Montag, November 25

Charkiw ist nach Kiew der grösste Preis, den Russland mit seinem Angriffskrieg gewinnen will. Ohne diese Metropole können die Ukrainer die Ostfront kaum halten. Deshalb geben die Truppen Moskaus den Versuch nicht auf, Charkiw zu besetzen. Erfolg haben sie bis jetzt keinen: Vor zweieinhalb Jahren scheiterten sie am Stadtrand. Seit Mai probierten sie es mit einer Offensive über die Nordgrenze – und blieben nach fünf Kilometern in Wowtschansk stecken.

Dass sie diese Kleinstadt nicht einnehmen können, hat mit zwei Dingen zu tun: Der Fluss Wowtscha bildet ein natürliches Hindernis – und direkt an seinem Ufer liegt eine Chemiefabrik. Auf deren Gelände stehen etwa dreissig Gebäude, viele aus Beton und verbunden durch unterirdische Tunnel. Wer sie kontrolliert, kontrolliert die gesamte Umgebung. Ohne sie ist ein weiterer Vormarsch kaum denkbar.

Luftangriffe, Artillerie und ein Sturm: Russen und Ukrainer kämpfen um die Fabrik

Die Russen überraschen die Verteidiger im Spätfrühling 2024 mit ihrem Einmarsch über die Grenze. Es sind keine riesigen Verbände, die Moskau einsetzt. Doch sie können die Ukrainer ungehindert bombardieren, weil diese vom Westen keine Erlaubnis erhalten, moderne Waffen grenzübergreifend einzusetzen. Diese kommt erst Ende Mai.

Zu diesem Zeitpunkt haben die Russen die Chemiefabrik erreicht. Sie erobern mit einem raschen, auf einen kleinen Frontabschnitt konzentrierten Vorstoss Teile des Geländes. Nun beginnt die Schlacht richtig. Beide Seiten setzen Artillerie ein, Moskau zudem Gleitbomben aus Flugzeugen und Vakuumbomben, in deren Sog gegnerische Soldaten ersticken.

Am 12. Juni markiert die Analysegruppe Deep State Map die Fabrik erstmals als unter voller Kontrolle der russischen Truppen. Doch diese haben ein Problem: Ein von der Ukraine gehaltener Streifen trennt sie vom Rest der Armee. Die Versorgung ist deshalb nur notdürftig durch Drohnenflüge möglich. Bald fehlt es den Russen an fast allem. Es gibt erste Meldungen über mehrere Dutzend Soldaten, die sich ergeben.

Die Ukrainer wissen, dass sie den Feind unbedingt daran hindern müssen, sich festzusetzen. Sonst könnte er die verbliebenen Verteidiger nördlich der Wowtscha von mehreren Seiten in die Zange nehmen. Sie müssten das Ufer dann wohl räumen. Noch schlimmer: Die Russen könnten das Fabrikgelände als Aufmarschgebiet nutzen, um über den Fluss zu setzen und südlich davon weiter vorzurücken.

Drei Monate lang gehen die Kämpfe weiter. Auch die Ukrainer werfen nun alles hinein, was sie haben: Sie beschiessen die Fabrik mit Artillerie und jagen die Russen mit Drohnen durch die Hallen, wie auf dem mittleren Video unten zu sehen ist. Ungewöhnlich ist, dass ukrainische Kampfflugzeuge zum Einsatz kommen. Sie tauchen nur selten an der Front auf, weil die Kämpfe seit 2022 die Luftwaffe dezimiert haben. Einer dieser Jets wirft im Juni vier amerikanische Gleitbomben auf die Besetzer ab.

Lange verzichtet Kiew auf einen Sturm des Fabrikgeländes – um Verluste zu vermeiden, aber auch im Wissen, dass die Russen isoliert sind. Doch der Militärgeheimdienst beginnt im Spätsommer mit der Planung einer komplexen Operation. In der zweiten Septemberhälfte dringen dann Spezialeinheiten in die Gebäude ein, unter ihnen auch rechtsextreme russische Freischärler.

Später werden die Ukrainer Videos der Kämpfe veröffentlichen. Von Helm-Kameras gefilmt, zeigen sie Soldaten, die Granaten werfen und mit Maschinengewehren durch geborstene Türen feuern. Sie stossen derbe Flüche aus und beleidigen die feindlichen Truppen. Dann endet die Gegenwehr der Russen. Am 24. September skandieren zwei Soldaten vor der Flagge des Militärgeheimdienstes: «Unsere Streitkräfte haben die Fabrik unter Kontrolle. Ruhm der Ukraine!»

Für die Russen ist die Niederlage ein herber Rückschlag. Sie verlieren nicht nur ein über Monate angelegtes System von Bunkern und anderen Verteidigungsanlagen. Sie müssen nun auch einen grösseren Rückzug befürchten: Am Nordufer von Wowtschansk gibt es ausserhalb der Fabrik kaum solide Gebäude, die meisten sind einstöckig, oft aus Holz. Zwischen der Stadt und der Staatsgrenze liegen fast nur noch Wälder mit Bäumen, die im Winter kein Laub tragen und wenig Schutz bieten.

Ein wichtiger Sieg: Die Ukrainer machen Gefangene und präsentieren ihre Trophäen

Die Ukrainer erzählen ausführlich von der Schlacht. Sie seien am Ende achtzig feindlichen Soldaten gegenübergestanden, sagt «Linux», einer der Kommandanten der Operation. «Die meisten wurden liquidiert.» Der Nahkampf sei erbittert gewesen. Die Ukrainer hätten kaum auf Unterstützung durch Artillerie zählen können, da das Risiko, die eigenen Truppen zu treffen, zu gross gewesen wäre.

Die Kämpfer um «Linux» machen auch Gefangene. Auf einem Video sind zwei Dutzend russische Militärausweise zu sehen, in einem anderen Raum Funkgeräte. Zudem veröffentlicht der Militärgeheimdienst Bilder von erbeuteten Drohnen, Granaten und Maschinenpistolen.

Problematischer sind andere Quellen: Die Ukrainer führen russische Gefangene der Öffentlichkeit vor. Diese wenden sich in praktisch identischen Worten an Putin mit der Bitte, sie gegen Kämpfer des Asow-Bataillons auszutauschen. Weniger gestellt, aber auch nicht frei, wirkt das Gespräch, in dem ein Kriegsgefangener von den Problemen der Russen berichtet. Verwundete seien aus Mangel an Nachschub nicht versorgt worden, sie hätten Durst und Hunger gelitten. «Ihr habt Hunde gegessen?», fragt ihn einer. «Ja. Im Juli», antwortet der Russe und erzählt ausführlich über die Tötung und Zubereitung der Tiere.

Ob sich dies so zugetragen hat oder er erzählt, was die Ukrainer hören wollen, ist unklar. Dass die russischen Soldaten monatelang auf verlorenem Posten ausharrten und sich ihr Zustand immer mehr verschlechterte, scheint aber unbestritten.

Propaganda und Legendenbildung: die Schlacht um die Ruinen der Chemiefabrik

Der Kampf um die Chemiefabrik ist auch eine Propagandaschlacht. Für Kiew sind es endlich gute Nachrichten, hochwillkommen in einer Zeit der ständigen Rückzüge aus dem Donbass.

Nicht zuletzt nutzt sie der Chef des Militärgeheimdienstes, Kirilo Budanow, um an der eigenen Legende als Kriegsheld zu stricken. Auf Videos und Fotos ist er neben Soldaten zu sehen. Der Kommandant «Linux» sagt: «Er war in den entscheidenden Momenten bei uns. Mehrere Tage lang leitete er die Mission.» Auch dies lässt sich kaum nachprüfen. Der Erfolg ist für Budanow wichtig, da es Gerüchte gibt, sein Verhältnis zu Präsident Selenski verschlechtere sich und er könnte abgelöst werden.

Für die Kremlführung ist die Niederlage eine Peinlichkeit. Sie passt nicht zum Mythos, Russlands Vorrücken sei unvermeidlich wie eine Naturgewalt. Die Armee Moskaus gibt den Kampf deshalb nicht auf, sondern verstärkt ihn Anfang Oktober erneut.

Seither haben die Russen zahlreiche Sturmangriffe durchgeführt, auch mit gepanzerten Fahrzeugen. Zudem haben sie laut der Onlinezeitung «Medusa» Dutzende von Gleitbomben auf die Chemiefabrik abgefeuert. Am 7. Oktober verbreiten Moskauer Propagandisten ein Video, auf dem eine russische Flagge in einem der Fabrikgebäude zu sehen ist. Beweise dafür, dass die Russen das Gelände vollständig kontrollieren, gibt es aber keine.

Die Schlacht geht deshalb weiter. Es ist ein Kampf in einer apokalyptischen Mondlandschaft, die Strassen voller zerstörter Panzer und Autos, an ihrem Rand ein paar verkohlte, staubbedeckte Bäume. Von der Chemiefabrik ist inzwischen nicht viel mehr als Gerippe und Ruinen geblieben.

Die Oberhand gewinnt momentan keine Seite. Den Ukrainern fehlt es an Soldaten, um den Feind entscheidend zurückzuwerfen. Doch auch die Russen können keine grösseren Verbände heranführen, ohne dass gegnerische Drohnen sie entdecken und angreifen. Unter diesen Umständen versuchen beide zu verhindern, dass die andere Armee das Gelände kontrollieren und nutzen kann. Der Preis ist totale Zerstörung – nicht nur der Fabrik, sondern der ganzen Stadt Wowtschansk.

Exit mobile version