Mittwoch, Oktober 9

Schloss Chillon bei Montreux ist eine der bekanntesten Tourismus-Destinationen der Schweiz. Modernes Marketing trifft hier auf die Aura von Jahrhunderten. Den Ruf befördert haben auch ein paar skandalträchtige Figuren.

Rund 400 000 Erwachsene und Kinder besichtigen jährlich das Schloss Chillon in Veytaux östlich von Montreux. Damit ist das Waadtländer Schloss am Lac Léman eines der meistbesuchten Baudenkmäler der Schweiz, vielleicht sogar das meistbesuchte historische Gebäude unseres Landes.

Wie kommt ein solcher Erfolg zustande? Natürlich spielen Verkehrsverbindungen, Marketing und andere «harte» ökonomische Faktoren wie Preis und Leistungsangebot eine wichtige Rolle. Aber dies ist nur ein Teil der Erklärung. Damit eine Sehenswürdigkeit zur Sehenswürdigkeit wird, braucht es andere – «weiche», das heisst: emotionelle – Zutaten und vor allem das, was man vage als «Aura» bezeichnen könnte. Im Fall Chillon konnte modernes Marketing eine Aura bewirtschaften, die das Produkt von Jahrhunderten darstellt.

Tsunami im Léman

Schloss Chillon erhebt sich auf einem Kalk-Felssporn, der bis zu acht Meter über die Wasseroberfläche hinausragt und nur wenige Meter vom Festland entfernt ist. Da der Abhang der imposanten Rochers-de-Naye bei Veytaux bis nahe ans Seeufer heranreicht, entstand bei der Felseninsel, zwischen Berg und Wasser, eine Art Klus, das heisst ein natürlicher Engpass, wo man hindurchmuss, wenn man von Vevey und Montreux Richtung Wallis fährt.

Die Besiedlung des Orts geht auf prähistorische Zeit zurück, wie Spuren einer Seeufersiedlung aus der Bronzezeit zeigen. Zur Zeit der Römer verlief bei Chillon eine wichtige Handelsroute, die Oberitalien – via den Grossen Sankt Bernhard – mit Lausanne und Genf wie auch der Rhein-Gegend verband. Möglicherweise entstand zu jener Zeit auf der kleinen Felsinsel ein erster Steinbau. Beim Tsunami, der vermutlich im Jahr 563 von einem Felssturz im unteren Rhonetal ausgelöst wurde und Wellen von mehr als acht Metern ausgelöst haben soll (der grosse Chronist Grégoire de Tours erwähnt die Katastrophe in seinen Schriften), dürfte auch Chillon überschwemmt worden sein.

Vom Bischof zu den Savoyern

Doch die Route am Nordufer des Léman überlebte das Ereignis. Im frühen Mittelalter führte eine wichtige Handelsstrasse und Pilgerroute (Via Francigena) bei Chillon vorbei. Auf der Felseninsel entstand eine Burg. Ihr Besitzer war der Bischof von Sitten, dem der Burgunderkönig Rudolf III. anno 999 die Grafschaftsrechte im unteren Rhonetal übertragen hatte.

Später ging Chillon an die Grafen von Savoyen – ein Herrscherhaus, das sich südlich und nördlich des Genfersees ausbreitete und danach strebte, die westlichen Alpenpässe unter seine Kontrolle zu bringen. Die Savoyer brachten ab dem 11. Jahrhundert nach und nach auch das ganze untere Rhonetal mit dem Kloster Saint-Maurice in ihre Hand. Anfangs blieb Chillon noch im Besitz des Bischofs, doch die Savoyer amteten als Burgherren. Später übernahmen sie Chillon ganz. Sie errichteten hier eine Strassensperre und eine Zollstation. Die Burg wurde zur Festung, die auch einen Kerker einschloss, wo die Savoyer ihre Feinde einmauerten.

Die Berner kommen

Im ausgehenden Mittelalter gerieten die Savoyer immer mehr in Konflikt mit dem aufstrebenden Stadtstaat Bern. Nach den Burgunderkriegen, in denen die Eidgenossen den Burgunderherzog Karl und seine savoyischen Verbündeten besiegt hatten, musste Savoyen 1476 die Herrschaft Aigle im unteren Rhonetal an Bern abtreten. Damit wurde Chillon zur savoyischen Grenzfestung.

Doch bald konnte die Republik Bern ihren Herrschaftsbereich weit nach Westen ausbreiten. Die Reformation in Genf lieferte den willkommenen Anlass. Die Genfer Protestanten, die sich von ihrem Bischof und dem savoyischen Landesherrn befreien wollten, riefen die Berner zu Hilfe. Diese liessen es sich nicht zweimal sagen und marschierten im Februar 1536 nach Westen. Sie okkupierten das savoyische Waadtland, die Bischofsstadt Lausanne, das südlich des Sees gelegene Pays de Gex und einen Teil des unteren Rhonetals. Die Savoyer wurden aus ihrem Gebiet nördlich des Genfersees vertrieben. Zum Trost machten sie später eine grosse Karriere, wurden Herren eines Königreichs Piemont-Sardinien und schliesslich gar Könige von Italien.

Zurück ins Jahr 1536: Bei der Eroberung der Waadt nahmen die Berner auch die Burg in Chillon in Besitz und pinselten einen grossen Bären auf deren Südseite. Auch befreiten sie den Genfer Kleriker François Bonivard, der wegen seines Eintretens für die Genfer Unabhängigkeit von den Savoyern sechs Jahre zuvor eingekerkert worden war. Der Ex-Priester ging hierauf nach Genf, heiratete danach viermal. Er schrieb eine bedeutende Chronik. Wegen seines lockeren Lebenswandels erweckte er aber bald einmal den Unwillen der calvinistischen Genfer. Wir werden ihm noch begegnen.

Auf den Spuren von «Jean-Jacques»

Ab 1536 war die Burg der Sitz des bernischen Landvogts von Vevey. Doch das feuchte Schloss war kein komfortabler Sitz, und die pragmatischen Berner hatten mit mittelalterlicher Burgromantik wenig am Hut. Und so wurde 1733 der Sitz des Landvogts ins Städtchen Vevey verlegt.

Kurz darauf machte der Genfer Schriftsteller Jean-Jacques Rousseau die Gegend europaweit berühmt. Sein 1761 erschienenes Buch «Julie ou La Nouvelle Héloise», wohl der grösste Bestseller des 18. Jahrhunderts, spielte nämlich im nahen Clarens und hatte eine unglückliche Liebe – was sonst? – zum Thema. Damit löste Rousseau einen europaweiten Hype aus, vergleichbar jenem, den Goethe wenig später mit seinem «Werther» verursachte. Die jungen Aristokraten auf ihrer Grand Tour durch Europa wollten künftig unbedingt die Gegend von Vevey und Clarens besuchen. Und damit rückte auch das Schloss Chillon in ihr Gesichtsfeld.

Lord Byron dichtet

Im Jahr 1798 wurden die Alte Eidgenossenschaft und die Republik Bern von den französischen Revolutionstruppen hinweggefegt; die Helvetische Republik entstand. Schloss Chillon gehörte jetzt dem Canton du Léman. Es blieb aber ein Magazin und Gefängnis: Wo vorher die Revolutionäre schmachteten, schmachteten jetzt die Feinde der Revolution. In der Mediationszeit anno 1803 kam das Schloss zum neugegründeten Kanton Waadt. An seiner Funktion änderte sich nichts, und auch der Berner Bär auf der Südseite durfte seine Pranken weiter himmelwärts richten.

Nach dem Ende der napoleonischen Kriege geschah etwas, was die Zukunft von Schloss Chillon als Sehenswürdigkeit sichern sollte. Im Sommer des Jahrs 1816, dem berüchtigten «Jahr ohne Sommer», verliess der gerade sehr gefeierte englische Dichter George Noël Gordon, 6. Baron Byron, die Heimat, nachdem er wegen der Trennung von seiner Frau Annabella und der offen deklarierten Zuneigung zu seiner Halbschwester Augusta sowie bisexueller Neigungen einen Riesenskandal verursacht hatte. Zusammen mit seinem Dichterkollegen Percy Bysshe Shelley und dessen Geliebter Mary mietete er eine Villa bei Genf. Hier vertrieb sich das Trio die trübe Zeit, so gut es ging. Und es ging gut: So schrieb die ebenso anmutige wie talentierte Mary Shelley hier ihren berühmten Roman «Frankenstein».

Dabei wollten die Dichterfreunde auch die Gegend von Vevey und Clarens besichtigen. Im Juni segelten Byron und Shelley ostwärts. Es kam Sturm auf. Sie erlitten Schiffbruch und konnten sich nur mit Mühe ins Seedorf Saint-Gingolph retten. Danach segelten sie zum Schloss Chillon, das ihnen einen gewaltigen Eindruck machte. Hier erfuhren sie auch die Geschichte vom eingekerkerten Bonivard. Noch am gleichen Tag begann Lord Byron eine Verserzählung, der er den Titel «The Prisoner of Chillon» gab. Unter Byrons Feder wurde Bonivard zu einem Schattenmenschen, der am Schluss gar nicht befreit werden wollte, weil die wahre Freiheit im Innern des Menschen haust:

At last came men to set me free;
I ask’d not why, and reck’d not where;
It was at length the same to me,
Fetter’d or fetterless to be,
I learn’d to love despair.

Frei übersetzt etwa:

Am Ende kamen Männer und liessen mich frei
Ich fragte nicht warum noch wohin –
Es war mir alles einerlei:
In Ketten oder kettenfrei.
Liebend gern gab ich mich der Verzweiflung hin.

«The Prisoner of Chillon» erschien Ende 1816 in London und wurde zu einem neuen Bestseller. Und damit war auch die touristische Karriere von Schloss Chillon endgültig lanciert. Nicht nur die Rousseau-Verehrer, sondern auch die Byron-Fans wollten künftig unbedingt Chillon sehen. Und weil ab den 1820er Jahren auf dem «Clear placid Leman» auch Dampfschiffe fuhren, konnte man es künftig tun, ohne wie Byron und seine Gefährten einen Schiffbruch und das Leben zu riskieren. Übrigens kam der grosse Dichter Shelley im Juli 1822 vor der italienischen Küste bei Viareggio bei einem Schiffbruch ums Leben. Im April 1824 starb Lord Byron in Mesolongi, wo er sich im griechischen Freiheitskampf engagiert hatte. Die Autoren waren wie ihre Kreationen zu tragischen Helden geworden.

Courbet malt

Dank Byron war Chillon für eine ganze Romantiker-Generation zu einer Ikone geworden. Literarische Stars kamen in der Folge, um das düster dräuende Schloss zu sehen. Alexandre Dumas, Gustave Flaubert und viele andere besuchten und besangen es. Und der Maler Eugène Delacroix malte es.

Noch mehr Verdienste um Chillon erwarb aber der aus dem französischen Jura stammende Maler Gustave Courbet, auch er ein zünftiger Bürgerschreck. Er hatte unter anderem mit einem Gemälde Aufsehen erregt, das eine Frau mit entblösster Vulva zeigte und dem er den genialen Titel «L’origine du monde» gab. Zudem war Courbet politisch tätig und 1871 in den Aufstand der Pariser Kommune verstrickt.

Bei der darauffolgenden Repression setzte sich Courbet in die Schweiz ab und liess sich in La Tour-de-Peilz bei Vevey nieder. Und da er viel Geld brauchte – unter anderem deshalb, weil ihn die französische Regierung für die Zerstörung der Vendôme-Säule haftbar machte –, begann er serienweise Gemälde vom Schloss Chillon mit dem dahinter liegenden Bergmassiv der Dents-du-Midi zu malen.

Die Bilder fanden in der Pariser Bourgeoisie grossen Absatz. Pikant ist allerdings, dass in den 1860er Jahren entlang des Genfersees eine Eisenbahnstrecke gelegt worden war, die sich gleich vor dem Schloss durch die Klus drängte. Weil dies der Mittelalter-Romantik des Schlosses abträglich war, liess Courbet die Eisenbahn aber locker weg. So viel Künstlerfreiheit musste sein.

Die Eisenbahnlinie geriet aber für Chillon zu einem neuen Trumpf, vor allem als die Simplonstrecke nach Mailand und zu den oberitalienischen Seen durchgehend gebaut war. Nach der Durchstechung des Simplontunnels fuhren Tausende von Italien-Reisenden jährlich am Schloss vorbei. Später wurde am Genfersee auch eine Autobahn gebaut, die sich oberhalb von Chillon über ein Viadukt schwingt und eine panoramahafte Sicht über den ganzen See eröffnet – eine grossartige Inszenierung einer grossartigen Landschaft. Will man sich dann noch wundern, dass Tausende von Menschen aus der ganzen Welt jährlich hier haltmachen? Merci Bonivard und Rousseau! Danke Byron und Courbet! Ohne sie wäre Chillon nicht zu Chillon geworden.

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