Bis in die 1970er Jahre wollten die grossen westlichen Seemächte auf Hungerblockaden nicht verzichten. Sie galten als unerlässliches Mittel und als kleineres Übel im Krieg.
Es schlug wie eine Bombe ein, als der Chefankläger des Internationalen Strafgerichtshofs (ICC) das Anklageverfahren gegen den israelischen Regierungschef Benjamin Netanyahu und seinen Verteidigungsminister Yoav Gallant bekanntgab. Aus gutem Grund. Was Karim Khan am 20. Mai verkündete, ist ein doppelter Präzedenzfall: Erstmals seit der Gründung des Gerichtshofes 2002 sollen zwei demokratisch gewählte Politiker angeklagt werden. Und erstmals in der Rechtsgeschichte überhaupt versucht ein internationales Gericht, den Tatbestand des Aushungerns von Zivilisten («war crime of starvation») zur Anwendung zu bringen.
Khan wirft den beiden israelischen Politikern vor, in führender Rolle an einem Plan mitzuwirken, «der den Hunger der Bevölkerung Gazas als Mittel einsetzt, um die Hamas zu eliminieren, Geiseln zu befreien und die Bewohner des Küstenstreifens kollektiv zu bestrafen, weil sie als eine Bedrohung Israels wahrgenommen werden». Dass die Anklage aus einer Reihe möglicher Straftaten gerade diesen Tatbestand ausgewählt hat, begründen Experten damit, dass die Beweise dafür vergleichsweise einfach beizubringen seien.
Angesichts ihrer begrenzten Ressourcen sei die Anklage gezwungen, sich auf Punkte zu beschränken, die sie leicht nachweisen könne, sagt der Genfer Völkerrechtler Robert Kolb. Allerdings beweise das Vorliegen von Hunger noch kein Verbrechen. Der amerikanische Völkerrechtler Tom Dannenbaum weist darauf hin, dass beim Tatbestand des Aushungerns die Schuldzuweisung eindeutiger sei als bei anderen Kriegsverbrechen. Die Verantwortung liege nicht bei anonymen Feldkommandanten, sondern klar bei der obersten politischen Instanz. Es geht um die («command responsibility»).
Israel hat den Gazastreifen nach dem Terrorangriff der Hamas am 7. Oktober vollständig blockiert und beschränkt die Versorgung mit Lebensmitteln, Medikamenten und Treibstoff. Die Anklage glaubt, einen guten Überblick darüber zu haben, in welchem Umfang überlebenswichtige Güter in das Gebiet gelangen. Khan sagt, er habe die israelische Führung mehrfach darauf aufmerksam gemacht, dass die gelieferten Mengen nicht ausreichten, um die 2,3 Millionen Einwohner zu versorgen. Er habe auch darauf hingewiesen, dass dieses Versäumnis strafrechtliche Konsequenzen haben könne.
Die älteste Massenvernichtungswaffe
Hunger als Waffe ist so alt wie der Krieg. Um 146 vor Christus umzingelten die Römer Karthago und hungerten die Stadt aus, um sie dann zu erobern und zu zerstören. Im Verlauf der Geschichte rechtfertigten Heerführer und Strategen Hungerblockaden immer wieder damit, dass sie den Krieg verkürzten. Ihren Höhepunkt erreichten die absichtlich herbeigeführten Hungersnöte allerdings erst im 20. Jahrhundert, dem Zeitalter der Weltkriege und der totalitären Systeme.
Die Aushungerung der Ukraine durch Stalin vor dem Zweiten Weltkrieg und später der «Hungerplan» Nazideutschlands im Krieg kosteten Millionen Menschen in der Sowjetunion das Leben. Aber auch liberale Demokratien setzten in den Kolonial- und Weltkriegen immer wieder Hungerblockaden ein.
Gerade für Grossbritannien und die USA, deren Seestreitkräfte die Meere beherrschten, waren weiträumige Blockaden ein probates Mittel, um nicht nur die Armeen des Feindes zu schwächen, sondern auch dessen Wirtschaft und Gesellschaft in die Knie zu zwingen – und dies zu vergleichsweise tiefen Kosten. Denn die eigenen Streitkräfte wurden dabei nicht in verlustreiche Auseinandersetzungen verwickelt.
Gleich zu Beginn des Ersten Weltkriegs errichteten Grossbritannien und Frankreich eine umfassende Wirtschaftsblockade gegen das Deutsche Reich, Österreich-Ungarn und das Osmanische Reich. Sie hatte verheerende Folgen für die Ernährung der Zivilbevölkerung dieser Länder. Allein im Deutschen Reich, so meldete Berlin 1918 zu Ende des Krieges, starben 700 000 Personen an den Folgen der Mangelernährung.
Die Westmächte rechtfertigten die Blockade von Nahrungsmitteln mit dem Argument, Deutschland habe während des Krieges die Lebensmittelversorgung nationalisiert. Es könne deshalb kein Unterschied gemacht werden zwischen der Versorgung von Kombattanten und jener von Nichtkombattanten. Die Blockade blieb bis zum Friedensschluss 1919 bestehen.
Der in Oxford lehrende Historiker Boyd van Dijk macht auf einen verhängnisvollen Zusammenhang aufmerksam: Es waren just diese Seemächte, die als liberale Demokratien massgeblich das Völkerrecht weiterentwickelten. In den Debatten um die Revision der Genfer Konvention sorgten sie immer wieder dafür, dass die Hungerwaffe legal blieb. Deren Ächtung kam erst sehr spät: 1977 in den Zusatzprotokollen zu der Genfer Konvention und uneingeschränkt schliesslich im Römer Statut von 2010. Dieses ist die rechtliche Grundlage des ICC.
Dabei hatten neutrale Staaten schon am Ende des Ersten Weltkriegs gefordert, Zivilpersonen im Krieg besser zu schützen. Im Rahmen des 1920 gegründeten Völkerbundes setzten sie sich dafür ein, die Blockadewaffe ganz abzuschaffen. Doch das Anliegen war chancenlos.
Stattdessen setzte sich in den Verhandlungen die britische Position durch, Blockaden nicht zu verbieten, sondern durch den Völkerbund zu regulieren. Sie seien schliesslich Zwangsmittel, so Londons Diplomaten, mit denen unter Umständen Kriege verhindert werden könnten. Grossbritannien und Frankreich, beides ständige Mitglieder des Völkerbundes, verwarfen 1929 selbst den Vorstoss des amerikanischen Präsidenten, Nahrungsmittellieferungen von Blockaden auszunehmen. Mit der Schwächung des Völkerbundes in den dreissiger Jahren und erst recht mit dem Ausbruch des Zweiten Weltkriegs 1939 blieben solche Bemühungen chancenlos.
Wenig überraschend war es Nazideutschland, das die Hungerwaffe perfektionierte und zur Massenvernichtung von Zivilisten einsetzte. Der «Hungerplan», der 1941 im Reichsministerium für Ernährung und Landwirtschaft ersonnen wurde, sah vor, dass die deutschen Eroberungsarmeen im Osten «aus dem Land leben» sollten. Dadurch sollten gleichzeitig die «nutzlosen Mäuler der Slawen und Juden» dezimiert werden. Der Plan, dem mehr als vier Millionen Männer, Frauen und Kinder zum Opfer fielen, war ein Teil des deutschen Vernichtungskrieges im Osten.
Aber auch die Alliierten setzten Blockaden ein. Die Amerikaner riegelten japanisch besetzte Pazifikinseln ab, woraufhin dort Hunderttausende verhungerten – nicht nur japanische Soldaten, sondern auch einheimische Zivilisten und alliierte Kriegsgefangene. Anders als bei den Deutschen geschah dies allerdings nicht in genozidaler Absicht. Die Alliierten betrachteten den Hungertod von Zivilisten (genauso wie die Flächenbombardierungen von deutschen und japanischen Städten) als akzeptable Massnahme in einem totalen Krieg.
Die schrittweise Regulierung der Hungerwaffe
Im Ersten Weltkrieg hatte der Anteil der zivilen Opfer durch Kampfhandlungen an den gesamten Kriegsopfern etwa 15 Prozent betragen (durch Hunger und Seuchen stieg er auf etwa 50 Prozent). Im Zweiten Weltkrieg waren dagegen 70 Prozent der Kriegstoten Zivilisten. Der internationale Druck, ihren Schutz zu verbessern, stieg. Dabei spielte das Internationale Komitee vom Roten Kreuz (IKRK) eine führende Rolle. Die Genfer Konvention von 1929 sollte durch einen neuen Ansatz ergänzt werden: Nicht mehr die Rechte der Kriegführenden, sondern jene der Zivilpersonen sollten ins Zentrum gestellt werden.
Doch im aufziehenden Kalten Krieg sahen Briten und Amerikaner keinen Anlass, «eine unserer schärfsten Waffen» aus der Hand zu geben, wie das britische Cabinet Office schrieb. Es instruierte 1949 seine Delegation, die freie Zufuhr von Nahrungsmitteln während Blockaden strikt abzulehnen. Was wie eine humanitäre Massnahme erscheine, so die Begründung, unterwandere im Kriegsfall die Verteidigungsfähigkeit der freien Welt. Stattdessen sei die Kriegführung vor allem zur See und in der Luft zu deregulieren. In die kostspielige Marine und Luftwaffe hatten die reichen Nationen die grössten Beträge investiert.
Doch diesmal setzten sich die Briten nicht durch. Eine ungewöhnliche schweizerisch-sowjetische Allianz opponierte. Schliesslich gelang es den Norwegern, einen Kompromiss zu finden. Blockaden blieben zwar rechtmässig, aber die freie Passage von Nahrungsmittellieferungen wurde (unter gewissen Umständen) für obligatorisch erklärt. Hungerblockaden waren zwar nicht ganz untersagt, aber doch stärker reguliert. Das Aushungern einer Grossstadt wie in Leningrad, wo zwischen 1941 und 1944 1,1 Millionen Zivilisten ums Leben kamen, war jetzt verboten.
Schreibt der ICC Rechtsgeschichte?
Eine afrikanische Hungerkatastrophe Ende der sechziger Jahre brachte die Wende. 1967 war in Nigeria ein Bürgerkrieg um die abtrünnige Region Biafra ausgebrochen. Die nigerianische Armee blockierte die Zugänge zu dem Gebiet im Nigerdelta, das ab Mai 1968 fast nur noch aus der Luft versorgt werden konnte. Eine Hungersnot brach aus. Gegenüber dem IKRK berief sich die nigerianische Regierung auf ihr verbrieftes Recht, das rebellische Küstengebiet abzuriegeln.
Die nigerianischen Generäle kritisierten die Hilfslieferungen des IKRK, da diese die wirksame Aufstandsbekämpfung behinderten. Die Separatisten nutzten umgekehrt die schockierenden Bilder der hungernden Frauen und Kinder, um die internationale Öffentlichkeit aufzurütteln und ihren Kampf zu legitimieren. Nach dem Abschuss eines Hilfsflugzeuges stellte das IKRK 1969 die Hilfe ein. Mindestens eine halbe Million Menschen kamen in der Folge ums Leben.
Erst die Kampagnen von humanitären Aktivisten (Ärzte ohne Grenzen wurde 1971 im Kontext des Biafrakrieges gegründet) und der Medien brachten den Durchbruch. Der Einsatz von Hunger als Waffe wurde in den beiden Zusatzprotokollen der Genfer Konvention geächtet. Im Wortlaut: «Das Aushungern von Zivilisten als Mittel der Kriegsführung ist verboten.» Auch das Römer Statut von 2002 verbietet das «vorsätzliche Aushungern von Zivilpersonen als Methode der Kriegführung (. . .) einschliesslich der vorsätzlichen Behinderung von Hilfslieferungen». Es gilt als Kriegsverbrechen.
Der ICC-Chefankläger Karim Khan muss nun die Richter der Vorverfahrenskammer davon überzeugen, dass es «vernünftige Gründe» für die Annahme gibt, Netanyahu und Gallant hätten sich der Anklagepunkte schuldig gemacht. Erst dann können sie angeklagt werden. Im Fall des russischen Präsidenten Wladimir Putin gab die Kammer dem Antrag des Anklägers nach einem Monat statt, im Fall des sudanesischen Machthabers Omar al-Bashir dauerte es neun Monate.
Der Völkerrechtler Dannenbaum hält die Zustimmung der Kammer für wahrscheinlich. Wie und ob sich die Anklageerhebung auf den Fortgang des Konflikts auswirkt, ist umstritten – das sollte die Richter nach ihrem Selbstverständnis auch nicht tangieren. Kommt es zu dem Verfahren, dann schreiben sie Rechtsgeschichte.
Nicholas Mulder, Boyd van Dijk: Why Did Starvation Not Become the Paradigmatic War Crime in International Law? In: Contingency in International Law, Oxford 2021.

