Montag, Oktober 21

China bekämpft die Wirtschaftskrise mit Finanzspritzen und einer expansiven Geldpolitik. Das mag kurzfristig wirken, löst aber das Grundproblem nicht. Statt Investitionen müsste das Land den Konsum forcieren.

Die jüngste Geschichte der Weltwirtschaft lässt sich ohne den spektakulären Aufstieg Chinas nicht verstehen. Das durchschnittliche Einkommen pro Kopf ist mehr als zehnmal so hoch wie in den 1970er Jahren, China ist die Werkstatt der Welt geworden, und in manchen Branchen sind chinesische Firmen an der technologischen Spitze. Zudem hat das Regime mehrmals bewiesen, dass es fähig ist, mit Krisen umzugehen. Legendär ist etwa das gigantische Ausgabenprogramm, das China 2008 getätigt hat, um die negativen Auswirkungen der Weltfinanzkrise abzufedern. Es umfasste 4 Billionen Yuan, was mehr als 10 Prozent des BIP entsprach – ein historischer Rekord.

So berechtigt die Bewunderung ist, sie hat auch einige westliche Analysten dazu verleitet, die Fähigkeiten der chinesischen Führung zu überschätzen. Das zeigt sich besonders deutlich bei der Berichterstattung über die gegenwärtige Immobilienkrise Chinas. Sie wird als wichtige, aber letztlich verkraftbare Störung behandelt, die mit gezielten finanzpolitischen Massnahmen bald überwunden werden wird. Die Immobilienkrise ist jedoch weit mehr. China befindet sich in einer kritischen Phase, und selbst die chinesische Führung kann nicht über das Wasser laufen.

Der Preis der Sparsamkeit

Um die Tragweite der Krise richtig einzuschätzen, muss man sich mit dem ostasiatischen Entwicklungsmodell vertraut machen, das nicht nur in China zur Anwendung kommt, sondern zuvor schon in Japan, Südkorea und Taiwan erprobt wurde. Das zentrale Element ist die hohe einheimische Sparquote. Anders als zum Beispiel die lateinamerikanischen Länder haben die ostasiatischen Staaten ihre Industrialisierung mit eigenen Ersparnissen finanziert, um nicht vom ausländischen Kapital abhängig zu werden – eine kluge Entscheidung.

Eine hohe einheimische Sparquote bedeutet aber auch, dass der Privatkonsum über eine längere Zeit eine zweitrangige Rolle einnehmen muss. Und damit die Einheimischen viel sparen und die Ersparnisse zu günstigen Konditionen an die Industrie weitergegeben werden, braucht es einen starken Staat, der den Finanzsektor kontrolliert.

Das Zurückdrängen des privaten Konsums hat jedoch einen Preis, nämlich eine schwache Inlandnachfrage. Um diese Schwäche auszugleichen, ist das ostasiatische Entwicklungsmodell immer auf einen Exportüberschuss ausgerichtet, der durch tiefe Löhne und eine unterbewertete Währung ermöglicht wird. Auf eine einfache Formel gebracht lautet das ostasiatische Rezept also: viel sparen und wenig konsumieren, dafür viel investieren und exportieren.

Nur eine hohe Konsumquote macht reich

Nun kommt der entscheidende Punkt: Dieses Entwicklungsmodell ist gut geeignet, um ein Land aus der Armut zu befreien, aber es ist ungeeignet, um ein Land wirklich reich zu machen. Es muss deshalb rechtzeitig umgebaut werden, und zwar in dem Sinne, dass die hohe Investitionsquote zugunsten des Privatkonsums allmählich zurückgeht.

In Japan, Südkorea und Taiwan hat diese Verlagerung rund 25 Jahre nach dem Beginn des wirtschaftlichen Aufstiegs begonnen. Diese drei Länder gehören deshalb heute zum Klub der reichsten Industriestaaten. China hat diese Umstellung hingegen noch nicht angepackt, obwohl der Beginn des grossen Wachstums bald 50 Jahre zurückliegt. Der Anteil der Investitionen und jener des privaten Konsums liegen je bei etwa 40 Prozent des chinesischen BIP. Reiche Länder wie Japan oder die Schweiz haben eine Investitionsquote von etwa 25 Prozent und eine Privatkonsumquote von mindestens 60 Prozent des BIP.

Finanzspritzen lösen das Grundproblem nicht

Vor diesem Hintergrund ist die Immobilienkrise ein untrügliches Zeichen dafür, dass China in eine Sackgasse geraten ist. Die Investitionsquote, vor allem im Bausektor, ist viel zu hoch, wirft immer weniger Ertrag ab und kann deshalb kaum mehr zum Wachstum beitragen. Mit einer grossen Finanzspritze und einer expansiven Geldpolitik lassen sich zwar die negativen Folgen der Krise ein Stück weit eindämmen, aber das Grundproblem ist damit nicht gelöst. China sollte weniger sparen, weniger investieren und weniger exportieren, dafür mehr konsumieren.

Wie lässt sich dies erreichen? Es gibt nur einen Weg: Die Löhne müssen über eine längere Zeit schrittweise erhöht werden. Das ist aber politisch äusserst schwierig. Denn Lohnerhöhungen verschlechtern die Wettbewerbsbedingungen der chinesischen Firmen, die eng mit den kommunistischen Kadern verbunden sind.

Wahrscheinlicher ist deshalb ein anderes Szenario: China wird Geld in die Wirtschaft pumpen, den Zugang der ausländischen Firmen zum chinesischen Binnenmarkt weiter erschweren und eine Exportoffensive starten, um das Wachstum anzukurbeln. Damit steigt die Wahrscheinlichkeit, dass die USA die Zollschranken weiter erhöhen werden – egal, ob Harris oder Trump gewählt wird. Der Handelskrieg wird dadurch eine neue Eskalationsstufe erreichen. Der zweite kalte Krieg wird immer mehr zur Realität.

Tobias Straumann ist Professor für Wirtschaftsgeschichte an der Universität Zürich.

Ein Artikel aus der «»

Exit mobile version