Michelle Nicol und Rudolf Schürmann haben sich mit ihrer Firma Poeticwalls auf spezielle Architektur und besondere Häuser spezialisiert. Das Leitungsduo sagt, worauf es ankommt.
Frau Nicol, Herr Schürmann, spezielle Architektur hat Sie schon immer fasziniert. Wie wohnen Sie gerade?
Michelle Nicol und Rudolf Schürmann: In der Villa Preiswerk, einer historistischen Basler Stadtvilla, umgebaut für unsere Bedürfnisse von Artec Architekten aus Wien. Ein für uns atypisches Haus von 1902 – verglichen mit den vorherigen modernistischen oder neuen Wohnstätten. Unser halbes Leben kaufen, restaurieren und bauen wir für den Eigengebrauch Wohnungen und Häuser, bauen sie für unsere Bedürfnisse um und richten sie ein. Es waren interessante Liegenschaften, auch preislich. Keine Ikonen, sondern verkannte Bauten, in denen wir Qualität sahen, die schwer einzuordnen waren und ausserhalb der Zeit und des Publikumsgeschmacks standen.
Was bewog Sie dazu, nun auch im Immobilienmarkt tätig zu werden?
Erstens: die gebaute Realität. Obwohl die Schweiz beste Architekturschulen und die vielleicht höchste Dichte an guten Architektinnen hat, erfüllen die wenigsten Neubauten aktuelle Bedürfnisse oder gar emotionale Qualitäten. Kaum ein Neubau wird als Charakterkopf, Persönlichkeit, Stolperstein wahrgenommen und wird dereinst im kollektiven Gedächtnis eines Quartiers abgespeichert. Private Entwicklungen überbieten sich mit Banalität und Anbiederungen an einen vermeintlich mehrheitsfähigen Geschmack.
Zweitens: Der Mehrwert guter Architektur ist real. Das ist das Geschäftsmodell von Poeticwalls. Gute Architektur ist 20 bis 100 Prozent mehr wert als Standard-Architektur. Baukultur hat einen längeren Lifecycle als Standard-Architektur. Gute Architektur macht Menschen und Orte besser.
Drittens: Die Entdeckung neuer Bauwerke und Orte war schon immer unsere Freizeitbeschäftigung. Die Wirkung von Räumen und Orten zu erleben, ist aufschlussreich – in soziokultureller und städtebaulicher Hinsicht. Atelierbesuche bei Architekten, Studienreisen und die Beschäftigung mit Architektur und Bauen wurde intensiver. Freunde fragten uns um Rat: Kommst du dieses Grundstück anschauen, wie soll ich mich einrichten? Kaufen oder nicht kaufen? Was kann man bieten? Mit welchem Büro bauen? Da lag die Gründung von Poeticwalls in der Luft.
Die Casa Cocco in Breganzona von Carlo Cocco aus dem Jahre 1973.
Kürzlich war das Haus von Ugo Rondinone im Angebot. Wer ist dafür die Klientel?
House no. 01 ist ein Gesamtkunstwerk. Es wurde als Atelier- und Wohnhaus von Fuhrimann Hächler Architekten konzipiert und enthält persönliche bauliche Hinweise und Geschichten aus Leben und Werk des internationalen Schweizer Künstlers. Das Haus ist unschweizerisch voluminös und hat doch die Einfachheit eines traditionellen japanischen Landhauses. Die amerikanische Arts-and-Crafts-Bewegung ist in der Haltung präsent. Das Haus liegt in einer Waldlichtung im Umland von Zürich, 18 Autominuten von der City entfernt. Wir haben die neuen Besitzer, eine sympathische junge Familie, mit einer Instagram-Kampagne gefunden. Sie haben das Haus besichtigt und am nächsten Tag ein Angebot gemacht.
Ist Poeticwalls ein Boutique-Makler mit anspruchsvollem Portfolio?
Wir sind keine Boutique. Was wir im Austausch mit Publikum und Architekten erkannt haben: Unsere Nische Baukultur hat Wachstumspotenzial. Die Menschen wünschen sich befreiende Räume, wie der Gummibaum das Licht. Transparenz und Wissensvermittlung über Bau, Architektur und Raumgefühl, über Funktionalität, Lage und Potenzial sowie die mögliche Wertentwicklung sind uns wichtig. Ja, wir haben ein Sendungsbewusstsein und sehen unseren Sinn und Zweck in der Promotion von Wohn- und Arbeitsräumen, die uns besser machen. Gute Architektur muss nicht teurer sein als schlechte Architektur.
Sie halten sich eine Expertenjury. Wozu?
Der Zweck sind Qualitätssicherung und Austausch, Realitätsprüfung und Eingebundensein. Wir wollen Schritt halten mit aktuellen Fragen und Positionen der Architektur und der Bauwirtschaft.
Was macht Schweizer Baukultur aus?
Das Land hat keinen schweren Rucksack wie seine Nachbarn mit ihren feudalen Vergangenheiten, sondern adaptierte und konzipierte erst eine temperierte Moderne als wesensähnliches Modell für die Eidgenossenschaft. Gute Beispiele einer später internationalisierten Moderne entstanden in allen Landesteilen. Die Grosstaten der Ingenieure wurden weltweit bekannt. Regionale Architekturbewegungen, etwa in Graubünden und im Tessin, fanden international Beachtung.
Leider ist diese Aufbruchstimmung, speziell im Tessin, abgeflaut. Der Minimalismus à la Suisse wurde eine Marke – eine frischere Version kommt gegenwärtig aus Japan und Korea. Die Schweiz hat heute tolle Architektinnen und Architekten, es wird viel Gutes gebaut. In Bezug auf Baukultur haben private Entwickler, Investoren, Pensionskassen und Bauherrschaften jedoch einen gewaltigen Aufholbedarf.
Was muss sich ändern?
Belohnung von guten Bauprojekten, die einen Mehrwert fürs Quartier bieten. Solche Projekte sollten im Tausch mit Angeboten an die Nachbarschaft baureglementarische Freiheiten bekommen, etwa punkto Ausnutzung, Näherbaurecht. Sonderbauzonen für Städtenetze und Metropolitanregionen, bitte! Parteien sollen sich für eine zukunftsfähige gebaute Schweiz und Baukultur in allen Preisklassen einsetzen. Leider haben gute Architekten keine Zeit in die Politik zu gehen.
Casa Rieder, ein 2017 renoviertes Patrizierhaus aus dem
15. und dem 18. Jahrhundert in Morcote.
Wofür steht der Name Poeticwalls?
Die Geheimzutat grosser Architektur ist Poesie. Das ist nicht von uns, sondern von einem berühmten Architekturkritiker. Sinn und Sinnlichkeit von Räumen, die uns als Resonanzkörper dienen, berühren uns. Stimmungen, die durch Schichtungen von Licht und Schatten in gut bemessenen Volumen entstehen, sie machen den Zauber der Baukunst aus. Poeticwalls ist ein Name, der das Potenzial hat, eine Marke zu werden.
Worauf gilt es bei der Vermittlung von so individuellen Häusern sonst noch zu achten?
Information, Transparenz, Ehrlichkeit. Die Schwächen sollte man offen kommunizieren. Bei jedem Joghurt müssen sämtliche Bestandteile deklariert sein. Bei Bauwerken ist das nicht der Fall. Architektur wollen wir in verständlichen Worten vermitteln und ein Angebot für bauliche und räumliche Optimierung abgeben.
Mit guten Texten und Bildern versucht Ihr Unternehmen, Käufern Know-how zu vermitteln. Sind gut informierte Kunden gut für das Geschäft?
Ganz klar. Je mehr Wissen über Bauen und Architektur da ist, desto mehr Appetit bekommt man darauf. Den meisten Menschen fällt es schwer, den eigenen Raumbedarf zu ermitteln. Gute Architekturen organisieren ein gutes Leben – und sie sind Seelenlandschaften. Wir bieten ab diesem Sommer zweitägige Masterclasses an, die Grundlagen vermitteln.
Was war Ihr bisher schönster Erfolg?
Als die Financial Times Weekend kurz nach operativem Start anrief: Wir lieben Euer Konzept und wollen Poeticwalls im Bund House & Homes porträtieren. Dieser Artikel, eine ganze Seite, hat uns internationale Aufmerksamkeit, Kontakte, Anfragen und Aufträge gebracht – bis nach Indien.