Der israelische Publizist Chaim Noll war auf Lesereise in Deutschland. Da traf er gerade bei Begegnungen mit Jugendlichen auf massiven Israel- und Judenhass, wie er in seinem Bericht schildert.
Am Ende einer zehntägigen Lesereise durch Deutschland – mit Terminen in mehreren Städten und vor wechselndem Publikum – stehe ich ratlos vor einem Haufen von Anklagen, die man mir entgegengeschleudert hat: Israel habe die Massaker des 7. Oktobers wissentlich geschehen lassen, provoziert oder gar inszeniert, um dadurch einen Vorwand für brutale Militäraktionen gegen die Palästinenser zu schaffen; Israel verübe in Gaza einen Genozid; israelische Soldaten hätten einen inhaftierten palästinensischen Journalisten vergewaltigt; Israel sei verantwortlich für eine Hungersnot in Gaza; der Krieg werde nur geführt, damit sich Netanyahu an der Macht halten könne.
Das alles haben gediegen gekleidete, unauffällig aussehende Deutsche mir als israelischem Bürger vorgeworfen. Unermüdlich wurden mir die falschen Opferzahlen der Hamas präsentiert, als handle es sich bei dieser terroristischen Organisation um eine ehrenhafte, wahrheitsliebende Quelle. Und bereitwillig verbreiten manche europäischen Medien die Gruselgeschichten dieser erklärten Todfeinde des Westens.
Hysterische Kritik an Israel
Es scheint, als sei ein Bann gebrochen, als gebe es kein Hindernis mehr, um ungehemmt Gedanken und Gefühle auszusprechen, die man lange im Verborgenen hegte: Israel wird immer rücksichtsloser, brutaler, unverschämter, und wir dürfen nichts sagen, wir müssen so tun, als hielten wir zu dem Land. Denn eine opportunistische Kanzlerin hatte einst leichtfertig versprochen, Israels Sicherheit sei «deutsche Staatsräson».
Am neuen Judenhass verblüfft die Masslosigkeit der Beschuldigungen. Juden dürfen den Palästinensern ungestraft das Land wegnehmen und dort illegale Siedlungen errichten. Das Weisse Haus in Washington, umgarnt von einer Lobby jüdischer Geldleute, tut ihnen jeden Gefallen. Haben Juden im Mittelalter das Blut christlicher Kinder für ihre Pessach-Brote gebraucht, töten sie heute Kinder, um Netanyahu an der Macht zu halten.
Die Stereotype sind so dumm, dass man sie modernen Europäern nicht zugetraut hätte. Doch wenn in bestimmten Kreisen eine gewisse Stufe der Hysterie erreicht ist, wird Juden alles nachgesagt, was Menschen je an Abscheulichkeiten begangen haben, jedes Verbrechen, jede Niedertracht, jede Perversion.
Wie habe ich diese Reise überstanden? Mit dem Gleichmut eines Menschen, der keine Absicht hat, zu überzeugen. Wie sollte man auch dieser Tage Europäern, die seit Jahrzehnten in Frieden leben, Israels verzweifelten Krieg erklären? Ich habe mich darauf beschränkt, von der Stimmung im Land zu berichten, von der Zuversicht und der Hoffnung auf Frieden, zugleich von der Entschlossenheit der grossen Mehrheit, die Hamas als kämpfende Truppe für immer auszuschalten.
Ich habe darauf hingewiesen, dass dies nicht Rachsucht sei oder Netanyahus Machtpolitik, sondern schlicht und einfach das einzig Vernünftige: Mit dieser Terrormiliz kann es niemals Frieden geben. Auch die arabischen Nachbarn, Jordanien, Saudiarabien, die Golf-Emirate oder Ägypten, hoffen auf Israels Sieg über die Vasallen ihres gefährlichsten Feindes, des Mullah-Regimes in Iran. Und nicht zuletzt hoffen viele Iraner darauf, wie mir eine Taxifahrerin in Berlin, eine ältere Perserin, in bewegten Worten erklärte: Sie träume von ihrer Rückkehr nach Teheran, von wo sie und ihr Mann vor vielen Jahren aus politischen Gründen fliehen mussten.
Eine alternative Meinung
In der sächsischen Industriestadt Chemnitz, die selbst zunehmend zu kämpfen hat mit muslimischer Zuwanderung, hatte ich ein Treffen mit sechzig Gymnasiasten im Alter zwischen 15 und 18 Jahren. Nachdem sie alles gegen mich abgeschossen hatten, was sie an Vorwürfen gegen Israel vorzubringen hatten, bat mich die Schuldirektorin um ein Schlusswort. Offenbar in der Hoffnung, ich würde die etwas unerfreuliche Stimmung wieder versöhnen.
Es sei schon ein Erfolg, sagte ich, dass wir so offen miteinander geredet hätten. Ich sei nicht gekommen, um sie zu überzeugen, was angesichts der verständlichen Aversion junger Deutscher gegen Krieg und der verbreiteten antiisraelischen Stimmung ohnehin unmöglich sei. Mir sei es darum gegangen, sie eine alternative Meinung hören zu lassen, «a second opinion», wie man im Englischen sagt. Dann riet ich ihnen, sich an jene Medien zu halten, die ausgewogen über den Nahen Osten berichten.
Ein Palästinenserstaat nach europäischer Fasson
Die Europäische Union hat Milliarden Euro Steuergelder in die Fata Morgana eines Palästinenserstaates versenkt, den sich vermutlich weder die Mehrheit der Palästinenser wünscht noch die Mehrheit der Israeli. Wie stellt man sich eigentlich eine Staatsgründung vor, die von den beteiligten Völkern nicht gewollt wird?
Die Scheichs der Region um Hebron, der grössten Stadt in den palästinensischen Gebieten, haben kürzlich in einer öffentlichen Erklärung mitgeteilt, sie regierten ihr Gebiet ohnehin seit längerem ohne die korrupte Abbas-Behörde. Sie wollten mit Israel ihren Frieden machen, auch ohne einen unnützen, hinderlichen Palästinenserstaat nach europäischer Fasson.
Es hat etwas Verzweifeltes, wenn Grossbritanniens Labour-Regierung oder der französische Präsident Macron dieser Tage einen Staat anerkennen, den es nicht gibt und wahrscheinlich nie geben wird. Sie suggerieren damit ihren Bevölkerungen, dieser Staat sei in ihrem und Europas Interesse und die ungeheuren Ausgaben für sein seit Jahrzehnten währendes Nichtentstehen seien gerechtfertigt.
Juden werden gemieden und angegriffen
Um diese verfehlte Nahostpolitik zu legitimieren, muss Israel dämonisiert und diffamiert werden. Die Auswirkungen sind verheerend. Antisemitische Stereotype und Verschwörungstheorien vergangener Jahrhunderte haben erneut ihren Weg ins Bewusstsein der europäischen Jugend gefunden.
Nach einer Umfrage der britischen Campaign Against Antisemitism (CAA) erklärten 42 Prozent der befragten Jugendlichen, Israel dürfe sich alles erlauben, weil die einflussreichen Juden Amerikas hinter ihm stehen; 14 Prozent hielten das Judenpogrom der Hamas am 7. Oktober für einen legitimen Akt; 58 Prozent der jungen Menschen glauben, Israel und seine Unterstützer übten einen negativen Einfluss auf die britische Demokratie aus.
Die Rückkehr judenfeindlicher Haltungen ins europäische Denken wirkt sich unmittelbar auf das soziale Leben aus. Nicht nur die Ausgrenzung und Gefährdung der europäischen Juden nimmt zu, auch die feindliche Haltung gegenüber jenen nichtjüdischen Landsleuten, die Israel unterstützen: Fast die Hälfte der 18- bis 24-Jährigen fühlt sich laut der zitierten Umfrage «unwohl», mit Menschen zusammen zu sein, die mit Israel offen sympathisieren; nur 18 Prozent wollten sich deren Gesellschaft zumuten.
Zudem führt der Antisemitismus, von der Mehrheitsgesellschaft zunehmend hingenommen, zu Einschränkungen der gesellschaftlichen Interaktion. Manche Veranstaltungen können nur noch unter Polizeischutz stattfinden, andere werden vorgeblich aus Sicherheitsgründen abgesagt. Juden leben in Furcht, meiden bestimmte Viertel ihrer Heimatstädte, verbergen Zeichen ihres Judeseins. Gemeindehäuser und Synagogen sind verschlossen und bewacht, jüdische Kinder lernen, dass sie vorsichtig sein, jede Auffälligkeit unterdrücken müssen. Eine Normalität des Lebens ist unter solchen Umständen nicht mehr möglich.
Eine unbezahlbare Erfahrung
Angesichts solcher Verhältnisse ist es schon ein Erfolg, wenn die jungen Deutschen in Chemnitz keine Anzeichen von Unwohlsein zeigten und mir am Schluss meines proisraelischen Statements höflichen Beifall spendeten. Einige kamen hinterher sogar zu mir und bedauerten die Heftigkeit ihrer Vorwürfe. Ich beruhigte sie: Für mich war es eine unbezahlbare Erfahrung. Ich hatte nicht vermutet, dass junge Europäer so voreingenommen sind in ihrer Ablehnung Israels.
Die Hamas und andere militante Muslime scheinen erfolgreich die Stimmung in Europa zu beeinflussen und das kritische Denken der Europäer zu behindern. Die europäischen Gesellschaften müssen selbst entscheiden, ob sie in offenen Judenhass abdriften wollen. Diese Gefahr war seit langem nicht so real wie heute.

