Donnerstag, Oktober 3

Obwohl ihr Aufwärtstrend zuletzt ins Stocken geraten ist, haben die meisten Börsenbarometer seit Jahresbeginn weiter zugelegt. Wie schlägt sich das in den Bewertungen nieder?

Die Aktienmärkte sind schwungvoll ins neue Jahr gestartet, zuletzt kam der Aufwärtstrend allerdings ins Stocken. Ein Grund ist die wider Erwarten hartnäckige Inflation in den USA, die im März einmal mehr höher ausfiel, als vom Gros der Ökonomen erwartet worden war.

Die Jahresveränderung der Konsumentenpreise beschleunigte sich von 3,2 auf 3,5%, was dem höchsten Wert seit September entspricht (blaue Linie in der Grafik). Die Kernrate der Inflation, die die Energie- und die Nahrungsmittelpreise ausklammert, verharrte im März auf ebenfalls hohen 3,8% (gelb).

Schwindende Hoffnungen auf niedrigere Zinsen

Entsprechend schwinden die Hoffnungen auf baldige Leitzinssenkungen der US-Notenbank. An den Terminmärkten wird jetzt erst für den September eine erste Zinssenkung erwartet. In der Folge kletterten die Renditen auf zehnjährige US-Staatsanleihen zwischenzeitlich auf den höchsten Stand seit November. Der Dollar erstarkte, denn der Zinsvorteil der USA bleibt bestehen, weil andere Notenbanken wie die Schweizerische Nationalbank oder die Europäische Zentralbank – sie dürfte im Juni die Zinsen senken – die Geldpolitik vor dem Fed lockern.

«Die Verzögerung in der Zinswende in den USA erzeugt über den stärkeren Dollar und höhere Zinsen zunehmend Straffungsrisiken», warnt Martin Rossner vom Vermögensverwalter ThirdYear Capital. Einen weiteren Unsicherheitsfaktor stellen die Spannungen im Nahen Osten dar, die zu einem spürbaren Anstieg des Rohölpreises geführt haben. Mit dem Angriff des Irans auf Israel hat die Gefahr einer weiteren Eskalation in der Region zugenommen.

Angesichts dieser Risiken zeigen sich die Börsen erstaunlich gelassen. Wie ein Blick auf die derzeitigen Bewertungen zeigt, rechnen die Anleger mit einem gutmütigen konjunkturellen Szenario, das wenig Spielraum für Enttäuschungen lässt. Damit sind Aktien anfällig für taktische Rückschläge. Aktienanalyst Andrew Lapthorne von Société Générale weist darauf hin, dass der Markt begonnen habe, teure Aktien abzustrafen, und bei unterbewerteten Valoren eine Höherbewertung zu beobachten sei.

Doch welche Märkte sind teuer – und welche sind günstig?

Was die Bewertungskennzahlen zeigen

Um diese Frage zu beantworten, unterzieht The Market einmal im Quartal 28 Industrie- und Schwellenländer einem umfassenden Bewertungstest. Weil ein direkter Vergleich der Länder wegen der teilweise beträchtlichen Unterschiede in der Sektorzusammensetzung wenig sinnvoll ist – so sind z. B. Technologieaktien typischerweise höher bewertet als Versorgertitel –, wurde die Bewertung für jeden Markt mit seiner eigenen Historie verglichen und der sogenannte Perzentilrang ermittelt.

Um ihn zu bestimmen, ordnet man alle Kennzahlen der Reihe nach und schaut, an welcher Stelle sich der heutige Wert befindet.

Ein Beispiel: Für den MSCI Switzerland bewegte sich das über den Konjunkturzyklus geglättete Kurs-Gewinn-Verhältnis (Shiller-KGV, siehe Erklärung am Ende des Artikels) in der Vergangenheit zwischen 8,5 und 57,8. Ordnet man nun alle seit 1982 monatlich verfügbaren Bewertungszahlen aufsteigend an, kommt der jüngste KGV-Wert von 24,8 auf Rang 292 von 507 zu liegen. Mit anderen Worten: In 291 Monaten, oder in 57,4% der Fälle (291/507 = 57,4%), war die Bewertung niedriger als heute, in 42,4% (215/507) war sie höher. Es gilt: Je höher der entsprechende Perzentilrang – er bewegt sich zwischen 0 und 100 –, desto unattraktiver ist die Bewertung.

Schweizer Aktien liegen also gemäss dem Shiller-KGV etwas über der Mitte der historischen Bewertungsspanne und notieren gegenwärtig leicht über dem fairen Wert. Auch auf Basis des vorwärtsgerichteten KGV (76. Perzentil), des Kurs-Umsatz-Verhältnisses (90. Perzentil) und des Kurs-Buchwert-Verhältnisses (91. Perzentil) sind hiesige Papiere stolz bewertet. Einzig bezüglich der Dividendenrendite (34. Perzentil), die im historischen Vergleich attraktiv ist, vermag der Schweizer Markt zu glänzen.

Dieses Vorgehen wird für die wichtigsten Aktienindizes durchgeführt.

Shiller-KGV: Taiwan rückt vor

Wie sieht das Resultat aus? Gemessen am Shiller-KGV schaffen es wie bereits in der letzten Bewertungsübersicht im Januar die Niederlande und Indien auf die Podestplätze. Mit einem Bewertungsperzentil von exorbitant hohen 97 (Vorquartal: 89) belegen niederländische Aktien den Spitzenrang. Dahinter folgt Indien mit einem Wert von ebenfalls stolzen 94 (Vorquartal: 91). Auf Platz drei rangiert neu die taiwanische Börse, deren Shiller-KGV inzwischen das 89. Perzentil erreicht (Vorquartal: 73).

Obwohl auch sie etwas teurer geworden sind, sind US-Aktien im Quartalsvergleich vom dritten auf den vierten Platz gerutscht. Schweizer Titel handeln wie bereits erwähnt leicht über dem fairen Wert, das Gleiche gilt für deutsche Valoren, die auf dem 59. Perzentil notieren (Vorquartal: 39. Perzentil).

Gemäss Shiller-KGV am günstigen Ende der Bewertungsskala finden sich die Börsenbarometer von Südafrika (1. Perzentil), Hongkong (2. Perzentil), China (3. Perzentil) sowie Chile (4. Perzentil).

Der gleiche Ansatz wurde bei vier weiteren Bewertungskennzahlen angewandt: beim vorwärtsgerichteten KGV (gelbe Balken), beim Kurs-Umsatz-Verhältnis (grün), beim Kurs-Buchwert-Verhältnis (rot) sowie bei der Dividendenrendite (violett). Die verschiedenen Bewertungsmasse werden am Ende des Artikels erläutert.

Hongkong: Schnäppchen oder Bewertungsfalle?

Zur besseren Lesbarkeit lassen sich die fünf Bewertungskennzahlen in ein Gesamtmass aggregieren. Dabei bestätigt sich, was sich oben bereits abgezeichnet hat: Aus Bewertungsoptik sind die Aktienmärkte der Niederlande, der USA – die beiden Märkte haben seit Januar die Plätze getauscht – und Indiens besonders unattraktiv. Unmittelbar dahinter folgen die Börsen Taiwan, Australien und Frankreich. Obschon Schweizer Aktien in den vergangenen Monaten im internationalen Vergleich zurückgeblieben sind, sind sie ebenfalls teurer geworden und gehören zur Gruppe der eher sportlich bewerteten Börsen.

Niederländische Börse: Teurer geht’s kaum

Den Spitzenplatz der teuersten Börsen haben sich die Niederlande gesichert: Sie erreichen neu das sehr hohe 94. Perzentil (Vorquartal: 86. Perzentil). Nach dem Kursfeuerwerk im vierten Quartal 2023 ist der MSCI Netherlands auch schwungvoll ins neue Jahr gestartet und notiert derzeit rund 12% im Plus. Da die Fundamentaldaten jedoch nicht mit der Kursentwicklung mithalten konnten, hat sich die Bewertung weiter verschlechtert.

Zur hohen Bewertung gesellt sich das Risiko der extremen Indexkonzentration. Nachdem der Halbleiterausrüster ASML im ersten Quartal den Gesamtindex wiederum hinter sich gelassen hatte, hat sein Gewicht im Börsenbarometer weiter zugenommen. Mittlerweile stellt das Technologieunternehmen 45% der Marktkapitalisierung des MSCI Netherlands.

Die Konsequenzen können ungemütlich sein, wie sich am Mittwoch zeigte, als ASML den Leistungsausweis für das erste Quartal 2024 vorlegte. Die Nachfrage entwickelte sich markant schwächer als erwartet, der Auftragseingang sank gegenüber der Vorjahresperiode, was den Aktienkurs absacken liess und den Gesamtindex stark belastete.

US-Aktien nach wie vor unattraktiv

Unmittelbar hinter den Niederlanden folgt die US-Börse, die sich um zwei Punkte verteuert hat und per April das 91. Perzentil (Vorquartal: 89. Perzentil) erreicht. In den fünf Monaten bis zum 31. März ist der US-Leitindex S&P 500 um eindrückliche 25,3% vorgeprescht. Gemäss Ed Clissold vom Analysehaus Ned Davis Research war das erst das siebte Mal seit dem Zweiten Weltkrieg, dass der S&P 500 in einem Zeitraum von fünf Monaten um mehr als 25% zugelegt hat.

Amerikanische Titel nehmen ein überaus optimistisches konjunkturelles Szenario vorweg, was eine erhöhte Anfälligkeit für negative Überraschungen impliziert. Sollte es entgegen der Erwartung der meisten Marktbeobachter doch zu einer Rezession kommen – die Strategen des kanadischen Analysehauses BCA Research gehen davon aus, dass das innerhalb eines Jahres der Fall sein wird –, wäre die Fallhöhe entsprechend hoch. «Entgegen der landläufigen Meinung deuten die meisten Frühindikatoren darauf hin, dass der US-Arbeitsmarkt schwächer wird», schreibt BCA-Chefstratege Peter Berezin. Er erwartet einen spürbaren Anstieg der Arbeitslosigkeit zum Jahreswechsel, worauf der Abschwung Realität werden dürfte.

Obschon Schweizer Aktien in den vergangenen Monaten im internationalen Vergleich zurückgeblieben sind, haben auch sie eine weitere Bewertungsexpansion erfahren. Neu erreicht der MSCI Switzerland das eher hohe 70. Perzentil (Vorquartal: 65. Perzentil). Einzig die oben erwähnte reizvolle Dividendenrendite lockt zum Kauf. Immerhin: Gemäss der aktuellen Fondsmanagerumfrage von Bank of America verschmähen professionelle Manager europäischer Aktienfonds hiesige Aktien, was aus Contrarian-Optik zuversichtlich stimmt.

Fondsmanager machen einen Bogen um Schweizer Aktien:

Bewertungsextreme in China und Chile

Wer günstig bewertete Indizes sucht, wird in Schwellenländern fündig. Mit einem ungemein hohen Abschlag zur eigenen Historie werden derzeit Aktien in Hongkong (3. Perzentil) und Chile (7. Perzentil) gehandelt. Die beiden Märkte erreichen ein Bewertungsmass im einstelligen Bereich – das ist unüblich. Günstig sind zudem Titel aus Polen (20. Perzentil) und Südafrika (22. Perzentil). Aber auch der MSCI China (16. Perzentil) besticht durch eine überaus ansprechende Bewertung.

Während Chile für Anleger eher eine untergeordnete Rolle spielt, führte lange kein Weg an China vorbei. Jahrelang gehörte es zum guten Ton, an der asiatischen Wachstumsstory teilzuhaben. Mit dem sich unter Präsident Xi Jinping zusehends verschlechternden Wirtschaftsumfeld und der enttäuschenden Börsenentwicklung haben sich ausländische Investoren allerdings vermehrt vom Land abgewandt, was sich in der zunehmenden Popularität von Schwellenländer-ETF spiegelt, die chinesische Aktien bewusst ausklammern. Immer häufiger wurde jüngst zudem die Frage diskutiert, ob man in China überhaupt noch investieren könne/solle.

Somit scheinen chinesische Valoren die drei U-Kriterien zu erfüllen: Sie sind unbeliebt, in vielen Portfolios untergewichtet und unterbewertet. Das sind keine allzu schlechten Voraussetzungen für überdurchschnittliche Renditen in den kommenden Jahren.

Brasilien bleibt auffällig zurück

Die grösste Bewertungskontraktion im neuen Jahr hat derweil Brasilien erfahren: Der Gesamt-Score ist um 9 Prozentpunkte auf 24 Zähler gefallen, womit das Land zu den günstigsten überhaupt zählt. Der Grund liegt nicht zuletzt in der schwachen Kursentwicklung der vergangenen Monate. Während das Gros der Börsen vorgeprescht ist, hat der MSCI Brazil seit Anfang Januar 7,5% an Wert eingebüsst (in Lokalwährung).

Für Verunsicherung sorgte unter anderem die zunehmende Einflussnahme der Lula-Regierung bei Grosskonzernen wie Petrobras und Vale. So verhinderten die Behörden angeblich die Ausschüttung einer Sonderdividende des Ölgiganten Petrobras und versuchten, den amtierenden Vale-CEO durch einen regierungstreuen Vertreter zu ersetzen – was die Regierung indes abstreitet. Wie dem auch sei, klar ist, dass Lula der Wirtschaft skeptisch gegenübersteht. So bezeichnete er den Markt jüngst als «gefrässigen Dinosaurier», der «alles für sich selbst will und den Menschen nichts übrig lässt».

Die Reduktion der erwarteten Haushaltsüberschusses für 2025 und 2026 auf null beziehungsweise +0,25% des BIP von zuvor +0,5 bzw. +1% wurde von den Anlegern ebenfalls ungnädig aufgenommen. Der Grund sind entgangene Steuereinnahmen von mehr als 30 Mrd. Real (rund 5,2 Mrd. Fr.), weil der Gesetzgeber Lohnsteuerermässigungen, die er im vergangenen Jahr kleinen Gemeinden gewährt hatte, verlängert hat.

Mit solchen Manövern riskiert der Präsident, die zuletzt positive Entwicklung und die gewonnene Glaubwürdigkeit – etwa durch die umsichtige Geldpolitik der Banco Central do Brasil oder die vor kurzem verabschiedete Steuerreform – aufs Spiel zu setzen.

Die Bewertungskennzahlen kurz erklärt:

Kurs-Gewinn-Verhältnis (KGV)

Die wohl populärste Bewertungskennzahl ist das Kurs-Gewinn-Verhältnis. Es setzt den Aktienkurs ins Verhältnis zum Gewinn eines Unternehmens. Handelt eine Aktie an der Börse beispielsweise zu einem Preis von 115.50 Fr., und der Gewinn pro Titel beläuft sich auf 7 Fr., resultiert ein KGV von 16,5.

Typischerweise unterscheidet man zwischen dem historischen und dem vorwärtsgerichteten KGV: Beim historischen wird der zuletzt erwirtschaftete Unternehmenserlös verwendet, beim vorwärtsgerichteten fliesst der (üblicherweise von Analysten) geschätzte Gewinn in die Berechnung ein.

Vereinfacht gesagt gilt, je höher das KGV, desto unattraktiver ist die Bewertung. Allerdings funktioniert das KGV schlecht, wenn der Gewinn sehr rasch wächst. Auch sagt die Kennzahl nichts darüber aus, wie gross das Risiko eines Gewinneinbruchs ist.

Shiller-Kurs-Gewinn-Verhältnis (Shiller-KGV)
Anders als das klassische KGV vergleicht das Shiller-KGV den aktuellen Preis einer Aktie oder eines Index mit den durchschnittlichen, inflationsbereinigten Gewinnen der vergangenen Dekade. Damit werden die Gewinnschwankungen der einzelnen Jahre normalisiert, was zu einem stabileren und verlässlicheren Bewertungsmass führt. Wie für das traditionelle KGV gilt auch für das Shiller-KGV: Je niedriger es ist, desto günstiger ist eine Aktie und desto grösser typischerweise das Kurspotenzial für die kommenden Jahre.

Dividendenrendite
Die Dividendenrendite zeigt die ausgeschüttete Dividende im Verhältnis zum Aktienkurs. Je höher die Dividendenrendite, desto attraktiver scheint eine Aktie. Vielen Anlegern ist eine hohe Ausschüttung wichtig, da sie für einen stetigen Liquiditätsfluss sorgt. Allerdings kann eine allzu hohe Rendite auch signalisieren, dass eine Gesellschaft in Schieflage geraten ist, da die Rendite automatisch steigt, wenn der Aktienkurs einbricht. Dann steht oft eine Kürzung bevor. Wichtiger als ihre absolute Höhe ist deshalb oftmals, dass die Ausschüttung stetig steigt. Da nicht alle Unternehmen eine Dividende entrichten, funktioniert dieser Indikator nicht immer.

Kurs-Buchwert-Verhältnis (KBV)
Ein klassisches Bewertungskriterium ist das KBV, das auf Benjamin Graham, den Übervater der Value-Anleger, zurückgeht. Hierbei wird der Aktienkurs mit dem bilanzierten Eigenkapital verglichen. Je höher das KBV, desto unattraktiver die Bewertung. Da der Buchwert in der Regel positiv ist, kann das Mass auch dann verwendet werden, wenn ein Unternehmen keinen Gewinn schreibt. Allerdings ist der Buchwert nicht immer ein verlässliches Abbild des «wahren» Unternehmenswerts, da er immaterielle Werte wie Patente oder Know-how nur unzulänglich erfasst (speziell bei IT- und Pharmagesellschaften).

Kurs-Umsatz-Verhältnis (KUV)
Das KUV setzt die aktuelle Marktkapitalisierung eines Unternehmens ins Verhältnis zum Umsatz des letzten (Geschäfts-)Jahres. Obschon es sich um ein krudes Mass handelt – es ignoriert zum Beispiel die Profitabilität –, hat es seine Daseinsberechtigung. So ist der Umsatz deutlich weniger anfällig für Manipulationen als Gewinn und Buchwert. Wie das KBV lässt sich die Bewertungskennzahl auch für Gesellschaften berechnen, die Verlust schreiben. Ein Unternehmen, das ohne Rücksicht auf die Kosten einen möglichst hohen Umsatz anstrebt, kann allerdings auf Basis des KUV zu günstig aussehen.

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