israelische Ministerpräsident Benjamin Netanyahu als auch der Hamas-Chef Sinwar seien nicht mehr an einem kurzfristigen Waffenstillstand interessiert, sagt Ahmad Khalidi, palästinensischer Sicherheitsanalyst am Geneva Centre for Security Policy. «Sinwar wird sich nur auf einen Waffenstillstand einlassen, in dem ein israelischer Rückzug garantiert wird. Und die Israeli werden keinem Waffenstillstand zustimmen, in dem sich die Hamas neu aufstellen kann.»

Khalidi sieht den Nahen Osten an der Schwelle zu einem langen regionalen Krieg, in dem die Palästinenser nicht mehr die Hauptrolle spielen. Zudem bringt der Umstand, dass Israel nun Truppen in den Norden verlegt, kaum Erleichterung für die Palästinenser im Gazastreifen.

Die Kämpfe dauern an – erst diese Woche hat Israel neue Evakuierungsbefehle für den nördlichen Gazastreifen herausgegeben, um dort schon wieder die Überreste der Hamas zu bekämpfen.

Nasra Abdel Dayem, 44 Jahre

Vor dem Krieg lebte ich in einer Wohnung im Erdgeschoss. So konnte ich mich um meinen gelähmten Mann kümmern. Doch unser Haus wurde völlig zerstört, und jetzt leben wir in einem löchrigen Zelt aus Decken. Fünf Mal wurden wir vertrieben, und jedes Mal trug ich meinen Mann von einem Ort zum nächsten.

Ich habe niemanden, der mir helfen könnte, mein einziger Bruder wurde im Krieg getötet. Ich habe nicht einmal einen Rollstuhl für meinen Mann. Seine Medikamente kann ich nur kaufen, wenn mir Freunde oder Nachbarn Geld geben. Ein Einkommen haben wir nicht. Unser Essen hole ich bei den Ausgabestellen, aber manchmal gibt es auch dort nichts.

Das ist der fünfte Krieg, den ich erlebe, aber alle Kriege davor waren zusammen nicht halb so schlimm wie dieser. Was die Hamas getan hat, war falsch. Deswegen rächt sich Israel jetzt an uns. Andererseits wäre das alles nicht passiert ohne Israels Blockade gegen den Gazastreifen. Aus meiner Sicht sind sowohl Israel als auch die Hamas im Unrecht – und wir sind die Opfer ihrer Fehler.

Was mich antreibt, ist die Hoffnung, dass auch dieser Krieg irgendwann endet. Kriege dauern nie ewig. Es interessiert mich nicht wirklich, wer den Gazastreifen nach dem Krieg regieren wird. Solange sie mit Gerechtigkeit regieren und Sicherheit unter ihrer Herrschaft herrscht, werden wir sie akzeptieren.

Das Versagen der palästinensischen Führung

Noch immer ist aber völlig unklar, wer nach dem Krieg im Gazastreifen die Macht übernehmen wird und kann. Netanyahu hat gelobt, Israel wolle das Gebiet nicht permanent besetzen – gleichzeitig hat er bisher keine konkreten Anstrengungen unternommen, um eine Alternative zur Hamas einzusetzen.

Auch die Palästinensische Autonomiebehörde (PA), die in Teilen des von Israel besetzten Westjordanlands regiert, hat sich bisher kaum als konstruktive Kraft für die Zeit nach dem Krieg hervorgetan. «Die Führung der PA hat im vergangenen Jahr ihre Verantwortung für Gaza und das Westjordanland weitgehend aufgegeben», sagt Khalil Shikaki, ein palästinensischer Politologe aus Ramallah. «Sie sass an der Seitenlinie und liess es zu, dass sich die Lage verschlechterte und die Hamas die Führung übernahm.»

Die PA müsse umgehend und in Absprache mit der Hamas eine unabhängige Technokratenregierung einsetzen, fordert Shikaki. Diese könne dann mit internationaler Hilfe den Wiederaufbau in Angriff nehmen und im Gazastreifen für Sicherheit sorgen. Es ist keine neue Forderung – und Israel hat eine Beteiligung der PA an einer Nachkriegsordnung weitgehend ausgeschlossen. Die Regierung Netanyahu hat im letzten Jahr zudem viel unternommen, um die Palästinenserbehörde zu schwächen, indem sie etwa Steuergelder zurückbehielt.

Ohnehin sind bisher sämtliche Gespräche der PA mit der Hamas ergebnislos geblieben. Selbst zu internen Reformen scheint die verkrustete und korrupte Behörde mit dem greisen Mahmud Abbas an der Spitze gegenwärtig nicht fähig zu sein. Derweil zeigen Umfragen, die der Politologe Shikaki durchführt, dass die Hamas zumindest im Westjordanland Zustimmungswerte um die 80 Prozent hat – in Gaza hingegen ist dieser Wert auf 39 Prozent gesunken.

Die Zeiten sind vorbei, in denen sich die Palästinenser hinter charismatischen Führern wie Yasir Arafat versammelten, die auch international Sympathien weckten. Stattdessen geben die Islamisten den Takt vor. Diese Führungskrise leistet ihren Beitrag zur Hoffnungslosigkeit der Palästinenser.

Doktor Said,* 32 Jahre

Als der Krieg begann, brachte ich zuerst meine Frau und meine Kinder in Sicherheit. Dann ging ich direkt zum Shifa-Spital in Gaza, wo ich als Chirurg arbeitete. Schon am ersten Tag des Krieges war ich schockiert ob der Zahl der Getöteten und Verletzten. Jeden Tag wurden die Bombardements stärker. Ich fürchtete ständig um meine Familie. Nach zehn Tagen flüchteten wir in den Süden.

Heute arbeite ich im europäischen Spital in Khan Yunis. Jeden Tag, wenn ich aus unserem Zelt zum Krankenhaus gehe, weiss ich nicht, ob ich meine Familie wiedersehen werde. Ich leide als Vater, aber ich leide auch als Arzt, der ohne adäquate Mittel die Kranken und Verletzten retten muss. Es gibt kein Spital, das eine so grosse Zahl von Patienten behandeln kann, und kein Ärzteteam, das diesem Druck standhalten kann. Aber die Menschen brauchen mich, das treibt mich an.

Gleichzeitig weist nichts darauf hin, dass dieser Krieg bald aufhört. Ich glaube, er wird noch Jahre dauern. Es gibt keine Vision für unsere Zukunft. Die Bewohner von Gaza werden nie mehr dieselben sein. Als palästinensisches Volk haben wir den Wunsch, eine eigene Identität und einen unabhängigen Staat zu haben, in dem wir in Frieden und Sicherheit leben können. Doch in der gegenwärtigen Situation wird alles nur noch schlimmer.

Israels Sicherheit ist sakrosankt geworden

Viel wurde in den vergangenen Monaten über einen palästinensischen Staat diskutiert, europäische Länder wie Irland oder Spanien nahmen gar symbolträchtig diplomatische Beziehungen zum «Staat Palästina» auf. Doch eine Lösung des Nahostkonflikts haben diese Schritte nicht näher gebracht. «Wir sind wohl viele Jahre von einer Verhandlungslösung entfernt, die diesen Konflikt beenden kann», sagt Ahmad Khalidi, der in den neunziger Jahren an den Friedensgesprächen beteiligt war.

Während schon in früheren Verhandlungen die Sicherheit Israels eine wichtige Rolle gespielt habe, sei sie nun sakrosankt geworden. «Wenn Sicherheit für Israel die wichtigste Messlatte ist, dann läuft das auf die Aufrechterhaltung des Status quo hinaus: Besetzung. Es ist wohl nicht ihre beste Option – aber aus ihrer Sicht ist das immer noch besser, als irgendwelche Kompromisse einzugehen», sagt Khalidi. Dies gelte umso mehr in der jetzigen Situation: «Sie werden nicht gleichzeitig Iran bekämpfen und den Palästinensern einen Staat geben.»

Trotzdem will Khalidi nicht von Hoffnungslosigkeit sprechen, lieber von einer «enormen politischen und intellektuellen Herausforderung». Doch das Palästinaproblem bleibe nicht zuletzt ein israelisches Problem, sagt er. «Es ist jetzt zwar in den Hintergrund gerückt. Aber verschwinden wird es nicht.»

Mitarbeit: Amjed Tantesh, Malak Tantesh, Enas Tantesh
* Voller Name der Redaktion bekannt.

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