Sonntag, November 24

Ins Lustschloss oder zu den hängenden Gärten? Weisse Pfauen bestaunen oder Seefisch essen? Ein Ausflug zu den Borromäischen Inseln auf der italienischen Seite des Lago Maggiore ist immer auch ein vergnüglicher Wettstreit zwischen Kultur und Natur – bei dem die Schönheit des Südens gewinnt.

Eilande sind Sehnsuchtsorte. Darum führt der einzige passende Weg zu ihnen so weit wie möglich übers Wasser: Diese Mischung aus Annäherung und Eroberung steigert das Verlangen nach dem Ziel, etwa den Isole Borromee im Lago Maggiore.

Statt aus der Schweiz per Auto dem Westufer entlang nach Baveno oder Stresa zu fahren und mit dem Schiff innert wenigen Minuten überzusetzen, besteigen wir deshalb in Locarno das in die Jahre gekommene Kursschiff eines italienischen Staatsbetriebs. Der missmutig brummende Getränkeautomat vertritt die verwaiste Caffè-Bar nur notdürftig, doch die Aussicht während der Fahrt macht das vergessen. Wie mächtige Urtiere ziehen die bewaldeten Hügel der Ufer vorbei.

Es steht 1:0 für die Natur.

Innert rund drei Stunden messen wir den Grossteil des über sechzig Kilometer langen Sees aus, ehe in Piemont der angepeilte Archipel auftaucht. Sein gemässigtes Mikroklima soll dazu beigetragen haben, dass sich der adlige Politiker Lancillotto Borromeo einst für ihn erwärmte – und ihn ab 1500 zu einem Familiensitz umgestaltete. Bald reihte sich das ambitiöse Vorhaben in den Wettstreit zwischen Kultur und Natur ein, der so alt ist wie die Menschheit.

Familiensitz seit über 600 Jahren

Noch heute gehören den Borromei drei der fünf Inselchen und die Fangrechte in der italienischen Hälfte des Lago Verbano, wie der See hier heisst. Auf der Isola dei Pescatori aber, die sie nicht besitzen, reicht eine Familientradition noch weiter zurück: «Wir leben seit sechshundert Jahren hier», sagt Paolo Ruffoni mit sonnengegerbtem Gesicht und flachst: «Für eine so lange Zeit habe ich mich ganz gut gehalten, nicht?»

Doch der 62-jährige Insulaner ist nicht nur zum Scherzen aufgelegt. Er liebt dieses kleine Eiland mit jeder Faser, und jede dieser Fasern leidet mit, wenn er die massentouristische Entwicklung skizziert. Die Zeit ist hier keineswegs stillgestanden, wie es einem Taschenreiseführer weismachen wollen, auch die dort zu lesende Zahl von fünfzig Einwohnern ist überholt: Knapp die Hälfte von ihnen harrt noch aus. Wohin soll das führen? Auch die matronenhafte Wahrsagerin, die an der Strandpromenade vor pittoresken alten Häuserzeilen Tarotkarten durch ihre Finger wandern lässt, weiss es nicht.

Mittels Fischerei verleibt sich der Mensch die Natur ein; als kulturelles Wesen will er sie zähmen oder übertreffen.

Der Exodus hängt auch mit dem Schwund der Fischbestände zusammen, von Aberhunderten von Fischern am ganzen Lago Maggiore ist kaum mehr als ein Dutzend übrig. Einer von ihnen ist auf der Insel Stefano Ruffoni, der Bruder von Paolo, der selbst über drei Jahrzehnte lang an der Seite seines Papas die Netze auswarf. Mit diesem starb vor einigen Jahren auch Paolos Passion für den Beruf, er erinnert sich mit feuchten Augen.

Lago Maggiore.wmv

Mittels Fischerei verleibt sich der Mensch die Natur ein; als kulturelles Wesen will er sie zähmen oder übertreffen. Darin übte sich die Familie Borromeo, die dem Archipel ihren Namen lieh. Im 14. Jahrhundert aus ihrer toskanischen Heimat verbannt, war sie in Mailand mit Banken zu Reichtum, durch Heirat zum Adelsstand gekommen und später in den Hochadel aufgestiegen. Vor vierhundert Jahren liess sie ihre Grafschaft am Lago Verbano gar mit bewaffneter Flotte bewachen – und trotzte einer schroffen Felsformation im See einen sagenhaften Garten samt Lustschloss ab.

Carlo Borromeo III. lancierte diese Demonstration von Macht und Pracht unter dem Namen Isola Bella, zu Ehren seiner Gemahlin, der Gräfin Isabella d’Adda. Erst der Sohn aber, der schöngeistige Graf Vitaliano VI., trieb das Vorhaben mit einem Heer von Architekten, Handwerkern und Künstlern dreissig Jahre lang ununterbrochen voran. Die von fern an ein Kreuzfahrtschiff erinnernde Anlage mit hängenden Gärten auf zehn Terrassen ist bis heute ein Vorzeigestück des italienischen Barock, der Palazzo punktet mit Prachtsälen und skurrilen Einfällen. Die Grotten nahe dem Seespiegel etwa bieten Zuflucht vor Hitze in märchenhafter Kulisse: Kieselsteine in Weiss und Schwarz, Tuffstein, Marmor, Korallen zieren Wände und Böden.

Die Kultur gleicht aus, es steht 1:1.

Statuen aus dem 17. Jahrhundert und das Musikzimmer im Palast: Auf der Isola Bella gibt es kaum etwas, was nicht verziert wäre.

Das Himmelbett Napoleons und Josephines

Zu der illustren Gästeschar, die dieser Ort anzog, zählte General Napoleon Bonaparte: Er nächtigte nach seinem Feldzug durch Italien mit seiner Gemahlin Josephine im Himmelbett, das noch heute zu bestaunen ist. Und vor wenigen Jahren schienen sich die Epochen nochmals zu berühren: Prinzessin Beatrice Borromeo, Journalistin, und der monegassische Adlige Pierre Casiraghi verhalfen mit ihrer Hochzeitsfeier im Sommer 2015 der Isola Bella zu einem grossen Auftritt in den internationalen Klatschspalten.

Die Borromei verwandelten die Isola Madre in einen botanischen Park englischer Prägung, der bis heute Weltruf geniesst.

Weniger romantische Gefühle weckt die mit profanen Kiosken und Bierlokalen aufwartende Seepromenade, dort spucken Kursschiffe die Touristen aus. Gegen ein Eintrittsgeld sind Palast und Garten zu besichtigen, auch im Doppelpack mit der Isola Madre. In deren vergleichsweise nüchternen Palast zogen sich die Borromei gern in weltvergessenen Müssiggang zurück, derweil die Isola Bella als Visitenkarte gegen aussen galt.

Die Mutter der Inselgruppe, mit acht Hektaren die grösste im Quintett, trug schon im Frühmittelalter ein paar Fischerhäuschen, eine Kapelle und Olivenbäume. Die Borromei aber verwandelten sie in einen botanischen Park englischer Prägung, der bis heute Weltruf geniesst. Weniger artifiziell als der italienische Barockgarten der Isola Bella, punktet er wie eine der Isole Brissago vor Ascona als Refugium exotischer Pflanzen. Zwischen 150 Kamelienarten, Zitronen- und mächtigen Mimosenbäumen, archaischen Farnen, prähistorischen Zuckerbüschen turteln Hunderte Vögel samt weissen Pfauen, die ihr Kleid vor blühenden Kamelien spazieren führen wie auf einem roten Teppich. Sie tragen dazu bei, dass die Insel bei gutbetuchten Brautpaaren ein beliebter Festort ist.

Natur und Kultur punkten hier im Einklang, es steht 2:2.

Giacomo Casanova, der mit zwei schönen Begleiterinnen aus Lugano auf der Isola Madre genächtigt haben soll, attestierte ihr einen «ewigen Frühling», Gustave Flaubert nannte sie den sinnlichsten Ort überhaupt, ein irdisches Paradies. Verglichen mit dem prallen Leben draussen setzt das Palastinnere fast morbide Akzente, selbst die Gemälde zwischen Renaissance und Barock prägt oft caravaggeske Düsternis. Dazwischen öffnen Fenster den Blick auf Palmen und See, und der Wettstreit zwischen Natur und Kultur geht in die nächste Runde: Was bietet das bessere Schauspiel? Der Mensch fühlt sich gottähnlich, wenn er Marionetten an Fäden tanzen lässt – und das war zur Ergötzung der Familie eine Hochburg dieser Kunst. Davon zeugt die faszinierende Sammlung von Puppen und Bühnenbildern, von der Hölle bis zum Paradies, samt Wolkenmaschinen und anderen Wunderwerken.

Die Kultur geht mit 3:2 in Führung.

Spannweite vom Pomp zum einfachen Fischerleben

Trunken von der Schönheit der Mutterinsel kehren wir abends zurück auf die gar nicht museale Isola dei Pescatori, die ideale Basis für ein paar Tage im Archipel, dessen zwei kleinste Inseln kein Reiseziel sind: Die eine ist das private Refugium der Borromei, die andere bloss eine schwimmende Baumgruppe. Von den anderen drei aber sollte man keine auslassen: Nur so spannt sich der Bogen vom Pomp über gezähmte Naturpracht bis zum einfachen Fischerleben.

Die Isola dei Pescatori, wohl ihrer Lage wegen auch «superiore» genannt, entfaltet ihre Magie erst vollständig, wenn die Tagestouristen sich abends mit dem letzten Kursschiff verzogen haben. Der nächtliche Spaziergang am Ufer verläuft ohne Gedränge, der See liegt da wie schwarze Seide, es funkeln Lichter des Küstenorts Stresa, als dessen Ortsteil sie gilt. Die Fischerinsel braucht keinen Palast, sie buckelt einfachere Häuschen, auf deren schmalen Balkonen einst die Netze getrocknet wurden.

Diese mit 100 mal 300 Metern kleinste der zugänglichen Inseln empfängt als einzige auch Gäste in der Winterzeit, in der Paolo Ruffoni sie am allerschönsten findet. Er wirkt heute samt Frau und Tochter im sympathischen familieneigenen Ristorante Italia mit, Teil der vor bald zehn Jahren gegründeten Cooperativa dei Fratelli Ruffoni. Hier kommen die Fänge seines Bruders auf den Tisch, etwa in der feinen Fischsuppe oder in Form von Eglifilets auf dem sehr empfehlenswerten Risotto alla Borromea. Der Blick führt direkt auf den See, an den Wänden erzählen grossformatige Schwarz-Weiss-Fotos von alten Zeiten: Paolos Vater beim Fischen, sein Schwiegervater, der Bäcker.

Eine Bäckerei gibt es nicht mehr, längst auch kein Schulhaus, als das der Musiker Ugo Ara, ein Stolz der Insel, sein Häuschen am See einst per Legat hinterlassen hatte. Paolo schwelgt in Erinnerung an das Unterrichtszimmer mit Holzofen, das nun ein kleines Fischereimuseum beherbergt, und die Kinder lernen auf dem Festland.

Die Melancholie der Entrückten

Tief und tiefer versinkt Paolo Ruffoni im Gespräch in Melancholie. So viele seien gestorben, der Besuch des kleinen Friedhofs hinter dem Kirchlein San Vittore sei zum Teil seines Lebens geworden: «Es ist, als käme ich nach Hause.» Auf Grabsteinen sind Fische und Boote abgebildet und besonders häufig die Namen Ruffoni und Zacchera eingraviert, einst die zwei prägenden Fischerfamilien hier.

Aufgegeben hat Paolo Ruffoni sein Inselchen mitnichten – das einzige im Archipel, auf dem tatsächlich und ganzjährig gelebt wird, wie er fast trotzig bemerkt.

In den paar engen Gässchen reihen sich derweil Läden und Lokale aneinander, die Zahl der Verpflegungsstätten hat sich innert vierzig Jahren von einer Handvoll auf etwa zwanzig vervielfacht. In manchen werde nur noch Tiefgekühltes aufgetaut, seufzt er, alle seien gehetzt, es habe zu viele Touristen. Besonders populär ist die Insel bei den Deutschen, seit der Pandemie haben die Franzosen stark aufgeholt. Foie gras hat sich auf Speisekarten eingenistet, manch schickes Lokal wirbt mit trendigen «tasting menus» und Meeresfisch.

Doch aufgegeben hat Paolo Ruffoni sein Inselchen mitnichten – das einzige im Archipel, auf dem tatsächlich und ganzjährig gelebt wird, wie er fast trotzig festhält. Selbst sein freiheitsliebender Jüngster, noch knapp im Teenageralter, komme immer wieder zurück und werde wohl bleiben. Und soeben hat sich die Einwohnerzahl auf 23 erhöht – zwei frisch Vermählte von hier sind Eltern geworden.

Eine Geburt ist immer ein Punkt für die Natur, unentschieden, Endstand 3:3.

«Wir sind alle Onkel und Tanten dieses Kindes», so umschreibt Paolo Ruffoni das Gemeinschaftsgefühl. «Und wenn ich den Fernseher einschalte und sehe, was so geschieht in der Welt, denke ich: ‹Wie schön, ausserhalb von alldem zu leben!›» Ein Hauch von dieser Illusion der Entrücktheit wird auch Gästen zuteil.

Die Borromäischen Inseln auf einen Blick

Isola dei Pescatori

Ausgangspunkt für den Archipel

Die drei öffentlich zugänglichen Borromäischen Inseln sind untereinander mit den Kursschiffen und Taxibötchen verbunden (es braucht Geduld, die Anlegestellen zu finden). Die Isola Bella und die Isola Madre sind von März bis November geöffnet, der Zugang zu den Palazzi und Gärten kostet 20 Euro, im Doppelpack 30 Euro. Als Basisstation bietet sich die frei zugängliche Isola dei Pescatori an, deren Traditionshotel «Il Verbano» mit grosser Restaurantterrasse empfehlenswert ist: Das Haus hat Charme und eine prächtige Aussicht, das Zimmer Nummer 11 («Camelia») bietet einen Blick auf den See und die benachbarte Isola Bella (Telefon +39 0323 31226).

Isola Madre

Der Zauber der Zypresse

Aus all den raren Pflanzen, die einen Abstecher auf die Isola Madre lohnen, sticht ein sagenhafter Baum heraus: Das Schicksal der über 150-jährigen Kaschmir-Zypresse vor dem Palazzo war vom ersten Keim an mit der Insel verbunden. Ihr Ursprung ist ein Päckchen voll Samen, die ein Gesandter 1862 aus der Himalajaregion brachte. Im Jahr 2006 entwurzelte ein Wirbelsturm den Riesen, seine Tage schienen gezählt, doch der Natur konnte geholfen werden: In einer spektakulären Rettungsaktion richtete man ihn auf, pflanzte ihn wieder ein und sicherte ihn. Nun lebt er weiter, havariert, aber von weiterhin berückender Schönheit und als europaweit ältester seiner Art.

Westküste des Lago Maggiore

Puppen in der Burg, Zebras im Park

Wer gerne Festland unter den Füssen hat, setzt die Erkundungstour an der italienischen Westküste des Lago Maggiore fort. Da kann man durch verschlafen wirkende Städtchen flanieren oder weitere historische Güter des Labels «Terre Borromee» kennenlernen, unter dem die Familie ihre Besitztümer vermarktet. Dazu gehört die auf einem Felsvorsprung über dem See thronende mittelalterliche Burg Rocca di Angera mit einem Puppenmuseum und einem jungen Garten. Besuchenswert in Stresa ist auch der Parco Pallavicino: Er ist bekannt als Habitat aufgenommener Tiere, von Zebras über Nasenbären bis zu Flamingos und Füchsen.

Infos: www.isoleborromee.it/de

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