Montag, Oktober 7

Das auf sieben Bände angelegte Roman-Opus erzählt von der Panik der Wiederholung in einer atmosphärisch dichten, rätselhaften Prosa von finsterer Ruh.

Seit mehr als drei Jahren befindet sich Tara Selte in der Zeitschleife, aus der es kein Entrinnen gibt; zum 1143. Mal hat sie den 18. November bisher erlebt, und das gänzlich alleine. Die Welt um sie herum ahnt von der ewigen Wiederkehr dieses einen Herbsttages nichts, auch ihr Ehemann Thomas nicht. Der 2023 erschienene zweite Band der siebenteiligen Reihe endete mit einem veritablen Cliffhanger. Mit der Aussicht, dass es eine weitere Person geben könnte, die Taras Schicksal teilt.

In dem dritten Teil von «Über die Berechnung des Rauminhalts» wird dieses für sie existenzielle, für uns Leser erzählerische Versprechen nun eingelöst. Die Nummerierung der Tage bewahrt Tara davor, sich völlig in der Zeitfalte zu verlieren. An Tag #1144 heisst es: «Ich habe einen Menschen getroffen, der sich erinnert. Gestern. Das heisst, ich habe ihn gestern getroffen. Aber er erinnert sich auch an gestern. Er erinnert sich daran, dass wir uns gestern getroffen haben . . .»

Spektakulär still

Das Spektakuläre an den Romanen von Solvej Balle ist ihre stille, auf das Wesentliche reduzierte Erzählweise. Vorrang hat die Reflexion des Geschehens. Folgerichtig beginnt Band I nicht mit dem Erlebnis der ersten Wiederholung des 18. November, sondern mit Taras Eintrag an dem Tag, als sie ihn bereits zum 121. Mal durchlebt und durchlitten hat.

Tara rekapituliert, wie alles anfing: Sie, die mit ihrem Mann im Norden Frankreichs einen Versandhandel für antiquarische Bücher betreibt, hatte an einer Versteigerung illustrierter Sammlerstücke in Bordeaux teilgenommen, war nach Paris gereist und stellte dort den identischen Ablauf des vergangenen Tages, des 18. November, fest. «Ich weiss nicht, was da passiert», notiert sie fassungslos.

Obwohl Tara wie alle anderen in der Zeit gefangen ist, ist sie es auch nicht. Zwar kann sie diesen einen Tag nicht verlassen, ihn aber so ausfüllen, wie sie es möchte, während ihr Mann seine Handlungen wiederholt. Er altert nicht, sie tut es. Die Supermarktregale leeren sich nach und nach um die von ihr – und nur die von ihr – erstandenen Esswaren. So hat sie weiterhin Anteil an der Vergänglichkeit, anders als der Rest der Welt.

Solvej Balle forscht mit ihrer Erzählerin diesem «Defekt der Zeit» nach, dessen Ursache unauffindbar ist und sucht nach einem regelmässigen Muster. Der 18. November kehrt zwar verlässlich an seinen Anfangspunkt zurück, doch stets mit Abweichungen, Variationen.

Thomas glaubt seiner Frau die unwahrscheinliche Geschichte des beharrlich wiederkehrenden Tages. Sie kann dessen Geschehnisse alle punktgenau vorhersagen. Er lässt sich auf das Vorhaben ein, mit einer durchwachten Nacht die Zeitschleife zu überlisten und den 19. November zu erreichen – doch gelingen tut es nicht, schlagartig übermannt ihn der Schlaf, und als er aufwacht, am 18. November, hat er bereits alles wieder vergessen.

Als Tara das Gefühl zu quälen beginnt, nicht die Zeit, sondern sie selbst habe ihren Mann verraten, zieht sie ins Gästezimmer des Hauses um, lebt an seiner Seite, ohne dass er es weiss; er wähnt sie an diesem 18. November in Paris. Noch hält sie an der Hoffnung fest, sobald die 365 Tage des Jahres verstrichen seien, könne es eine Chance geben, dass der Folgetag anbrechen werde. Das geschieht nicht. Tara reist ab.

Zu den vielen Anstrengungen, die sie unternimmt, um ihre Zeit-Verlorenheit wenn nicht aufzusprengen, so doch zu unterlaufen, gehört das Bemühen, sich an diesem 18. November ein normales «Jahr zu bauen»: Um einen richtigen Winter zu erleben, reist sie in den hohen Norden und umgekehrt für Frühjahrs- und Sommertage weit in den Süden. Ihre «Jahreszeitenmaschine» erfüllt sie zeitweise mit Euphorie – bis sie wieder von Ernüchterung und Einsamkeit beherrscht wird.

Oder sie nimmt historische Recherchen auf, arbeitet sich an den Römern ab, bei denen sie auf die Zentralität des Gefässes stösst, das ihr zur Metapher der Zeit als Gefäss verhilft, als Raum-Inhalt. Doch erweist sich diese Erkenntnis nur als weitere Sackgasse: «Das Römische Reich ist mein Spiegel geworden – und jetzt bin ich in den Spiegel hineingegangen und komme nicht wieder heraus.»

Die Verbesserung der Welt

Band II des Romans von Solvej Balle endet mit einer atmosphärisch dichten, rätselhaften Prosa von unheimlicher Ruhe. Ein Ende, an dem für Band III ein Schicksalsgenosse angekündigt war, der Tara aus der klaustrophobischen Enge des Alleinseins in der Zeitschleife erlösen könnte. Den findet sie in Henry Dale, einem Soziologen, mit dem sich die einsamen Gedankenspiele Taras in gemeinsame Befragungen verwandeln. Henry Dale erkennt den 18. November als eine Befreiung von der Routine des falschen Daseins oder in der Annahme, es könnten die Dinge sein, die die Welt in Bewegung versetzen.

In Band III rücken zunehmend ethische und gesellschaftliche Überlegungen in den Vordergrund, insbesondere als mit Olga und Ralf zwei weitere in der Zeitschleife steckende junge Menschen auftauchen, die den 18. November, im Gegensatz zu Tara und Henry, als Auftrag begreifen: zur Verbesserung der Welt.

Wenn sich vier Menschen begegnet sind, die die Zeitschleife bewusst erleben, so gibt es bestimmt noch mehr von ihnen, folgert die Gruppe. Auf den letzten Seiten dieser unerhörten, grandios erzählten und von Peter Urban-Halle fein übersetzten Geschichte tauchen weitere Schicksalsgenossen auf.

Solvej Balles Prosa macht süchtig. Und sehnsüchtig nach dem 19. November.

Solvej Balle: Über die Berechnung des Rauminhalts I–III. Roman. Aus dem Dänischen von Peter Urban-Halle. Verlag Matthes & Seitz. Berlin 2023 und 2024. 170, 191 und 185 S.

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