Dienstag, Februar 25

Gewalt und politische Instabilität haben Millionen Haitianer in extreme Armut gestürzt. Laut der Unicef ist die Hälfte der Kinder dringend auf humanitäre Hilfe angewiesen.

Das Uno-Kinderhilfswerk Unicef warnt vor einer immer dramatischeren Lage der haitianischen Bevölkerung. Laut der Unicef-Länderchefin für Haiti, Geeta Narayan, sind drei Millionen der sechs Millionen haitianischen Kinder dringend auf humanitäre Hilfe angewiesen. In einem Gespräch mit der NZZ bezeichnete Narayan die gegenwärtige Lage als «extrem schlimm». Rund die Hälfte der 11,7 Millionen Haitianer leide unter Ernährungsunsicherheit.

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Auch die Gewalt durch kriminelle Banden habe 2024 weiter zugenommen, rund 5600 Menschen seien getötet worden. Am bedrohlichsten sei die Lage im zentralhaitianischen Departement Artibonite und in Port-au-Prince. Allein in der Hauptstadt seien rund 1,2 Millionen Kinder auf die Unterstützung durch Hilfsorganisationen angewiesen, so Narayan. Derzeit kontrollierten kriminelle Banden rund 85 Prozent der Hauptstadt. Der Zugang zu diesen Gebieten sei nur mit Zustimmung der Banden möglich.

Die Versorgung mit Lebensmitteln und Benzin in Port-au-Prince ist kritisch. Der für Passagiermaschinen gesperrte internationale Flughafen ist wegen der Gewalt auch für Frachtmaschinen nicht durchgehend geöffnet, ebenso der Hafen, der immer wieder Ziel von Bandenüberfällen ist. Da auch die Zufahrtsstrassen rund um die Hauptstadt von den Banden kontrolliert werden, sind die Unicef-Mitarbeiter laut Narayan auf den von der Uno eingerichteten Helikopterservice mit der Stadt Cap-Haïtien im Norden angewiesen. Über den dortigen Flughafen gelangen Hilfsgüter ins Land.

Eine Million Binnenflüchtlinge

Etwa eine Million Haitianer sind vor der Gewalt in der Hauptstadt und im Departement Artibonite in den Norden und den Süden geflohen, unter ihnen etwa eine halbe Million Kinder. Hinzu kommen die vom Nachbarland Dominikanische Republik ausgeschafften Haitianer, die dort als illegal eingereiste Migranten lebten.

Die Vertriebenen hätten keinen gesicherten Zugang zu Gesundheitsversorgung, Trinkwasser und Nahrungsmitteln und seien der Gefahr von Unterernährung ausgesetzt. Auch die Cholera breitet sich unter ihnen aus. Die Unicef, die mit rund 150 Mitarbeitern vor Ort ist, arbeitet mit der Regierung und mit NGO zusammen, um eine gesicherte Trinkwasser- und Gesundheitsversorgung sowie einen geordneten Schulbetrieb aufzubauen.

Ein weiterer Schwerpunkt ist die Betreuung von Opfern sexueller und körperlicher Gewalt durch Banden. Laut Narayan wurden im Jahr 2024 rund 6400 Fälle von sexueller Gewalt gegen Frauen und Mädchen registriert. Die Dunkelziffer sei jedoch weitaus höher, da die Opfer die Gewalttaten oft nicht melden würden.

Mehrheit der Bandenmitglieder ist minderjährig

Aber auch Jugendliche werden immer häufiger Opfer von Banden. So würden die rund 300 Gangs in Haiti immer häufiger Jugendliche rekrutieren, zum Teil mit Gewalt. 2024 hätten solche Fälle um 70 Prozent gegenüber dem Vorjahr zugenommen, so die Schätzung der Unicef. Minderjährige machten bereits mehr als die Hälfte der Bandenmitglieder aus, sagt Narayan.

Haiti gilt seit Jahrzehnten als politisch instabil. Zudem wurde das Land immer wieder von schweren Katastrophen heimgesucht, etwa dem Erdbeben von 2010, bei dem zwischen 200 000 und 300 000 Menschen ums Leben kamen. Seit der Ermordung des Präsidenten Jovenel Moïse Mitte 2021 hat die Gewalt durch Banden noch einmal drastisch zugenommen. Den mit modernsten Waffen ausgerüsteten Banden, die den Schwarzmarkt für Lebensmittel und Benzin kontrollieren und von Schutzgelderpressung und Entführungen leben, steht nur ein Kontingent von 9000 Polizisten der Police nationale d’Haïti (PNH) gegenüber.

Internationale Polizeitruppe ist noch immer unterdotiert

Eine internationale Polizeitruppe unter kenyanischer Führung sollte bereits Ende 2023 die haitianischen Kollegen unterstützen. Nach Verzögerungen sind inzwischen rund eintausend Polizisten in Haiti aktiv, die meisten aus Kenya, hinzu kommen kleinere Kontingente aus Bahamas, Belize, El Salvador, Guatemala und Jamaica. Doch weder zahlenmässig noch von der Bewaffnung her ist die Truppe den Banden gewachsen, weshalb sie sich hauptsächlich auf Patrouillen beschränkt. Am Wochenende wurde im Departement Artibonite ein kenyanischer Polizist erschossen.

Die Sicherheit sei nach wie vor das grösste Problem der Bevölkerung, sagt die Unicef-Länderchefin Narayan. «Die Situation ändert sich jeden Tag, und es ist sehr schwierig, zur Schule zu gehen, ein Krankenhaus aufzusuchen oder für manche einfach zu überleben», sagt sie. Zwar gebe es vereinzelt Fortschritte durch den Einsatz der internationalen Polizeitruppe und der nationalen Polizei. Doch das reiche nicht aus. Die internationale Polizeitruppe soll auch die für November dieses Jahres geplanten Wahlen absichern. Es wären die ersten seit 2016. Läuft alles nach Plan, dann sollte Haiti im Februar 2026 endlich wieder eine gewählte Regierung haben.

Amerikanische Unterstützung unter Trump unsicher

Doch die Zukunft der von Kenya geleiteten Polizeimission ist ungewiss. So hat die Regierung von Donald Trump die von Joe Biden zugesagten Gelder für die Truppe für 90 Tage eingefroren. Zudem hat Trump den Schutzstatus im Rahmen des Temporary Protected Status Program in den USA von 521 000 dorthin geflüchteten Haitianern aufgehoben. Die Biden-Administration hatte diesen ursprünglich bis Februar 2026 verlängert, nun läuft er im August aus. Ob die Haitianer angesichts der katastrophalen Lage überhaupt nach Haiti zurückkehren können, ist unklar.

Der amerikanische Aussenminister Marco Rubio erklärte bei einem Besuch in der Dominikanischen Republik Anfang Februar, die Mittel für die internationale Polizeitruppe würden wieder freigegeben, man stehe hinter der Mission und rufe andere Länder auf, sich zu beteiligen. Unklar ist allerdings, ob die USA die Umwandlung der kenyanischen Mission in eine reguläre Uno-Mission unterstützen werden. Theoretisch würde dies die Finanzierung auf eine sicherere Basis stellen.

Aber auch das Budget der Unicef ist nicht gesichert. 2024 seien nur 27 Prozent der benötigten Mittel für die Arbeit in Haiti zur Verfügung gestanden, sagt Narayan. Für das laufende Jahr habe man einen Finanzbedarf von 270 Millionen Dollar angemeldet. Angesichts der ständigen Katastrophenmeldungen aus Haiti verstehe sie, dass manche dächten, dem Land sei nicht zu helfen.

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